H wie Haltung

Jede Form des Journalismus ist subjektiv. Das heißt aber nicht, dass man einfach drauflosschwatzen sollte.

Als die Bundesrepublik noch jung war, hat man den Journalisten die Trennung zwischen Nachricht und Meinung sehr entschieden beigebracht. Das ist kein Wunder, denn Westdeutschland sollte einerseits die Antithese zu Nazi-Deutschland sein und andererseits das gute Gegenmodell zur DDR. Auch wenn die Nazis und die autoritären Einheitssozialisten sehr vieles und sehr Grundsätzliches unterschied, gab es doch Einigkeit in einem: Der Journalismus hatte dem Staat zu dienen, und die Journalisten mussten das Volk im Sinne der Partei motivieren. Die Verschmelzung von Nachricht und Meinung war obligatorisch, die Presse hatte stets Parteipresse zu sein.

Im Westen dagegen mühte man sich ab mit dem angelsächsischen Verständnis von Objektivität. Für eine Nachricht sollte man nach Möglichkeit mehr als nur eine Quelle haben. Man sollte schneller sein als die anderen und stets die fünf W (wer, was, wo, wann, warum oder auch wie) beachten. Die Nachrichtenagenturen, allen voran die dpa, bei der das Außergewöhnlichste die Kleinschreibung ihres Firmennamens ist, versuchen bis heute sehr tapfer, den Nachkriegskriterien Genüge zu leisten. Dies hat auch zur Folge, dass sich viele Agenturtexte im Jahre 2009 noch immer so lesen wie Nachkriegstexte. Für die Meinung jedenfalls gab es die Kommentarspalten und die Aufsätze, gern auch am Wochenende. Bei der Reportage beginnen schon die Probleme der Trennung von Fakten und Einschätzungen. Einerseits, so heißt es über die großen Reporter, schrieben sie nur auf, was sie sähen. Nein, der Reporter schreibt natürlich nicht nur auf, was er sieht, sondern in erster Linie beschreibt er Menschen, Vorgänge oder Zustände so, wie er sie wahrnimmt - also höchst subjektiv. Die Wahrnehmung hängt ab von der Bildung, von dem, was man gelesen und selbst schon geschrieben hat, von der Stimmung, von der politischen Einstellung und manch anderem mehr. Die Wahrnehmung ist höchst subjektiv, und wer behauptet, ein Reporter sei das nicht, der ist entweder Ideologe im weiteren Sinne, oder er hat keine Ahnung.

Kein Ernest Hemingway, kein Ryszard Kapuściński und schon gar kein Egon Erwin Kisch haben zwischen Meinung und Nachricht getrennt. Das ist bei ihren vielen kleinen und größeren Epigonen auch nicht anders. Für den einen Reporter zum Beispiel hält der Kanzlerkandidat Steinmeier eine mitreißende, engagierte Rede. Der andere kommt auf derselben Veranstaltung zu dem Schluss, dass Steinmeier sich bemüht, so zu klingen, als sei er Schröder, und mit jedem lauten, falschen Ton merkt man, dass er es nicht ist. Die Wirklichkeit, die Wirklichkeit, sagt André Heller, trägt wirklich ein Forellenkleid.

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Der Reporter, der Journalist überhaupt, muss in Zukunft noch mehr als heute die Ausbildung, die Lebenserfahrung, die Bildung und, ja, auch die Begabung haben, um vor allem seine individuelle Wahrnehmung in den guten Dienst des Publikums zu stellen. Er muss zunächst einmal berichten, vielleicht nicht als Erster, aber doch möglichst am besten. Weil das Digitale das Gedruckte allemal in der Geschwindigkeit schlägt, muss der gute Journalist die Nachrichten finden, von denen die anderen, und sei es die im Netz Lebenden, oft nicht einmal wissen, dass es sie gibt. In der Presse wird nicht mehr Geschwindigkeit so wichtig sein in Zukunft, sondern Exklusivität - nicht schneller wissen, sondern wirklich besser wissen. Und der Reporter muss die Nachrichten, das Geschehene einordnen können, erklären. Ideal ist es, wenn er das alles auch noch in origineller Sprache aufschreibt, sodass es unterhaltsam zu lesen ist.

Weder das Finden noch das Erklären von Dingen ist die Sache der berühmten 2.0-Bürgerjournalisten. Die können am besten kommentieren, was andere schon aufgeschrieben, schon kommentiert haben. Das Privileg des guten oder schlechten Kommentars des Kommentars kann man getrost dem Netz überlassen. Eine Vielzahl der Blogs, Chatrooms und was es an Gezwitscher mehr gibt, besteht aus solchen Kommentaren der Kommentare anderer. Das ist oft einfach, befriedigend für alle und außerdem völlig in Ordnung. Es ist nur kein Journalismus, sondern eine manchmal durchaus interessante Mischung aus Meinungsäußerung, Stammtischgeschwätz und Laut-auf-dem-Bürgersteig-vor-sich-Hinschimpfen. Für die, die es mögen, ist es das Höchste. Die einen essen eben gern Vogelnester, die anderen fahren mit dem Fahrrad durch Nepal, und die Dritten schreiben irgendwo in der weltumspannenden Virtualität,
dass Zeitungen Holzmedien sind und Journalisten moribund, altmodisch sowie wahnsinnig arrogant.

Kurt Kister, 51, ist stellvertretender Chefredakteur der "Süddeutschen Zeitung".

Illustration: Christoph Niemann