Auf Entdeckungsreise

Interviews mit Menschen, die wir gut finden. Diese Woche: Chimamanda Adichie und ihre Romane über Afrika.

Respekt, Frau Adichie, mit Ihren Romanen haben Sie unser Bild von Afrika mehr verändert als jeder Armutsgipfel.
Chimamanda Adichie:
Was die meisten Menschen nicht wissen und oft auch nicht hören wollen, weil sie zu sehr in ihre Elendsvisionen verliebt sind: In Nigeria, wo ich herkomme, gibt es Frauen, die sind im Vorstand der großen Banken und im Regierungskabinett und in anderen Führungspositionen. Aber natürlich gibt es auch Frauen, die keinen Zugang zu Bildung und Wohlstand haben und die ausgebeutet werden.

Nigeria wird oft als korruptes, gewalttätiges Land gesehen.
Diese Sichtweise erscheint mir viel zu eng. Nigeria ist ein Land mit riesigen Möglichkeiten, ein Land, in dem Menschen lieben und leiden und sich versöhnen. Korruption mag in allen Entwicklungsländern ein großes Problem sein, weil die Menschen nicht das Gefühl haben, dass der Staat ja eigentlich ihnen gehört, nicht den Mächtigen. Über Gewalt aber mache ich mir mehr Sorgen in den Innenstädten der USA als in den Straßen von Lagos. Mit 19 Jahren sind Sie zum Studium in die USA gegangen – ist die Emigranten-Erfahrung der Stoff für die Saga des 21. Jahrhunderts?
Ich bin bei solchen Interpretationen immer skeptisch. Die Menschen sind auch schon vor 100 oder 200 Jahren ausgewandert.

Die Menschen in Ihren Romanen sind hin und her gerissen.
Ich glaube, Proust hat einmal gesagt: »Ein Buch entspringt einem anderen Selbst als dem Selbst, das wir in unseren Gewohnheiten zeigen, in unserem sozialen Leben, in unseren Lastern.« Meine Figuren handeln weniger von mir als von meiner künstlerischen Vision. Es ist interessant, über Menschen zu schreiben, die in Konflikten leben. Aber das bedeutet nicht, dass mein persönliches Leben von Konflikten bestimmt ist.

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Sie leben in den USA und arbeiten gerade an der Yale University. Was machen Sie denn, wenn die Sehnsucht zu stark ist, wenn Sie die Heimat riechen wollen, spüren wollen?
Ich teile meine Zeit zwischen den USA und Nigeria auf. Die Hälfte des Jahres lebe ich in Lagos. Es gibt ein Sprichwort aus Mali: Deine Mutter ist deine Mutter, selbst wenn sie sich ein Bein gebrochen hat. Emotional bin ich tief in Nigeria verwurzelt. Ich habe eine weitverzweigte Familie dort, wir verbringen die Ferien zusammen in der Heimatstadt unserer Vorfahren. Ich hatte das Glück, viele Teile der Welt besuchen zu können, aber meine Gefühle sind nigerianisch. Ich wäre traurig, wenn ich nicht nach Hause zurückkehren könnte, doch ich muss meine Heimat auch von Zeit zu Zeit verlassen.

Wie weiß man denn, wie und wo man sein Leben leben soll?
Man kann das nicht wissen und sollte es auch nicht wissen. Das Leben ist eine Entdeckungsreise, wir lernen es, indem wir es leben.

Chimamanda Adichie emigrierte vor zwölf Jahren in die USA. Sie zählt zu den wichtigsten Schriftstellern aus Afrika und wurde mehrfach ausgezeichnet. Ihr Hauptwerk ist der Roman "Die Hälfte der Sonne". Ebenso lesenswert, aber nur halb so lang: ihr Debütroman "Blauer Hibiskus".

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Foto: afp