Es war einmal das Ende der Welt

Die Menschen vertrauten niemandem mehr, der von draußen kam, und die Weissagungen wurden immer düsterer. Ein Märchen aus finsteren Zeiten.

Es geschah im Spätherbst des vierten Jahres nach der Großen Zerrüttung; es geschah, dass ein Mann in ausgebleichter Kutte in den Ruinen der Vorstadt gesichtet wurde. Man hielt ihn nicht für einen Unheilsbringer, man bestaunte ihn, seine schmutzigen Knöchel, seinen bebenden Körper. Er jagte den wilden Hund nicht davon, der ihm hinterherschnürte, er verschrie nicht das Kind, das sich ihm anschloss. Einmal blieb er stehen, bohrte die Fußspitze in den Trümmerstaub. Der Mann – das war kein Riese, kein verheißender Gottesprediger, kein Verrückter, der für sein Himmelreich warb. Solche Männer waren durch ihre Straßen gezogen, und sie hatten sie nicht freundlich empfangen. Es herrschte Knappheit, und in der schwankenden Erde taten sich immer neue Risse auf: Die Harten wie die Milden an diesem Ort trauten keinem, der von außerhalb kam.

Der Mann setzte sich, griff nach dem Kanten Brot in den Falten seiner Kutte. Keine Tasche, kein Besitz. Sein Kinn fiel auf die Brust, er schlief ein. Sie starrten auf den Schlafenden, und nur die Frauen sahen den Schweiß auf seinem Gesicht. Die Männer aber zogen mit Stock oder Stab in der Hand los. Sie wussten: Mal ist das Böse ein Windhauch, mal der Traum, den ein Fremder träumt. Der Vater des Mädchens, das zu dem Mann gelaufen war, stieß ihn an und sagte: Wer bist du? Und der Mann sagte: Ich heiße Harrsgit. In der alten Sprache bedeutet der Name: der vom Stein Abstammende. Der Vater des Mädchen sagte: Weswegen sollen wir glauben, dass du uns nicht bedrohst? Und der Mann sagte: Ich bin kein Hexer. Die von außerhalb verdächtigten mich einer Untat. Vor zwei Tagen wurde ein toter Soldat vor meiner Hütte abgelegt. Die Herrscher spickten meine linke Hand mit glühenden Nadeln. Doch ich gab nichts zu … Hast du es getan? … Nein, sagte Harrsgit, aber ich kenne den Mörder.

Die Männer zogen ihn auf die Beine, kniffen in den Stoff seiner Kutte, sie fanden keinen Dolch. Die Späher wurden ausgeschickt, sie kehrten zurück: Nein, eine Schar der Herrscher hatten sie nicht entdeckt. Noch blieb der von außerhalb verschont. Die Wilden, die in den Ruinen hausten, sprachen ihn erst einmal nicht mit seinem Namen an, aus Angst, es könnte einen bösen Zauber entfesseln. Sie verbrachten ihn in das Untergelass eines Tempels, sie zeigten auf einen Schemel, auf dem er Platz zu nehmen hatte. Harrsgit sagte: Werdet ihr mich peinigen? Werdet ihr es denen gleichtun, die ihr aus ganzem Herzen hasst? Karran, der Vater des Mädchens, brachte ihm zwei Handkuhlen Salz, Brotrinde und eine Karaffe Wasser. Sie ließen ihn essen und trinken, sie bewachten ihn und lauschten den Lauten der Tiere, die oben im zerfallenen Gotteshaus in die Schatten huschten.

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Dann stellten sie Harrsgit die folgenden Fragen: Rüsten die Herrscher zum Feldzug, um den Wilden und Störrischen den Garaus zu machen? Ist der Verheißene, der in der Zeit der Verwirrung nach der Großen Zerrüttung erschienen war, erschlagen? Oder streuen die Herrscher nur Gerüchte, um ihnen die Hoffnung zu nehmen? Hat man aus den Splittern der Gesteinsbrocken, die im Dutzend herabgesaust waren, neue heilige Häuser gebaut? Wieso ver-boten die Kriegspriester die alte Sprache, wieso müssen alle Männer und alle Frauen und alle Kinder den alten Namen ablegen? Heißt es nicht in der Schrift: Und ihr werdet, da ich euch breche, mit aller Kraft die Herrschaft brechen?

Harrsgit sagte: Ich bin ein entlaufener Kriegspriester, sie haben mich überlistet. Ich sprach zu den Menschen in der alten und in der neuen Sprache, sie nahmen meine Worte an. Den Verheißenen haben sie öffentlich gehängt, in der Stadt Nudeschar, ich war einer der Schaulustigen. Der Großmächtige hat geweissagt, dass wir errettet werden, noch sehe ich nicht die Zeichen. Ja, die Krieger sind losgezogen, nicht um euch zu befehden, aber die Kaukasier sind widerspenstig.

Die Männer hatten gelernt, sich zu verschanzen, von kleinen Tieren zu leben. Sie nahmen den Gefangenen in ihre Mitte, stiegen hoch, riefen alle anderen zusammen: einundvierzig Menschen fast jeden Alters. Karran war ein Gleicher unter Gleichen, er sprach zu den Seinen. Sie müssten wegziehen, auf den Neuen war ganz bestimmt ein Rudel Söldner angesetzt, sie würden, auch wenn man Harrsgit sofort verstieße, allen einundvierzig den Kopf vom Leibe trennen, dies war also die Nacht der Trennung …

Es gab keine Widerworte, nur hier und da hob eine Frau das Haupt, schaute Karran lange in die Augen, nickte. Harrsgit schwor auf seine Seele, dass er sie nicht täuschte. Er wollte helfen, doch sie nahmen die Hilfe eines gefallenen Priesters nicht an. Der von außerhalb, wie man ihn nannte, hörte in der Ferne die wilden Hunde heulen, sie wurden von den Vögeln des fluchgeschwärzten Meisters genarrt: Das war der Mann, der vor Harrsgit in die Wildnis floh und von dem es hieß, er befehligte eine Streitmacht an Fleischfressern. Karran stand plötzlich bei dem Neuen, und er sagte: Er, der über Hunde und Krähen gebietet, streift in manchen Nächten herum, wir fühlen seine Nähe und fürchten uns. Noch nie hat er einen von uns erwählt, ich kenne aber Männer, die in der Wildnis verloren gingen.

Es wurde Zeit, sie verließen ihre Schanzen, ein Menschenstrom, die Kinder auf einem Wagen in der Mitte. Wer sollte sich an die Spitze des Zuges stellen? Karran, ein Schritt hinter ihm Harrsgit. Das weite Land war bedeckt vom roten Trümmerstaub. Ein Frau, Antia, ahmte den Ruf des Tieres nach, wenn es mit speichelnassen Lefzen nach dem Mondschein schnappt. Einer Kinderlosen vertraute man sich an – diesem Brauch entsprach der gewesene Kriegspriester und sagte ihr: Einem guten Ende gehen wir vielleicht nicht entgegen. Das Rudel kann uns vorm Morgengrauen einholen. Sie sagte nur: Hast du ein schlechtes Herz? Er sagte: Gestein kann herabsausen. Die Herrschaft hielt es geheim, doch es lähmte sie alle, die sie die Große Zerrüttung überlebt hatten, die Angst vor dem Steinschauer. Untergang: Sie würden vernichtet werden. Nach dem Weltende hatte es Tausende Anfänge gegeben, die Verdorbenen aber hatten ihre kleinen Reiche gegründet. Ein Stück befestigtes Land grenzte an das andere: Söldnerreiche, Schergenregimenter. Die Einundvierzig waren taumelnde Geister, ein jeder von ihnen hatte Verbund und Herberge verlassen, um nicht gebunden zu sein an das Neue Gesetz. Dies Gesetz verbot den Untertanen, hochzuschauen zum Himmel, denn niemand durfte die Macht der Herrschaft unterhöhlen.

Nun flohen sie wieder. Antia sagte: Der wilde Meister im Dunkeln, Ranchall – er war mir versprochen, und ich wählte ihn zu meinem Mann. Ich trug seinen Gelöbnisreif und er den meinen am kleinen Finger. Dann aber, in der schwärzesten Stunde der Nacht, verschwand er … Harrsgit verschwieg ihr, dass er den Wilden kannte, seines Blutes Verrücktheit machte Ranchall zum Mächtigen. Unter seinem Schwert wollten sich junge Krieger sammeln, doch er nahm sich nur der schwarzen Vögel und der wilden Hunde an. Ein einziges Mal waren sie sich begegnet – nach dieser Begegnung hatte er sich gefühlt, als hätte das Maul der verruchten Zeit ein Gliedmaß seiner Seele abgebissen. Kein Kriegspriester durfte offen über das Unheimliche sprechen, er hatte es getan und war dafür bestraft worden. Harrsgit sagte: Sogar in Nudeschar kennt man ihn, er ist der Schutzheilige der Kuttelwascher, Perlmuttdrechsler und Wagenschmiermänner. Die Schwes-tern vom Orden des brennenden Dochts kneten ins weiche Wachs sein Angesicht hinein, sie beten dies an …

Karran wollte wissen, wieso die Herrscher diese Andacht nicht verbaten. Und so erzählte ihm der Zweiundvierzigste von dem Verbot, das Gotteshaus zu verlassen; die Nonnen galten zwar als Unberührbare, sie wurden aber verschont, solange sie nicht hinaustraten. Es hieß, die Nonnen würden sich nackt auf den Klos-termauern zeigen, in Erwartung des geliebten Meisters. Harrsgit sprach, Antia und Karran lauschten – all das hatte keine Bedeutung für sie. Was zählte wirklich? Brot, Wasser, festes Schuhwerk, gute Augen.

Die vier Alten baten um eine kurze Rast, die Bitte wurde ihnen nicht gewährt; sie stiegen auf den Wagen, vier Mütter mussten ihr Kind auf dem Rücken tragen. Nach achtstündigem Fußmarsch trafen sie auf Zerlumpte, die aus ihren Erdlöchern hinaufstiegen. Die Zweiundvierzig wiesen sich aus, sie wurden nicht beraubt, mussten aber weiterziehen. Da hörten sie es, und alle blickten hoch: kleine Sonnen, Feuerbälle am Himmel. Die Männer, die Frauen, die Alten, die Kinder, sie alle gingen auf die Knie. Ihr Ende war besiegelt.

Das Märchen über die Verwandlung des tanzenden Mädchens Lucinda von Thomas Brussig lesen Sie hier.

Fotos: Daniel Sannwald