Das Märchen von Hannes und Greta

Brüderlein und Schwesterlein aus bitterarmer Familie: Zwei Menschen geraten in ganz schlechte Gesellschaft. Und bald wird klar, so leicht kommen sie da nicht mehr weg.

Die Eltern von Hannes und Greta waren selten zu Hause. Seitdem ihr Vater seinen Job bei einer Baufirma verloren hatte, ging er jeden Tag spazieren, saß rauchend auf der Bordsteinkante vor ihrem Mietshaus oder spielte mit Knut, Spitzi und Rainer auf dem Hof Boule. Ihre Mutter hatte in einem Callcenter gearbeitet, bis das Ding von einem Tag auf den anderen verschwunden war. Eines Morgens stand sie plötzlich wieder in der Tür und stammelte: »Stühle, Tische … alles weg … sogar der hässliche Teppich.« Sie hatte kurz geweint und danach ihr letztes Geld für ein unsinnig teures Frühstück mit ihren Kindern auf dem Ku’damm bei Leysieffer ausgegeben.

Hannes und Greta gingen seit letztem Sommer auf die Realschule. Sie hatten zwar eine Gymnasialempfehlung, aber ihre Eltern hatten es versäumt, sich rechtzeitig um einen Schulplatz auf einem der beliebten Gymnasien in der Nähe zu kümmern. Schließlich meldete ihr Vater sie an einem verkaterten Morgen »an dieser Schule da« um die Ecke an.

Der Schulunterricht langweilte Hannes und Greta, meistens hingen sie von nachmittags bis abends im Fitnesscenter auf der Heinrich-Heine-Straße herum. Sobald Hannes und Greta die Eingangsschwelle des Studios überschritten hatten, tat sich eine andere Welt auf. Hier waren sie wer. Hannes und Greta hatten beide lange blonde Haare und waren sehr sportlich. Da sie fast täglich ins Fitnessstudio gingen, kannten sie hier auch beinahe jeden. Von überallher winkte man ihnen zu, wenn sie kamen. Hier spielte es plötzlich keine Rolle mehr, auf welche Schule man ging und was die Eltern machten. Hier zählten andere Werte – es gab eine Liste mit den Fortschritten, die jeder Teilnehmer machte, Hannes notierte jede Woche die Gewichte, die er stemmte, Greta erhielt zu ihrem letzten Geburtstag einen Brief von Freunden aus dem Studio, in dem man ihr zu ihrem »imPOsanten« Hinterteil gratulierte.

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Seit das Callcenter verschwunden war, begann sich Hannes’ und Gretas Mutter mit Astrologie zu beschäftigen. Bald schon gab sie ihrem Mann Tipps fürs Lottospielen und machte auch bei jedem anderen Gewinnspiel mit, das sie in die Finger bekam. Einmal gewann sie 75 Euro im Lotto, seitdem war sie überzeugt, dass sie auf diesem Wege eines Tages zu Geld kommen werde. Auch Hannes’ und Gretas Vater ließ sich von ihrem Gewinnspielfieber anstecken. Dass sie beide auch mit normalen Berufen auskömmlich verdienen könnten, erschien ihnen vollkommen absurd.

Vielleicht lag es an Hannes’ und Gretas durchtrainierten Körpern, dass sie ihren Eltern älter, erwachsener erschienen, als sie eigentlich waren. Nach Schularbeiten fragten ihre Eltern nie, die Kinder wurden ja versetzt.

Bislang hatten Hannes und Greta in ihrer Freizeit fast alles gemeinsam gemacht – fast immer Sport. Ein paar Mal hatte sich Hannes mit Mädchen aus dem Studio verabredet, aber aus diesen Flirts wurde nie etwas. »ImPOsanta Greta«, wie sie von Verehrern im Fitnessstudio genannt wurde, machte sich eher rar, was die Männerwelt anging, und behauptete manchmal sogar, Hannes sei ihr Freund, um sich die Kerle vom Leib zu halten.

Etwas eifersüchtig war Greta schon, als sich eine Amalia an Hannes heranmachte, die optisch das genaue Gegenteil von ihr war: lange schwarze Haare, klein, dunkle Haut, feuriger Typ, spirredünn. Wenn Amalia lachte, sah man ihre Eckzähne. Immer öfter stand sie bei Hannes an den Geräten, tauschte sich über ihre jeweiligen »Fortschritte« aus, trank mit ihm Energy-Drinks an der Bar. Ins Solarium gingen sie auch heimlich zusammen – und blieben lange. Einmal hatte Hannes einen Sonnenbrand auf dem Rücken.

»Was ist dran an der, warum verpisste dich denn jetzt dauernd?«, wollte Greta von Hannes eines Tages auf dem Weg zum Studio wissen. »Es geht nicht nur um Amalia … wir sind eine Gemeinschaft … und, stell dir vor, ich habe die Aussicht, richtig Schotter machen zu können … nicht nur so rumdümpeln wie unsere Elte…« »ERZÄHL MAL!«
Danach stand fest, dass sie am nächsten Tag mit zu Amalia und ihren Freunden kommen würde.

Greta hatte gedacht, dass es ihr sehr schwerfallen würde, mit Unbekannten zu schlafen. Aber sie hatte sich geirrt. Die Inszenierung stand so im Vordergrund, dass sie sich eher wie eine Schauspielerin vorkam – so sahen sich auch die anderen dort. Eigentlich fand Greta die Arbeit ehrlich, anständig und sauber. Jeder musste einen HIV-Test machen, die Männer waren frisch geduscht, rasiert und rochen gut. Amalia und Saskia nahmen sogar Medikamente gegen Körpergeruch. Und alle waren sehr, sehr freundlich zueinander.

Bald lebten Hannes und Greta mit Amalia und ihren Freunden zusammen. Saskia, Susie, Stefi, Pedro und Jack waren alle schwer in Ordnung und immer gut aufgelegt. Man erfuhr von niemandem etwas über sein Vorleben, sein altes Leben, das schien ein unausgesprochenes Gesetz zu sein: Wir haben Spaß, du bist gut drauf und hältst die  Klappe. Hannes und Greta mussten keine Miete zahlen, nichts. Sie wohnten in einer Neun-Zimmer-Wohnung am Ku’damm, es gab ein Solarium, einen Whirlpool und jeden Tag gutes Essen, ein Luxusleben.

Amalia und ihre Freunde gingen oft vormittags mit ihnen auf dem Ku’damm shoppen. Und nachmittags waren sie zusammen im Fitnessstudio. Vielleicht lag es daran, dass die Sommerferien angebrochen waren – Hannes’ und Gretas Eltern machten sich keine Gedanken darüber, wo sich die beiden herumtrieben. Sie wussten nicht, wann die Schule wieder anfing – und ob die beiden überhaupt noch ein Schuljahr hatten?

Greta und Hannes fühlten sich wohl in ihrer neuen Familie. Zu Hause in der Waldemarstraße in Kreuzberg waren sie nur noch selten. Wenn, erschien ihnen alles blass, ärmlich, das heruntergekommene Treppenhaus, die Küche, in der ihre Eltern herumsaßen und Zeitschriften von Nachbarn aus der Mülltonne nach Gewinnspielen durchforsteten. Ein Relikt aus einer anderen Zeit, einem anderen Leben.

Die Eltern fragten nicht, woher sie ihre schicken Klamotten hatten. »Jehta abeeten?«, wollte der Vater wissen. »Das sieht man doch, bei die Sachen«, meinte die Mutter nur. Manchmal brachten Hannes und Greta ihnen Blumen mit oder etwas zu naschen für die Mutter, von Leysieffer.

Eine Weile ging alles gut. Bis Hannes eines Morgens nach der »Get-up«-Gymnastik Herzrasen bekam und zu Amalia sagte, er glaube, die Anabolika, die sie ihm täglich gab, seien schuld daran, außerdem habe sich auch sein Hautbild verschlechtert. Da meinte Amalia nur: »Is’ doch egal, das kann man doch nachher wegretuschieren.« Als Greta einmal keine Lust hatte zu arbeiten, hieß es: »Was glaubst du denn, wer du bist? Du hast hier jede Menge zu tun, das ist hier kein Wellnessclub!« Aus dem Hintergrund rief Saskia: »Auch wenn’s vielleicht so aussieht.«

»Und was macht der Bizeps heute?«, wurde Hannes jeden Morgen von Amalia gefragt. Dann vermaß sie seinen Oberarm. Immer wieder schüttelte sie den Kopf. »Das reicht noch nicht.«

Je kräftiger Hannes wurde, desto dünner Amalia: Nachdem sie den Umfang seiner Oberarme abgenommen hatte, maß sie mit dem gleichen Band ihre Oberschenkel, oft  seufzte und fluchte sie dann. Bald bemerkten Hannes und Greta, dass ihr Aufenthalt in dem Ku’dammschloss nicht nur eine kurze Episode, eine Art Sommerjob, war: Man rechnete mit ihnen. Sie merkten auch, dass sie kaum einen Schritt allein tun konnten, ihre Terminkalender wurden für sie verwaltet, »Arbeitstermine« nur noch mitgeteilt, Einwände nicht akzeptiert.

Hannes und Greta waren es gewohnt gewesen, viel Zeit miteinander, zu zweit, verbringen zu können, doch hier waren sie nie allein. Die Gruppe war alles. Irgendwann bei einem der üblichen ausladenden Frühstücke, bei dem alle auf Amalias rundem rosafarbenem Riesenbett lagen, wagte Hannes zu fragen: »Wie lange geht’n dis hier noch so, ich meine, ich will mal ne Reise, was anderes machen, ne Ausbildung auch … oder so.« Greta sah ihn verblüfft, aber, wie ihm schien, auch erleichtert an.

Amalias Augen wurden schmal: »Was heißt das, was anderes machen ..? Du hast hier doch alles ..! Du verdienst super, was willst du, du kannst mir UNENDLICH dankbar sein, dass ich dich – dich! Und – das Gleiche gilt auch für dich!«, fuhr sie Greta an.

»Ihr verdient hier jede Menge Schotter, schon mal gemerkt?«, brummte Pedro. »Ich hab noch nie einen Cent gesehen …«, wagte Hannes einzuwenden. »Hör mal!«, jetzt war Amalias Tonfall schneidend geworden, »hast du nur noch Muskeln oder wenigstens noch ein Minipapageienhirn? Wer zahlt hier die Bude, den Champagner und hier …«, sie zerrte an Hannes’ Pyjamaoberteil, »den ganzen Plunder für dich?« – »Du stehst bei uns noch in der Schuld … und zwar mit … um genau zu sein … 18 000 Euroneten«, sagte Jack und grinste, sodass man seinen diamantenverzierten rechten Schneidezahn sah. Die beiden kleinen Diamanten steckten in einem Totenkopf-Zahnaufkleber.

Wenn Greta und Hannes gedacht hatten, dass die Stimmung in den nächsten Tagen im Keller sein würde, hatten sie sich getäuscht. Amalia, Saskia, Pedro, Jack und die anderen gingen sofort, reibungslos, wieder zu ihrer Dauernettigkeit über. Man umarmte sich, es wurde der gute Teamgeist beschworen. Es war, als hätte Hannes nie etwas gesagt.

In den nächsten Tagen wurde fast nur noch von dem »großen Dreh« gesprochen. Selbst Amalia wirkte aufgekratzt. »Das ist echt ein wichtiges Ding! Wenn wir das hier richtig gut machen, sind wir im Winter in Florida – bei dem ganz großen Dreh!« Bei den Worten »Winter in Florida« hatte Amalia Hannes und Greta zugezwinkert. Doch Hannes wollte zurück nach Hause, in die Gammelbude in der Waldemarstraße. Es war fünf Wochen her, dass er das letzte Mal mit seiner Mutter telefoniert hatte, an ihrem Geburtstag. Seitdem Funkstille. Und selbst da hatte Susies Hand auf seinem Arm gelegen: »Mit wem quasselst du denn schon wieder so vertraulich, da werd ich ja gaaaaanz neugierig!«

Am Vorabend des großen Drehs schritten sie alle noch mal das ausgeleuchtete Riesenwohnzimmer ab. Dort würde Jack mit Susie auf dem Ledersofa liegen, hier würde Pedro Saskia auf dem Pseudo-Jackson-Pollock-Gemälde seine »Drip-Technik« vorführen. Und dort, vor dem Kamin, würde Muskel-Hannes mit Amalia auf dem Tigerfell zugange sein, Greta, deren Neigungen Amalia vom ersten Tag an erkannt hatte, würde Hannes ablösen dürfen. Greta hatte dafür ein tief ausgeschnittenes schwarz-rotes Pailletten-Kleid gekauft bekommen, »ein ganz ähnliches hat Angelina Jolie letztens getragen«, hatte Amalia behauptet.

In der Nacht vor dem großen Dreh schlief Hannes schlecht. Wieder Herzrasen. Trotz seiner Einwände war, schien ihm, die Dosis erhöht worden. Er fiel in einen unruhigen Halbschlaf. Er sah seine Mutter vor sich, wie sie sich über die Sternkarten beugte, um herauszufinden, welche Lottozahlen sie tippen sollte. Dann sah er Greta und sich durch Kreuzberg laufen, Döner essen, im Görlitzer Park auf einer Bank sitzen, nichts tun. Pistazienschalen auf den Boden werfen. Mit entlaufenen Hunden spielen, Schwesters Hand halten, zusammen schweigen. Später: Mit Mutter den Abwasch machen. Dabei Radio hören. Lottozahlen tippen. Die Szene mit Hannes, Greta und Amalia würde die letzte des großen Drehs sein. Während Hannes Susie, Jack, Pedro und Saskia herumstöhnen hörte, machte er seine ewigen Sit-ups. Amalia vermaß noch mal seinen Bizeps. »Nicht ganz, was ich mir für heute gewünscht hätte, aber immerhin. Das neue Mittel hat noch was bewirkt.« Sie kniff ihm in die Wange. Wenn sie lächelte, sah er ihre Eckzähne. Sie trug jetzt auch diesen Totenkopf-Zahnaufkleber.

Hannes betrat den abgedunkelten Raum – nur das Kaminfeuer flackerte hell und kräftig. Vor dem Kamin schimmerte das Tigerfell. Im Hintergrund lief More Than A Woman von den Bee Gees. Danach lief ein Film ab, ein Film in seinem Kopf. Alles wie geplant, alles so oft geübt. Die Kameras zoomten dicht heran, Gänsehaut überkam ihn nur, wenn das kühle Metall einer Kamera zufällig seine Haut berührte. Amalia war da – über, neben, an ihm, wie eine zweite Haut, wie etwas, was man nicht mehr abschütteln konnte. Dann lag sie neben ihm, leicht verschwitzt. Aber nicht zu sehr. Sie nahm Medikamente gegen Schwitzen. »Stopp!«, rief plötzlich einer der Kameramänner. »Jibt’n technisches Problem, sorry, kann’n Moment dauern, ick jeh mal rüber zum Computer …«

Das Team klaubte sein Equipment zusammen und zog sich zurück. Hannes starrte in die Flammen. Rot, hellrot, gelb, orange sprangen ihn die Funken an. Vor ihm, ihm den Rücken zugewandt, stand Amalia, leise vor sich hin fluchend, weil eine Laufmasche in ihre superteuren Nylonstrümpfe gerissen war. Vor ihr knisterte das Feuer.

Hannes schloss die Augen. Dann knackte die Tür. Es war Greta in dem Angelina-Jolie-Kleid, die gedacht hatte, ihr Einsatz sei gekommen. Amalie sah nicht auf, sie untersuchte ihre Strumpfhose auf weitere Laufmaschen. Greta trat an Hannes heran. Hannes sah sie lange an, dann machte er eine Geste – und Greta verstand. Geschwister. Im nächsten Moment hielten sie ihre zitternden Hände unter Amalias Mini-Gesäß – noch ein Blickaustausch –, dann schubsten sie Amalia ins Feuer. Was für ein Fliegengewicht Amalia doch war! Sie warfen ihr noch das Fell hinterher, dann schlossen sie die Kamintür. In wenigen Sekunden würde Amalia am Rauch erstickt sein. Die Geschwister fassten sich an den Händen, dann rannten sie los.

Als sie auf dem taghellen Ku’damm standen – es war mittags –, rieben sie sich die Augen. Sie waren seit Monaten nicht mehr ohne Begleiter unterwegs gewesen. Sie blickten sich immer wieder um, ob jemand ihnen folgte. Eine gute halbe Stunde später waren sie wieder in der Waldemarstraße. Schon in der Durchfahrt stießen sie auf ihre Eltern, die gerade mit Mülleimern vom Hof kamen. Im Hintergrund hörten sie Sirenen. Doch dann schwoll das Geräusch wieder ab, die Sirenen heulten in eine andere Richtung. In der Zeitung stand ein paar Tage später etwas von einem tödlichen Unfall in einer Ku’dammwohnung. Am Tag der Rückkehr ihrer Kinder – einem Samstag – sollte Hannes’ und Gretas Mutter noch die richtigen Lottozahlen tippen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute – in den Wintermonaten in Florida.

Ein nicht ganz jugendfreies Märchen hat uns Helge Timmerberg mit »Erstauntes Blöken eselseits« beschert. Tortzdem lesen? Hier gehts lang.

Malerei: James Trimmer