Wir kamen, sahen und versagten

Vor acht Jahren begann im Kosovo ein einzigartiges Experiment: Um das Land vor militanten Serben und Albanern zu retten, besetzten es die Vereinten Nationen. Zum ersten Mal in der Geschichte übernahmen sie eine Regierung, schufen eine neue Verwaltung und trieben Steuern ein. Das Experiment ging schief – die Wirtschaft liegt brach, die Korruption blüht und die Menschen spucken den UN-Soldaten ins Gesicht.

»Revolution!«, sagt Albin Kurti und kippt seinen Cappuccino hinunter, »wir werden die Bande stürzen.« Als er den Satz zum zweiten Mal wiederholt, horchen einige Gäste im Café auf und drehen sich um. Man kennt ihn, Kurti gilt als Idol der Jugend im Kosovo, einem Land, in dem jeder Zweite jünger als 25 ist. Vor zehn Jahren führte er die Studentenproteste gegen Milosevic an. Als friedliche Aktionen nicht fruchteten, wurde Kurti Ideologe bei der UCK, Kosovos bewaffneter Guerilla. Nun hat er genug Anhänger, um das ganze Land mit der Parole Vetëvendosje zu überziehen: »Selbstbestimmung«, so heißt auch seine Bewegung.

Kurti versichert, die Revolution werde friedlich verlaufen. Hunderttausend Menschen würden die Schaltstellen der Macht belagern, das Hauptquartier der Polizei und den Gerichtshof, um dort auszuharren, so lange wie nötig. So will er die Kolonialmacht verjagen – die Macht, die sein Land »zersplittert, das Volk ausplündert und die Frauen schändet«. Wer wissen möchte, wohin das Geld aus dem Kosovo wandert, müsse sich nur die neu gebauten Prunkvillen in London oder Amsterdam ansehen, behauptet Kurti. Wer etwas über die Moral der Kolonialmacht erfahren wolle, müsse nur die Bordelle zählen. »Die gab es nicht, bevor diese Leute bei uns landeten.« Jeeps passieren das Café, Elektrogeneratoren brummen, während Kurti UN-Erklärungen und den amerikanischen Bürgerrechtler Malcolm X zitiert. Man fühlt sich wie im Kongo der Sechzigerjahre, aber wir befinden uns in Pristina, der Hauptstadt des Kosovo. Und die Kolonialmacht, die verjagt werden soll, ist die UNO, die hier seit acht Jahren regiert.

Als die Weltgemeinschaft 1999 eintraf, wurden ihre Mitglieder noch als Befreier begrüßt. Heute kommt es vor, dass ihnen Menschen auf offener Straße ins Gesicht spucken oder ihre Fahrzeuge demolieren. Ein UN-Bulletin mit dem Titel Frühwarnberichte vermerkt, dass nur dreißig Prozent der Kosovaren den Vereinten Nationen vertrauen. Vor vier Jahren waren es noch doppelt so viele. Jeder Zweite erklärt sich heute bereit, an organisierten Protesten gegen die fremde Macht teilzunehmen.

Meistgelesen diese Woche:

Der Einsatz im Kosovo ist der größte in der UN-Geschichte. Und auch der erste, bei dem sie die volle Verantwortung für ein Land übernehmen, das mehr oder weniger in Schutt und Asche liegt. Die internationale Gemeinschaft sichert nicht nur den Frieden und pumpt Trinkwasser – sie stellt das Land auf ein komplett neues Fundament: Sie baut ein Rechtssystem auf, bildet Polizisten aus, legt Einbahnstraßen fest und erhebt Steuern. Kurz gesagt, sie schafft den ersten UN-Staat der Welt. Viele hoffen, dass durch humanitäre Interventionen wie diese eine bessere Welt entstehen könnte.

Der militärische Eingriff im Kosovo rettete Zehntausende Menschenleben und war zweifellos gerechtfertigt. Aber wie steht es mit dem zweiten Ziel der Mission, der Erschaffung eines UN-Staates nach Grundsätzen wie Ehrlichkeit, Gerechtigkeit und Demokratie? Nach fast acht Jahren UN-Einsatz und Kosten von fast 22 Milliarden Euro blüht der Schwarzhandel, die reguläre Wirtschaft steht vor dem Zusammenbruch. Die Standardausrede lautet: Solange die Unabhängigkeit des Kosovo von Serbien nicht vollzogen ist, wagt niemand, in das Land zu investieren. Klingt plausibel. Aber welche Investitionen sind nötig, um Gurken oder Tomaten anzubauen?

Die wirtschaftlichen Verhältnisse spiegeln sich auf den Märkten im Kosovo wider: Seife aus Bulgarien, Hemden aus Taiwan, Mehl aus Tschechien, Mineralwasser aus Ungarn. Das Bruttosozialprodukt pro Einwohner liegt im Kosovo niedriger als in Ruanda. Umso seltsamer mutet es an, dort Tomaten aus der Türkei und Salat aus Italien kaufen zu müssen – in einem Agrarland, in dem die Äcker brachliegen. Hasan Bajrami von der Handelskammer erklärt, es lohne sich für die Bevölkerung eher, den UN-Mitarbeitern Kaugummi zu verscherbeln als auf den Feldern zu schuften. Auch deshalb, weil es die UN-Gerichte in den vergangenen acht Jahren nicht geschafft haben zu entscheiden, wem die Felder eigentlich gehören. Am meisten ärgert Bajrami, dass die UNO den Europäern gestattet, Lebensmittel zu Dumpingpreisen einzuführen und die hiesigen Preise zu verderben. So absurd es klingen mag: Die Milch aus der Slowakei verbilligt sich mit dem Transport in den Kosovo, eine Flasche Coca-Cola kostet hier 29 Cent.

Die Wirtschaft im Kosovo erinnert an Kolonialzeiten. Doch während die Afrikaner immerhin ihre Rohstoffe im Tausch gegen Nähmaschinen anbieten konnten, sind die Blei-, Zink- und Silberminen des Kosovo unerschlossen. Das Hauptexportprodukt: Alteisen. Es deckt allerdings nur ein Prozent der Einfuhren des Landes.

Die Probleme, die auf dem Land und seiner Bevölkerung lasten, sind gewaltig: Eine EU-Kuh in Frankreich wird mit drei Euro pro Tag subventioniert, jeder zweite Bürger des Kosovo muss mit einem Euro auskommen. Wird ein Kosovare ausgeraubt, kann er nicht erwarten, dass die Täter je gefasst werden, obwohl das Land – im Verhältnis zur Einwohnerzahl – über mehr Polizisten als jedes andere in Europa verfügt. Sollte er seinen Anspruch auf ein Stück Land anmelden, zucken die Richter mit den Achseln. Und wenn er ins Krankenhaus kommt, muss er eigene Spritzen und Bandagen mitbringen. Wie konnte es passieren, dass der Kosovo nach acht Jahren UN-Herrschaft in Armut, Chaos und Rechtlosigkeit versinkt?

Atemberaubend schöne Frauen in der Finanzabteilung
Im November 2003 trat Inga-Britt Ahlenius ihr Amt im Kosovo an. Die frühere Spitzenbeamtin im schwedischen Finanzministerium war beauftragt, im Kosovo eine Finanzkontrollbehörde aufzubauen. Gleich zu Beginn nahm sie den internationalen Flughafen des Landes unter die Lupe. Die Arbeit zog sich über mehr als zwei Jahre hin, im Frühjahr 2006 veröffentlichte Ahlenius ihre Ermittlungsergebnisse: Sie sorgte für helle Aufregung in der UNO.

Das Gutachten legt dar, wie eine Gruppe von Managern das Unternehmen über Jahre hinweg ausplünderte. Korruption und Misswirtschaft wurden »systematisch« betrieben, heißt es, blieben jedoch ungeahndet: Die oberste UN-Leitung im Kosovo habe versäumt, effiziente Kontrollen einzurichten und die Korruption am Flughafen zu unterbinden. Dem Gouverneur des Kosovo lagen 33 Berichte über Unregelmäßigkeiten vor, sie verschwanden jedoch größtenteils in seiner Schreibtischschublade. Inga-Britt Ahlenius warnte, die gesamte Mission sei gefährdet, wenn die UNO die Korruption weiterhin ignoriere: »Die zögerliche Haltung der Einsatzleitung, was Unterschlagung und Korruption angeht, wird die öffentliche Wahrnehmung der Mission innerhalb und außerhalb des Kosovo in verheerender Weise beeinflussen.«

Die Einheimischen wussten schon lange von den Schiebereien am Flughafen Pristina. Die Lokalpresse hatte die krummen Geschäfte oft thematisiert: Schmiergelder für Jobs und das Ausstellen von Visa, versickernde Gelder, Vetternwirtschaft. Aber was geschieht nach dem brisanten Bericht der UN-Beauftragten Ahlenius? Sören Jessen-Petersen, von 2004 bis 2006 UN-Gouverneur im Kosovo, geht in die Offensive. Es gebe keine nennenswerte Korruption am Flughafen, konstatiert er. Der Bericht sei unbegründet, jede Diskussion darüber reine Zeitverschwendung. Der Flughafen sei ein gut geführtes Unternehmen, im Grunde eine Erfolgsstory.

Sehen wir uns ein Kapitel dieser Geschichte näher an: Es beginnt damit, dass der Flughafen einen Leiter für die Personalabteilung braucht. Den UN-Vorschriften zufolge muss der Job öffentlich ausgeschrieben werden. Der englische Geschäftsführer Ioan Woollett zieht es vor, einen Bekannten einzustellen, nennen wir ihn einfach Smith. Emsige Betriebsamkeit setzt ein. Im Sommer 2004 stellt Smith durchschnittlich drei Personen pro Tag ein. Einige davon sprechen kein Englisch. Sie haben keinerlei Ausbildung vorzuweisen, sollen aber die Finanzabteilung verstärken. Es handelt sich um atemberaubend schöne Frauen, wie Augenzeugen sagen. Manche von ihnen haben Schönheitswettbewerbe gewonnen. Nach vier Monaten hat sich die Zahl der Angestellten von 235 auf 486 verdoppelt, 200 mehr als für einen Flughafen dieser Größe nötig.

Der emsige Mister Smith hat zu dieser Zeit den Kosovo bereits verlassen, um der Weltgemeinschaft im Sudan zu dienen. Woollett flüchtet etwas später. Niemand weiß, wie viel Geld die beiden Männer aus dem Land schleusten, es dürften einige hunderttausend Euro sein. Einen Job am Flughafen zu bekommen kostete Bewerber zwischen tausend und 3000 Euro. Quellen in Pristina zufolge ließ sich Woollett von attraktiven Frauen auch mit »intimen Dienstleistungen« bezahlen. Abgesehen von den beiden Briten waren etwa zehn einheimische Mitarbeiter in diese Vorgänge verwickelt. Der Flughafen, eine Erfolgsstory?

Immunität für einen deutschen Schmalspurgauner
Eines Tages im Dezember wird das Telefon im Haus von Frau Hisari abgestellt. Sie müsse erst ihre Rechnung begleichen, mahnt die Telefongesellschaft. »Das ist nicht meine Rechnung«, widerspricht die Frau. Herr Trutschler sei dafür verantwortlich, der Mann, dem sie ihr Haus vermietet habe. Die Telefongesellschaft kontaktiert Jo Trutschler, der im Auftrag der UN die Geschäfte des hiesigen Energieunternehmens KEK führt. »Das ist nicht meine Rechnung«, antwortet er. »Aber Sie haben im Haus von Frau Hisari gewohnt, und die Anrufe gingen nach Deutschland.« – »Davon ist mir nichts bekannt.« Trutschler lässt sich auch nicht davon beeindrucken, dass es sich bei der Nummer in Deutschland um seinen eigenen Anschluss in Bochum handelt. Er werde nicht zahlen, basta!

Frau Hisari ist 70 Jahre alt, Witwe und ohne Einkommen. Trutschlers Salär beträgt um die 20000 Euro im Monat und wird von der Europäischen Union überwiesen. Die verzweifelte alte Dame wendet sich nun an die UN-Übergangsverwaltung. Tut uns leid, lautet die Antwort, wir sind nicht für das Privatleben unserer Mitarbeiter verantwortlich. Frau Hisari reicht Klage gegen den Deutschen vor dem Gericht in Pristina ein. Ihr bleibt keine Wahl: Die Rechnung beläuft sich auf 3500 Euro, etwa ein anderthalbfaches Jahresgehalt im Kosovo. »Herr Trutschler fällt nicht in unsere Gerichtsbarkeit«, antwortet das Gericht. Er arbeite für die UNO und genieße daher Immunität im Kosovo. Seine Immunität könnte aufgehoben werden – vom damaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan.

Der Vorfall ereignete sich im Jahr 2001. Sechs Jahre später wird über den Abzug der UNO aus dem Kosovo diskutiert. Ihre Aufgabe, einen gesetzestreuen Staat aufzubauen, betrachten die Verantwortlichen mehr oder weniger als erfüllt. Die zweite Amtszeit von Kofi Annan ist längst abgelaufen und die Telefonleitung von Frau Hisari immer noch tot.

Im Jahr 2003 verlässt Trutschler den Kosovo. Mit ihm verschwinden 4,3 Millionen Dollar auf das Konto seiner Briefkastenfirma in Gibraltar. Als die interne Aufsichtsbehörde der UNO (OIOS) die Vorgänge nachrecherchiert, stellt sie fest, dass dem Mann, der zwei Jahre lang ein krisengeschütteltes Unternehmen im Kosovo leitete, sämtliche Qualifikationen für die Aufgabe fehlten. Sein Lebenslauf war gefälscht. Er ist weder Ingenieur noch Ökonom, hat nicht in Boston und Florida studiert oder in Aachen promoviert und auch nicht zehn Jahre Berufserfahrung gesammelt. Wie auch, im Alter von 33 Jahren? In Wirklichkeit ist Jo Trutschler ein deutscher Schmalspurgauner mit ein paar Briefkastenfirmen.

Wie bekam er seine Stelle? Die UN-Behörde OIOS entdeckt, dass niemand seinen Lebenslauf verifiziert hat. Warum nicht? Dazu schweigt die OIOS. Immerhin decken die Prüfer auf, dass Trutschler seinem Nachfolger eine runde Summe gezahlt hat. Ein persönliches Geschenk, sagt der UN-Mann aus Kanada, als die Prüfer ihn befragen. 200 000 Dollar, einfach so? »Nun ja, Herrn Trutschler gefiel nur die Stimme meiner Tochter so sehr. Es war zur Unterstützung ihrer Gesangskarriere gedacht.«
Die Leute, die Trutschler anheuerten, verlassen das UN-Land mit ausgezeichneten Empfehlungsschreiben und einem beträchtlichen Vermögen. Andy Bearpark etwa, dem Vizegouverneur im Kosovo, der keinerlei Schritte gegen den Betrüger einleitete, wird der Wiederaufbau im Irak anvertraut. Nicht einmal Trutschler selbst landet im Kosovo vor Gericht. Dass er überhaupt bestraft wird – reiner Zufall. Der deutschen Justiz fällt Trutschler auf, weil er zu Unrecht einen Doktortitel trägt. Von einer deutschen Universität! Für dieses Vergehen und weitere Betrügereien wandert er für 42 Monate ins Gefängnis.

Das teuerste und schlechteste Telefonsystem der Region
»Für Korruption im sechsstelligen Euro-Bereich sind die Ursachen im Kosovo zu suchen. Bei allem, was darüber liegt, hat die UNO ihre Finger im Spiel«, behauptet Albin Kurti, der Anführer der Jugendbewegung Vetëvendosje. Und er hat recht: Das irische Unternehmen ESB International zum Beispiel wurde von der UNO mit der Aufgabe betraut, die miserable Energieversorgung im Kosovo auf Vordermann zu bringen. Das zuständige Unternehmen KEK schreibt Verluste in Höhe von 70 Millionen Euro im Jahr, sorgt für fünf bis sechs Stromausfälle am Tag und stellt nur jedes zweite Kilowatt in Rechnung. Die Iren bleiben drei Jahre, kassieren etwa zehn Millionen Euro Beraterhonorare und hinterlassen KEK im gleichen jämmerlichen Zustand wie bei ihrer Ankunft.

Von der zivilen Luftfahrtbehörde Islands heißt es, sie habe aus bloßer Mildtätigkeit angeboten, den Flughafen Pristina unter die Fittiche zu nehmen. Kosovo ist offiziell kein eigener Staat und daher nicht befugt, einen internationalen Flughafen zu betreiben. Nach einer Weile fragen sich die Leute vor Ort allerdings, warum der Wohltäter nie beenden, was sie anfangen. Und es beispielsweise in drei Jahren nicht schaffen, einen Zaun um den Flughafen zu ziehen. Einfache Antwort: Sie haben keinen Grund zur Eile. Sie kassierten bereits 15 Millionen Euro an Honoraren. Und das geheime Abkommen zwischen der UNO und Island ist unbefristet, der Vertrag verlängert sich automatisch jeweils um ein Jahr.

Der prominenteste Plünderer im Kosovo ist jedoch Frankreich. Als sich im Sommer 1999 abzeichnet, dass die UNO im Kosovo eingreifen und der französische Minister Bernard Kouchner die Mission leiten wird, richtet die französische Regierung eine Sonderkommission ein. Ihr Auftrag: die Fehler aus dem Bosnienkonflikt zu vermeiden. Damals trug Frankreich 17 Prozent zum globalen Hilfstopf bei, während französische Firmen nur fünf Prozent der vergebenen Aufträge abschöpften. Im Kosovo soll das Geld in die andere Richtung strömen und Frankreich »mit einer Hand austeilen und mit der anderen kassieren«, fordert die Kommission. Die französische Regierung gestattet den Großkonzernen, ihre Reserveoffiziere als KFOR-Soldaten einzukleiden. Sie sollen »informelle Kontakte« knüpfen. Natürlich könne es nicht schaden, ab und zu eine helfende Hand zu reichen, rät die Sonderkommission.

Nach drei Jahren steht Frankreich an 13. Stelle der Geberländer, hat aber mehr als 30 Prozent der Verträge mit der UN-Verwaltung im Kosovo an sich gezogen. Wie zum Beispiel den Aufbau eines Mobilfunknetzes: Als Bernard Kouchner im Sommer 1999 im Kosovo eintrifft, gibt es keine mobile Telekommunikation. Die Firmen Siemens aus Deutschland und Alcatel aus Frankreich reichen ihre Angebote ein. Ein Expertengremium vor Ort entscheidet sich für Siemens, das billigere Angebot. Die Deutschen versprechen den Aufbau eines Netzes zum Festpreis, anschließend soll es in den Besitz des Kosovo übergehen. Im französischen Angebot steht, das Netz bleibe in französischem Besitz.

Was passiert? Bernard Kouchner, Kosovos Gesetzgeber, Regierungschef und Oberster Richter in einer Person, ersetzt den Direktor für Post und Telekommunikation der UN im Kosovo, einen Albaner, durch einen gewissen Pascal Copin. Der Franzose wiederum erteilt Alcatel den Zuschlag. Dies sei die einzige sinnvolle Lösung, behauptet Copin. Nur Alcatel könne in Zusammenarbeit mit Monaco Telecom den Kosovo – kein offizieller Staat – mit einer Ländervorwahl versorgen.Sieben Jahre später besitzt der Kosovo das schlechteste und teuerste Telefonsystem in der Region, urteilt der Europäische Rat. Jedes Mal, wenn ein Kosovare den Hörer abnimmt, rauscht Geld auf französische und monegassische Bankkonten – keine »Peanuts«, sondern nahezu hundert Millionen Euro im Laufe der Jahre.

Warum teilte die UNO dem Kosovo keine eigene Ländervorwahl zu? Wo doch die ITU die Vorwahlen vergibt, ein UN-Organ? Das fragen sich nicht nur die Kosovaren. Im Jahr 2002 finden sie die Antwort: Ein Brief von Pascal Copin an das ITU-Gremium taucht auf. Darin bat der UN-Mann aus Frankreich, dem Kosovo keine Ländervorwahl zuzuordnen.Wer meint, die Korruption im Kosovo habe bizarre Ausmaße angenommen, sollte sich ins Gedächtnis rufen, dass der Mensch ein Tier ist, das sich an die Umgebung anpasst. Die UN-Leute hätten nicht ungestraft so handeln können, hätte die UNO nicht dieses Biotop geschaffen. Sie besaßen im Kosovo Privilegien, von denen nicht einmal Monarchen im Mittelalter zu träumen wagten.

Die Entlassung des ehrlichen Zöllners
Als der Zollbeamte Bedri Shabani entdeckte, dass Schmuggler mehrere seiner Vorgesetzten geschmiert hatten, sammelte er Beweise und wandte sich an die UN-Polizei. »Ich hatte fünf Kilo Dokumente.« Die Zeit verging, nichts geschah. Dann ging er an die Presse. Das war mutig, beinahe dumm, im Kosovo wird man schon für weniger erschossen. Dann, der Durchbruch: Der Leiter der Zollbehörde wird verhaftet! Allerdings kurz darauf auch wieder freigelassen – auf Anordnung eines UN-Richters. Der albanische Staatsanwalt protestiert und beschuldigt die UNO, die Justiz zu sabotieren.Der Zufall will es, dass der damalige Gouverneur im Kosovo, der deutsche Diplomat Michael Steiner, ein Verhältnis mit einer Tochter eines Zollchefs hat, der wiederum der beste Freund des Verhafteten ist. Bei wem soll sich Bedri Shabani nun beschweren, wenn selbst der Gouverneur in die Sache involviert zu sein scheint? Er schreibt an Kofi Annan.

Nun geschieht das Unfassbare: Shabani verliert seine Anstellung. Es sei eine unverzeihliche Pflichtverletzung gewesen, an Kofi Annan zu schreiben, rügt die UNO. Ganz im Gegenteil, argumentiert das Gericht in Pristina, bei dem Shabani Berufung einlegt. Kofi Annan habe die höchste Macht im Kosovo inne, man könne sich sehr wohl bei ihm beschweren. Shabani habe nur sein Recht auf freie Meinungsäußerung in Anspruch genommen.

Drei Jahre sind vergangen, seit das Gericht Shabanis Entlassung für unrechtmäßig erklärt hat. Er ist noch immer arbeitslos. Der Vorsitzende der UN-Zollbehörde im Kosovo weigert sich, der Entscheidung eines Gerichts zu folgen, das immerhin die UNO eingesetzt hat. Und es findet sich niemand, der ihn dazu zwingt.

Es gibt Tausende von Shabanis im Kosovo, in deren Augen die UNO für Gesetzlosigkeit und enttäuschte Hoffnungen steht. Will man begreifen, wie es so weit kommen konnte, empfiehlt sich ein Besuch beim »Ombudsmann«, der einzigen Institution im Kosovo, bei der sich Bürger über Behörden beschweren können. Dort sitzt Marek Antoni Nowicki, ein Anwalt mit Wurzeln in der polnischen Menschenrechtsbewegung. Nach fünf Jahren im Kosovo versteht er die Verbitterung über die UNO nur zu gut: »Man fühlt sich hier wie in einem Roman von Franz Kafka: Die UNO erscheint zur Verteidigung der Menschenrechte – und beraubt die Menschen gleichzeitig aller rechtlichen Möglichkeiten, diese Rechte einzufordern.«

Dieser Raub fand am 18. August 2000 statt. An dem Tag gestand der UN-Gouverneur der Mission in Kosovo rechtliche Immunität zu. Alle beteiligten UN-Institutionen, einschließlich ihrer Mitarbeiter und ihrer Soldaten – insgesamt etwa 60 000 Personen –, wurden über das Gesetz gestellt. Es wurde unmöglich, sie zu verklagen, strafrechtlich zu verfolgen oder verhaften zu lassen. Nur bei einem Schwerverbrechen konnte die Immunität eines UN-Mitarbeiters aufgehoben werden – allerdings nur durch Kofi Annan.

Für Nowicki war dieser Beschluss unlogisch und verhängnisvoll. Schließlich liegt der Zweck der Immunität für UN-Leute in erster Linie darin, sie vor berauschten Polizisten in Afghanistan oder der Willkür islamischer Gerichte im Sudan zu schützen. Aber im Kosovo? Dort ist die UNO die alleinige Macht. Sie verwaltet die Polizei, erlässt die Gesetze und ernennt die Richter. »Im Kosovo hat sich die höchste Macht im Staat selbst unangreifbar gemacht. Sie muss nicht länger ihren eigenen Gesetzen folgen.«

Hans Corell war im August 2000 Oberster UN-Richter in New York, er bewilligte die Immunität. War es wirklich klug, der UN-Zollbehörde und allen anderen Institutionen die Immunität vor der UN-Justiz zu gewähren? Hans Corell klingt verwundert. »Was behaupten Sie da! Natürlich nicht.« Eine derartige Interpretation, so Corell, sei ein Missbrauch der Immunität. »Sie war noch nicht einmal dafür vorgesehen, einen Polizisten der UN vor Strafe zu schützen, wenn er betrunken Auto fährt. Schließlich besteht das UN-Mandat nicht darin, betrunken Auto zu fahren.« Und wie bewertet er den Fall eines Geschäftsführers, der seine Telefonrechnung nicht zahlen will? »Für solche Fälle war die Immunität nie gedacht!«, sagt Corell.

Was wird aus Menschen, wenn man ihnen uneingeschränkte Macht über andere einräumt? Diese Frage war Gegenstand legendärer Sozialexperimente, die Forscher wie Milgram und Zimbardo in den Siebzigerjahren anstellten. Manche dieser Versuche mussten abgebrochen werden – weil die Brutalität überhandnahm. Man könnte behaupten, dass der Kosovo solch ein Experiment darstellt. Welchen Effekt es auf die Kosovaren hatte, mag man aus der Zahl der abgefackelten UN-Fahrzeuge schließen. Aber was verrät es uns über uns, über unsere Demokratien? Vielleicht, dass sie weniger auf der moralischen Überzeugung Einzelner beruhen und mehr auf Herdendenken, Institutionen und Furcht vor Sanktionen.

Eine Armee für einen Haufen Kurgäste beim Picknick
Am 17. März 2004 mussten die UN-Friedenstruppen die größte Niederlage seit Srebrenica hinnehmen. Unter den Augen von 17000 NATO-Soldaten und 4000 UN-Polizisten fielen albanische Randalierer über die Minderheiten im Land her. 900 Menschen wurden verwundet, 19 starben, 700 Häuser wurden niedergebrannt, 30 Kirchen zerstört – auch das berühmte Kloster von Prizren.»Unfassbar!«, sagt Hans Håkansson, ein schwedischer Oberstleutnant. »Das Kloster in Prizren zu verteidigen, das ist der Traum eines jeden Soldaten! Schluchten zu allen Seiten, ein Fluss, eine kleine, enge Brücke! Zwanzig Mann, und ich halte die Stellung gegen tausend Angreifer.«

Tatsächlich geschah Folgendes: Als 200 albanische Extremisten mit Molotowcocktails in der Hand das Kloster aus dem 16. Jahrhundert erreichten, schickten sie einen Unterhändler mit einer weißen Flagge vor. Er teilte den deutschen KFOR-Soldaten mit, ihnen werde kein Haar gekrümmt, wenn sie den Weg frei machten. Die Deutschen rollten ihre gepanzerten Fahrzeuge aus dem Weg und sahen zu, wie das Kloster abbrannte.

»Sie befolgten ihre Befehle«, erklärte ihr General Holger Kammerhoff. In ihren »Einsatzregeln« hieß es, sie sollten Leben schützen, von Gebäuden war nicht die Rede. Das Ergebnis: Kein deutscher Soldat trug auch nur einen Kratzer davon. Aber der Großteil dessen, was die Uno schützen sollte, war bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Das Gleiche geschah mit den Gebäuden, die unter französischem Schutz standen: das Kloster in Drenica, die Häuser der Serben in Svinjare.

An diesem 17. März 2004 hatte Hans Håkansson 700 Mann unter seinem Kommando. Hauptsächlich schwedische, aber auch tschechische, finnische, slowakische und irische Einheiten. Sie machten in solcher Eile mobil, dass sie ohne Landkarten und Wasser aufbrachen. Tausende Albaner marschierten auf die serbischen Enklaven Caglavica und Gracanica zu. Sie führten Eisenstangen mit sich, Steine und Waffen sowie in Benzin getränkte und um Stangen gewickelte Lappen, um Feuer zu legen.
Oberstleutnant Håkansson ließ seine Männer vor dem Dorf antreten. Sie bekamen den gleichen Vorschlag zu hören wie die Deutschen. Aber sie lehnten ab.

Was folgte, »war wie eine mittelalterliche Schlacht«, bemerkte ein Beobachter. Gummiknüppel gegen Holzstangen und Schilde gegen Stahlketten. 700 gegen 10 000, die in Wellen anrannten. An Verstärkung war nicht zu denken, denn der ganze Kosovo stand in Flammen. Es gab nichts zu trinken, Soldaten fielen völlig ausgetrocknet in Ohnmacht. Sie machten sich in die Hosen, ihnen wurden Arme und Beine gebrochen und sie hörten die Kugeln über ihre Köpfe fliegen. Aber sie kämpften ohne Unterlass, elf Stunden lang, bis die Dunkelheit einbrach und die Angreifer müde wurden.

35 Soldaten wurden verwundet. Aber Caglavica brannte nicht und das Kloster von Gracanica stand. Als Håkansson klar wurde, dass sie Gefahr liefen, eingekreist zu werden, gab er einen Funkspruch durch: »Das Kloster verteidigen. Bei Bedarf von der Schusswaffe Gebrauch machen.« Dabei trug er das gleiche Handbuch in der Tasche wie die Deutschen in Prizren. Warum handelte er so?

Bevor Håkansson in den Kosovo geschickt wurde, dachte er, das Auswärtige Amt in Schweden werde ihn über die Geschichte der Provinz in Kenntnis setzen. Dazu kam es nicht, also kaufte er selbst einige Bücher. Daher wusste er, dass das Kloster von Gracanica ein wichtiges serbisches Kultursymbol ist. Sollte es zerstört werden, würde sich möglicherweise ganz Serbien erheben.

Die NATO und einige unabhängige Institute analysierten das Debakel vom 17. März. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass ein Offizier nur verantwortungsvoll handeln konnte, indem er die Regeln brach. Einzig die Schweden und Italiener verhielten sich so. Überall sonst im Kosovo erkannten die Militärs, dass sie keine Armee befehligten, sondern eher einen Haufen Kurgäste beim Picknick. Jede Gruppe hatte ihre eigenen Vorschriften: Die Amerikaner durften nicht gegen Zivilisten vorgehen, die Slowaken keine Gummiknüppel einsetzen. Den Deutschen war es verboten, eine Straße zu überqueren, wenn dahinter ihr Territorium endete. Vorsichtsmaßnahmen und Vorkehrungen, die jeder Staat zur Bedingung für seine Mitwirkung bei dem Einsatz gemacht hatte. Die Konsequenz: Nur 17 von 55 KFOR-Einheiten durften bei Aufständen einschreiten.

Man möchte meinen, ein UN-Einsatz gleiche einer Polarexpedition: klare Ziele, entschlossene Führung, Top-Ausrüstung, Spezialisten, die sich der Aufgabe verschrieben haben. Nicht so im Kosovo: Dort werden Soldaten nach Hause geschickt, nachdem sie sich gerade mal orientiert haben. Der Rotationszeitraum beträgt sechs Monate, Gleiches gilt für die UN-Polizei. Der Gouverneur wird einmal im Jahr ausgetauscht. Eine UN-Polizei, die Kriminalitätsstatistiken auf den Müll wirft, hat deshalb nichts zu befürchten. In der UNO gibt es keine Sanktionen gegen Pflichtverletzungen.

Im Übrigen: Ein Polizeiapparat, der sich aus 44 Staaten rekrutiert, die zur Hälfte halb-demokratische Staaten und zur Hälfte Diktaturen sind; in dem die eine Hälfte nicht versteht, was die andere sagt; in dem die eine Hälfte nicht mal richtige Polizisten sind – wer glaubt ernsthaft, dass diese Leute nun das eigene Leben riskieren, um für Recht und Ordnung zu sorgen? Natürlich haben sie tatenlos zugesehen, wie Mafiabanden erst die Institutionen im Kosovo unterwanderten und dann die UN-Mission. Heute betreibt diese Kosovo-Mafia Heroinhandel und Prostitution in ganz Europa.

Handlanger und Schmarotzer, fürstlich entlohnt
Keiner der sieben Gouverneure im Kosovo hat auch nur ansatzweise versucht, sich mit den Gangsterbanden in der Provinz anzulegen. Die Mächtigsten unter ihnen – verwurzelt in der Kosovo-Befreiungsarmee – genießen beinahe die Immunität der UNO. Eine verhängnisvolle Appeasement-Politik, die aber kaum überrascht, wenn man den Ablauf des UN-Einsatzes kennt: Dem organisierten Verbrechen entgegenzutreten hätte eine Strategie, Beharrlichkeit, Mut und Aufopferungsbereitschaft verlangt. Ein klares Ziel, eine Mission. Aber daran mangelt es der Weltgemeinschaft im Kosovo bis heute. Was sie im Übermaß hat, sind Handlanger und Schmarotzer – fürstlich entlohnt, aber ohne jedes Verantwortungsgefühl. Und Karrieristen natürlich, für die der Kosovo nichts weiter als einen Absatz im Lebenslauf darstellt. Für eine Karriere bei der UN ist es natürlich eher förderlich, Stabilität und Fortschritte zu vermelden statt einen Krieg mit der Mafia. So kam es, dass sieben verschiedene UN-Gouverneure in ihrer Amtszeit immer nur über Stabilität und Fortschritte sprachen, um nach acht Jahren eine Mafia-durchseuchte Provinz zurückzulassen, die in den nächsten Monaten womöglich die Europäische Union übernehmen wird.

Respekt für ein Paar blaue Socken
Das schwedische Militärcamp Victoria nahe Pristina ist eine Miniaturausgabe von Schweden: Es gibt eine Kirche, ein Fitnessstudio, eine Post, Pfannkuchen mit Marmelade und ein Recyclingsystem. Mögen die Kosovo-Albaner ihren Müll in den Straßengraben kippen, im Camp wird fleißig kompostiert. »Nur schade, dass es hier nicht möglich ist, alte Reifen wiederzuverwerten«, bedauert Oberstleutnant Håkansson, der Held von Caglavica. Was passiert damit? »Na ja, wir fahren sie nach Schweden.« Wenn man sich vorstellt, wie ein Truck mit alten Reifen auf seinem 2000 Kilometer langen Weg nach Schweden Tausende Müllhalden im Kosovo passiert, fällt es schwer, sich nicht über die gewissenhaften Soldaten und im Grunde die ganze Mission lustig zu machen.

Doch dann begegnet man im Camp Soldaten wie Micke, der im März 2004 in der Schlacht um Caglavica kämpfte und den Tod vor Augen hatte. Er leitet nun einen Trupp, der Sprengstoff und Waffen aufspürt. Manchmal brechen er und seine Kameraden nachts in verdächtige Häuser ein, erzählt er. Erweist sich der Verdacht als unbegründet, ist Deeskalation angesagt: »Wir entschuldigen uns bei den Eigentümern, nehmen unsere Waffen ab und fotografieren alles, was wir zertrümmert haben, damit die Leute Schadenersatz fordern können. Und wir ziehen Socken über die Schuhe, um den Teppich nicht zu verschmutzen.«

Während Micke das erzählt, kramt er in den Taschen seiner Schutzweste: eine Taschenlampe, ein Kompass und tatsächlich – ein Paar blaue Socken. Der Sergeant erzählt, es sei vorgekommen, dass sie die Tür eines Hauses eintraten und von den Leuten zum Kaffee eingeladen wurden. Etwa wegen der blauen Socken? »Ja, weil wir respektvoll auftraten.«

Waffengewalt und blaue Socken – vielleicht ist es verwegen zu behaupten, die UN könnte noch einiges von diesen schwedischen Soldaten lernen. Man mag den eigenbrötlerischen Bewohnern des Balkans manches nachsagen, doch sie weisen einen sympathischen Charakterzug auf: Eine Schutzmacht, die sich selbst und ihre eigenen Prinzipien nicht ernst nimmt, verachten sie. Aber sie respektieren einen Gegner, der einsteht für das, woran er glaubt.

Eine ausführliche Version dieses Textes in englischer Sprache finden Sie unter
http://www.dn.se/DNet/jsp/polopoly.jsp?d=2502&a=664639