Jahrelang sprachen wir kaum miteinander

Aber als er mit seinem Vater in Freiburg unterwegs war, merkte Jens Petersen, wie jung der geblieben ist - und er selbst kam sich plötzlich ziemlich alt vor.

Während ich älter werde, wird mein Vater jünger. Er ist ein rastloser Mann geworden, immer unterwegs. Am Sylter Ellenbogen Sandkörner aus den Ohren pulen; auf Parkplätzen schlafen, wenn gerade kein Hotelzimmer frei ist; in einen Bergsee springen – nackt, auf dem Kopf nur einen Hut: Das ist mein Vater. Er setzt sich am Morgen ins Auto und fährt los, im Fußraum vor der Rückbank Friedrich A. von Hayeks Der Weg zur Knechtschaft, die zerfledderte Bild-Zeitung und ein Paar Turnschuhe … Nun stehen wir in Freiburg am Münsterplatz.

»Letzte Woche«, sagt er zu mir. »Am Skagerrak. Das war einmalig.«
Er sieht mich lange an. Mein Vater wirkt wie ein Student: Der Anorak passt nicht zum Hemd; das Grün der Schuhe beißt sich mit dem hellen Blau seiner Jeans. Er schneidet sich die Haare selbst – wie ich, als ich 14 war: Ich hatte in der Bunten gelesen, dass Keanu Reeves das tat …  »Fahr auch mal wieder weg«, sagt er. »Arbeite nicht so viel.«

Zwanzig Jahre zuvor hatte ich das Gleiche zu ihm gesagt, hatte mich darüber gewundert, wie er am Tisch saß, den Kopf gesenkt, und müde und gierig sein Mittagessen verschlang. Zu dieser Zeit hatte ich ein Foto von ihm gemacht: Im Vordergrund sah man den oberen Teil des Kühlers seines Wagens; mein Vater stand im Hintergrund, im Anzug und mit Schlips, den Blick in die Ferne gerichtet, die Brust herausgestreckt.

Meistgelesen diese Woche:

Er hat jeden Tag einen Anzug getragen und Budapester Schuhe. Wir aßen selten daheim – ich erinnere mich an Szenen, als wir vor zwanzig Jahren in Freiburg im »Colombi« vor zwei Filets Mignon saßen und er versuchte, mir seine Deutung
des Konflikts zwischen Friedrich von Hayek und John Keynes darzulegen. Damals war ich überzeugt, dass es mir niemals etwas bedeuten würde, ob das Fleisch auf meinem Teller bien cuit wäre oder bleu.

Nun führt er mich zum Würstchenstand. Über uns wirft der Turm des Freiburger Münsters seinen Schatten in die Mittagshitze. Mein Vater verspeist eine Bratwurst, während ich selbst ein stilles Mineralwasser aus der Flasche trinke.
»Auch ein Stück?« Er hält mir die Wurst hin. »Danke, nein«, sage ich. »Komm«, sagt er. »Ich zeig dir was.«

Wir gehen durch die Stadt: die Fachwerkhäuser, der Dreisam-Fluss; die ganze heile Welt, in die, seit ich Kind war und wir hier Urlaub gemacht haben, Billigmärkte und ein bisschen Plastik gedrungen sind. Am Holzmarktplatz hat er gewohnt. In der Oper hat er meine Mutter kennengelernt. In jenem Vorgarten hat er genächtigt, als er betrunken war.

Eigentlich wollte mein Vater Mineraloge werden; er entschied sich dann für einen Beruf, der »etabliert« schien. Ich habe ihn so in Erinnerung: mit Akten vorm Fernseher sitzend; zu Sitzungen fahrend, von Sitzungen kommend. Mein Vater in seinem Büro, hinter sich ein Bild, das meine Mutter gemalt hatte. Jahrelang sprachen wir kaum miteinander.

Wenn ich aus München kam, holte er mich vom Bahnhof ab; dann saß ich neben ihm in dem Wagen, mit dem ich ihn fotografiert hatte – er in seinem Wintermantel, einen Hut auf dem Kopf; ich erst plappernd und schließlich in sein Schweigen einstimmend. Sobald wir zu Hause waren, setzte er sich in seinen Sessel am Wohnzimmerfenster und schlug die Zeitung auf. Sein Schädel, in der Zeitung versunken; das »Mmh«, mit dem er die meisten meiner Fragen beantwortete; sein Schlafzimmer, das wirkte, als habe während der letzten Jahre niemand Zeit zum Aufräumen gefunden …

Sein Schweigen war raumgreifend, fast bedrohlich; ich glaube, er verstand eine Familie nicht als Quid pro quo, sondern als Horde, obwohl die Gesinnung durch den Wandel der Zeit nicht so ausgeprägt war wie bei seinen Vorfahren, die sich im Jähzorn die Hemden, statt zu knöpfen, auch mal aufgerissen hatten.

Du bist eben langweilig!

»Was macht eigentlich dein neuer Roman?« Ich beginne zu erzählen. »Ich würde die Handlung ans Skagerrak verlegen«, sagt er. »Fahr mal hin und guck dir das an. Ich gebe dir eine Adresse.«

Einige Wochen zuvor hatte ich an ihn denken müssen, als meine Neffen zu Besuch waren. Ich hatte alles geplant und wollte ihnen ein schönes Wochenende bereiten: bei »Massimo« essen gehen, am Samstag zur Via Mala fahren, gepflegte Konversation führen über dies und das. Hatten sie schon Freundinnen? Was erwarteten sie vom Leben? Ich holte meine Neffen vom Flughafen ab. Sie waren reserviert, so, wie ich selbst mit 14 Jahren reserviert gewesen war. Bei »Massimo« saßen die beiden am Tisch; während der ersten Minuten antworteten sie auf meine Fragen, wir brave Jungen es taten. Dann begannen sie, stundenlang mit ihren iPods zu spielen.

Als sie im Bett lagen, war ich ein bisschen konsterniert. Meine Freundin sagte: »Du bist eben langweilig.«
»Warum?«, sagte ich.
»Solche Jungs wollen Onkel, die den Mount Everest besteigen. Sie wollen Onkel, die zu Fuß die Sahara durchqueren. Und was machst du? Du schreibst! Die Eltern finden das toll. So ein schlauer Onkel! Aber die Jungs können kaum die Augen offen halten, wenn du davon erzählst.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich hatte selbst mal einen Freund, Maurice. Immer unterwegs. Er kam mit dem Flugzeug irgendwo an und war sofort integriert. Die Berber in Marokko haben ihm eine Welle gezeigt, auf der man im Mondschein surfen kann. Maurice war ganz allein. Die Welle kam nur zweimal im Jahr; er hat sie abgeritten. Seine Neffen haben ihn dafür geliebt …«

Wir hatten dann den schlimmsten Streit, den wir jemals hatten. Ich musste an meinen Vater denken, an das Unverständnis, mit dem ich ihm zugehört hatte, wenn er in Restaurants über Konjunkturzyklen sprach.

Bevor er nach Freiburg kam, hatte mein Vater bei Hamburg gelebt. Seine Familie hatte eine Gießerei besessen; er war der erste Junge seines Dorfes, der das Abitur machte, und der Erste aus seiner Familie, der studierte. »Ich wollte weit weg.« Erst studierte er dies und das, schließlich Ökonomie. Er hatte ein Wohnhaus an der Kieler Straße geerbt, in das beim Luftangriff von 43 die einzige Bombe weit und breit eingeschlagen war. Mit dem Verkauf des Grundstücks konnte er sein Studium finanzieren.

In Freiburg, das mir heute vorkommt wie ein süßlicher Aufguss vergangener Zeiten – Menschen, die in T-Shirts vor Weinstuben sitzen, Schoppen trinken und dazu Gebratenes verschlingen –, war die ökonomische Weltelite daheim: Von Hayek, bei dem mein Vater seine Diplomarbeit schrieb, focht für den Liberalismus und sollte dafür 1974 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet werden. Die Verfassung der Freiheit stand in meinem Bücherregal, bevor dort Hermann Hesse und Bret Easton Ellis ihre Plätze fanden. Es ist eines der wenigen Bücher in meinem früheren Zimmer im Haus meiner Eltern, das ich nicht gelesen habe – ich glaubte, es sei meine Freiheit, dem Lehrplan des »Über-Ich«, wie ich meinen Vater damals nannte, widerstehen zu können.

»Ja«, sagt er, »eigentlich wollte ich Mineraloge werden.« Er ist zum Gestein zurückgekehrt, das er vor all den Jahren, als er Student war, aus den Voralpen gehauen hat. Er hat den Vorgarten seines Hauses damit gepflastert, ist jeden Tag in die Lüneburger Heide gefahren und hat den Kofferraum seines Wagens mit Feldsteinen gefüllt. Ein bisschen hat mich das an meinen ersten Umzug erinnert: Ich bin hundertmal mit der U-Bahn gefahren und habe mein Hab und Gut in Plastiktüten vom Norden Münchens in den Süden geschafft. Ich war damals fast noch ein Kind; mittlerweile würde ich für einen Umzug einen Möbeltransport engagieren …

Er lacht mich aus.
»Du fährst doch mit deiner Freundin am Wochenende immer weg. Was macht ihr denn dann?«
»Essen gehen.«
»Ich hab auch ein paar Freunde«, sagt er, »deren Lebensinhalt darin besteht, essen zu gehen und sich darüber zu unterhalten. Sie lesen Bücher über das Essen. Ernsthaft!«
Plötzlich müssen wir beide lachen. Am Himmel steht der Mond; ich überlege, wie lange er noch um die Erde kreisen wird.
»Ich finde es kritisch, dass du in der Schweiz lebst«, sagte er.
»Warum?«, sage ich.
»Ist zu weit ab. Wir reden zu selten.«

Bild: Klaus Fürmaier