F wie Fakten

Der wichtigste Rohstoff des Journalismus wird knapp. Denn inzwischen hat jeder eine Meinung ­ - gedeckt oder ungedeckt.

Fakten sind der Rohstoff des Journalismus. Die Analyse, die Meinung, die
Erzählkunst und der Witz sind nichts anderes als Verarbeitungsformen, um diesen Rohstoff für die Normalbevölkerung verdaulich zu machen. Die legendäre Forderung im Werbespot des Focus-Chefs Helmut Markwort nach »Fakten, Fakten, Fakten« hat deswegen ungefähr so viel Sinn, als würde sich der Shell-Chef für einen Werbespot vor seine Belegschaft stellen und »Öl, Öl, Öl« fordern. Im Gegensatz zu all den anderen Rohstoffen, auf denen unsere Zivilisation beruht (Korn, Eisen, Öl), hat die Massenproduktion von Fakten allerdings nie funktioniert. Das liegt vor allem daran, dass man sie in der Regel maulfaulen Informanten, störrischen Quellen oder unordentlichem Akten- und Archivmaterial abtrotzen muss, wozu man meist auch noch beschwerliche Reisen zu unternehmen und enorme Geduld zu beweisen hat. Das macht Fakten vor allem: teuer. Und seit ein paar Erbsenzähler auf die Idee kamen, man müsse mit Medien nicht nur Macht, Einfluss und ein generell höheres Bildungs- und Informationsniveau der Bürger erlangen und dabei gutes Geld verdienen, sondern richtig Rendite machen, steht es um die Fakten
nicht mehr so gut.

Viele Medien konzentrieren sich inzwischen in erster Linie auf die
Verarbeitung von Fakten. Es ist eben allemal billiger und zudem noch lustiger, wenn beispielsweise ein Talkshowgast so eine richtig erstaunliche Meinung über den Afghanistan-Krieg hat, als wenn man einen Reporter in den Hindukusch schickt, der eine ganze Woche braucht, um ein paar Fakten zu ermitteln, die lediglich ein paar Sendeminuten füllen. Nun sind das in der Regel genau die Fakten, die eine Gesellschaft braucht, um langfristig zu überleben, denn Fakten sind die größtmögliche Annäherung an eine objektive Wahrheit.

Derzeit wird der Journalismus von zwei gegenläufigen Entwicklungen bestimmt. Auf der einen Seite erschweren die neuen Medien die Generierung von harten Fakten. Der amerikanische Journalist Farhad Manjoo spricht in seinem Buch True Enough bereits von einer faktenlosen Gesellschaft. Manjoo ist selbst ein glühender Verfechter neuer Technologien, er hält soziale Netzwerke wie
Facebook für eine revolutionäre Form der Kommunikation und liebt sein iPhone. Doch das Internet, wo man nach einzelnen Inhalten und Informationen sucht und sie nicht mehr von einer Redaktion als Paket geliefert bekommt, führt auch zu einer Veränderung des
Medienpublikums.

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Emotionen (Angst, Wut, Lust) und Glaube (an Religionen, politische
Meinungen, das eigene Rechthaben) spielen im Netz mindestens eine so große Rolle wie Fakten. Wenn aber Emotionen und Glaube unkontrolliert den Informationsfluss einer Gesellschaft steuern, verlieren Fakten bei zunehmender Geschwindigkeit der Medien ihren neutralen Wert. Da allerdings sollte man einwenden, dass der Journalismus schon ganz andere Schwierigkeiten überstanden hat ­ die neuen Medien wie das Radio und das Fernsehen, die Übergriffe der Diktaturen und die Monopolisierung der Meinungshoheiten in Konzernen.

Und just zu Beginn des neuen Jahrtausends, als der Kulturpessimismus angesichts des revolutionären Chaos im Internet das Ende so vieler kultureller Institutionen und Werte prophezeit, entstehen neue Formen, die den Fakten ein ganz neues Forum geben. Robert S. Boynton, Medienwissenschaftler an der New York University, sprach von einem »New New Journalism«. Ähnlich wie der »New Journalism« den Journalismus mit den Mitteln der Literatur und die Literatur mit den Mitteln des Journalismus
erneuerte, bringt dieser New New Journalism eine Renaissance der Fakten. Autoren wie William Langewiesche, Jon Krakauer oder Lawrence Wright und Dokumentarfilmer wie Errol Morris, Robert Greenwald oder Andrew Jarecki vertiefen sich mit Akribie, großem Aufwand und epischem Erzählbogen in ihre Themen. So schaffen sie oft nicht nur Berichte aus der Jetztzeit, sondern Grundlagenwerke mit einer Faktenfülle für die Ewigkeit. Nicht jeder Leser oder Zuschauer hat Zeit für Reportagen und Dokumentarfilme von solcher Länge. Es wird einmal mehr die große Herausforderung sein, die Balance zu finden, um zu verhindern, dass massentauglicher Journalismus zur glorifizierten Datenverarbeitung und die Generierung von Fakten zum subventionierten Kunsthandwerk verkommt.

Andrian Kreye, 46, leitet das Feuilleton der »Süddeutschen Zeitung«. In den 1980er-Jahren war er Redakteur bei der Zeitschrift »Tempo«.

Illustration: Christoph Niemann