Ciao, du Sau

Wir züchten Tiere, wir leben mit ihnen – und dann töten wir sie. Dass unsere Tiere alt werden, ist offenbar nicht vorgesehen. Kann das richtig sein?

Der Hund heißt Ronaldo, er ist 17 Jahre alt, in Menschenjahren wären das wohl schon über 100, früher war er mal Wachhund bei einer Firma, die pleiteging, seit fünf Jahren lebt er in dem privaten Tierheim, das der Berliner Dirk Bufé in Pankow gleich neben der Autobahn betreibt. Ronaldo liegt meistens vor dem Haus und macht sich bemerkbar, wenn jemand kommt, weniger Gebell als asthmatisch klingendes Krächzen, und wenn er sich imposant hinstellt, knicken ihm nach einer Minute vor Altersschwäche die Hinterbeine wieder weg. Sie haben ihm eine Hundehütte gebaut, mit Rotlicht, damit er es im Winter schön warm hat.

Bis auf die üblichen Alterswehwehchen geht es Ronaldo prächtig, sagt Dirk Bufé und führt die anderen Hunde vor, lauter Schadensberichte: Der da wurde ihm blutig und bis auf die Rippen abgemagert von Tierschützern aus Bulgarien gebracht. Den haben sie mit gebrochenem Lauf beim Tierheim abgegeben, als »Fundtier«, das sagen sie häufig, um nicht bezahlen zu müssen. Der da ist taub und hat keine Zähne mehr, deswegen hängt ihm die Zunge so heraus. Aber er kann immer noch halbwegs fressen. Und der da hat Alzheimer. Wie geht Alzheimer bei Hunden? Na, sagt Bufé, er vergisst, was ein Hund machen sollte, er geht zum Napf hin, wenn dort schon ein Größerer frisst, völlig furchtlos, dann muss man ihn wieder retten. Manchmal liegt einer am Morgen tot da, Herzversagen. Wenn es gar nicht mehr geht und nur noch Plackerei ist, aber nur dann, lässt er einen Hund auch einschläfern und hinterher in einer Urne begraben.

Das hier ist kein städtisches Tierheim, keine offizielle Anstalt, es ist nur der private Lebenstraum eines Mannes. Aber wie kommt ein Mann dazu, sich so selbstlos um alte Tiere zu kümmern? Vielleicht hat es mit Dirk Bufés Mutter zu tun. Er erzählt, die habe sich nie viel um ihn gekümmert, sie war Alkoholikerin. Er hat sie dennoch aus der Nervenklinik geholt, in der sie deponiert werden sollte, man hat ja nur eine Mutter. Bufé, heute 44 Jahre alt und halbtags bei der Post beschäftigt, sagt, er sei schon als Kind in Berlin-Mitte, damals noch DDR, hinter alten Damen hergeschlichen, die nachts streunende Katzen fütterten. Schließlich hielt er sich selbst welche im Keller, in der Wohnung durfte er ja nicht, dort betrank sich seine Mutter und wollte ihre Ruhe. Später kam er in ein Heim, an die Menschen, sagt er, hat er sich lang nicht recht gewöhnt, bei den Tieren hat er sich immer wohler gefühlt.

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Und für die Tiere ist er heute immer noch da. Zusammen mit seinem Ehemann unterhält Bufé in Berlin-Pankow seit fünf Jahren einen Vogelgnadenhof und ein Altenheim für Tiere: ein 1300 Quadratmeter großes Grundstück mit kleinem Häuschen, Volieren, einem Katzenhaus (zu dem der RTL-Schuldenberater Peter Zwegat seinen Gewinn aus einer Prominenten-Quizsendung beigesteuert hat), ein paar selbst errichteten Nebengebäudchen und einem Garten, in dem Hunde leben, mitten in einem Gerade-noch-Wohngebiet hart an der Autobahn. So werden die Nachbarn nicht von Tiersprache belästigt, sondern vom vertrauten Gebrause der Zivilisation beruhigt. Was Bufé aufgebaut hat, ist von den Behörden nicht genehmigt, aber sie dulden es, wie könnten sie auch nicht – wer das hier einmal gesehen hat, schämt sich für jede Unerbittlichkeit Tieren gegenüber.

Um 20 Hunde, 20 Katzen und 150 Vögel kümmert sich Bufé. Sie sollen hier ein schönes artgerechtes Alter haben statt in irgendeinem Zwinger verwahrt zu werden, wie elend das ist, weiß Bufé selbst, er hat Jahre als Ehrenamtlicher im Tierheim gearbeitet. In Bufés Reich ist es, als hätte man einen Nachfolger des Heiligen Franz von Assisi kennengelernt, man kann kaum glauben, dass so viel Frieden zwischen den Arten möglich ist. Ein Rudel steinalter, zerzauster Tiere, die sich sonnen und dann urplötzlich, wenn irgendein alter Impuls durch sie puckert, ein paar Runden miteinander tollen, als wären sie noch Welpen; Bufé, der lächelnd davor steht und eine Zigarette raucht; ein paar Ehrenamtliche, die sauber machen; und zu all dem zwitschern und krächzen die Papageien und die »Nymphies« und »Wellies«, wie er sie nennt, aus der Voliere. Der Vogel ist nicht zum Alleinsein bestimmt, sagt Bufé, er braucht Gesellschaft. Doch den Menschen interessiert das nicht, er will bloß, dass der Papagei ständig den einen Satz sagt, den er ihm beigebracht hat, dann ist er stolz. Einmal hat einer ihm weismachen wollen: Der Vogel hat Spaß, der sitzt doch den ganzen Tag vor dem Spiegel und macht Faxen, dem geht es prächtig. Aber Bufé hat gewusst: Der ist allein und schaut in den Spiegel, weil er Gesellschaft braucht, und zwar eine andere als dich, du Mensch.

Tiere, wie sie auf solchen Gnadenhöfen ihren Lebensabend verbringen, hat auch die amerikanische Fotografin Isa Leshko porträtiert, es war, erzählt sie, ihre Weise, sich mit der Alzheimer-Erkrankung ihrer Mutter auseinanderzusetzen, mit »Alter, Sterblichkeit und Verlust«. Ihre Bilder zeigen Tiere knapp vor dem Verschwinden. Marino, ein fünf Jahre alter Truthahn, der bei jedem Thanksgiving-Familiengelage knapp davongekommen ist; ein Paar Schafe, beide zwölf; Moonie, ein Pferd von 32 Jahren; oder Teresa, ein Yorkshire-Schwein, 13, obwohl Yorkshire-Schweine doch mit sechs Monaten schlachtreif sind. Es sind rührende Fotos, weil die Geschöpfe auf ihnen so schutzlos und gebrechlich sind, das Fell struppig, die Augen trüb geworden, alle Energie, die in ihnen gewesen sein mag, aus ihren Körpern entwichen. Am liebsten würde man sie alle tätscheln, füttern, zudecken, gut gemacht, alter Klepper.

Sobald man es aber geschafft hat, an seiner eigenen Rührung vorbeizusehen, fällt einem etwas anderes auf: Wie selten man solche Tiere zu Gesicht bekommt. Im Internet gibt es jede Menge Websites mit Fotos von niedlichen Welpen und süßen Katzenbabys, aber kaum welche von alten Tieren. Und in den Naturfilmen, die sich Menschen so gern ansehen, tauchen sie meistens nur auf, um die Wildnis zu illustrieren, in der wir nicht mehr leben. In ihr werden die Alten und Kranken zur Beute der Jungen und Gesunden, überall Fressfeinde, die kein Erbarmen mit den Schwachen kennen. Wenn sich der Löwe die betagte Antilopenkuh reißt, zoomt der Kameramann gleich noch näher, er, der Angehörige einer Spezies, die auf ihre Gefühligkeit so stolz ist.

Dabei ist der größte Fressfeind der Tiere der Mensch. Lange Zeit wurden männliche Küken gleich nach dem Schlüpfen umgebracht, weil sie keine Eier legen, heute werden sie immerhin ein paar Tage gemästet und dann zu Brathähnchen verarbeitet. Rinder, Schweine, Lämmer werden sowieso nur geboren, um bald wieder umgebracht zu werden. Die UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO schätzt, dass in der Landwirtschaft weltweit jährlich um die 56 Milliarden Tiere getötet werden, das Achtfache der menschlichen Weltbevölkerung. Alt werden die Tiere, die der Mensch zähmt, bloß, wenn er sie verschont. Zur Artenarroganz des Menschen, wie es der britische Psychologe Richard D. Ryder nennt, gehört auch, dass er sich jeden Tag entscheiden kann, ob das Kaninchen Familienmitglied oder Abendessen sein soll, und oft genug findet sein steinernes Herz nichts daran, sich für beides zu entscheiden. »Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen«, heißt es im Deutschen Tierschutzgesetz; ganz offensichtlich aber lässt sich die Vernunft in Abermillionen Fällen in Anspruch nehmen, um Tiere zu töten.

Lang leben dürfen nur unsere Haustiere.

Lang leben dürfen nur die, deren Nutzen darin besteht, uns warme Gefühle zu schenken, weit weg von den Fabriken des tierindustriellen Komplexes. Im Zoo zum Beispiel, der die Wildnis zwar gefangen nimmt, aber, so heißt es, nur zu ihrem eigenen Besten und zum Artenschutz. Fatou, die Gorilladame im Berliner Zoo, ist mittlerweile auch schon eine Mittfünfzigerin, zwei Jahrzehnte älter, als Gorillaweibchen in freier Wildbahn werden. Im Bostoner New England Aquarium ist Mitte Mai die Robbe Smoke 40 geworden und führt immer noch Tänzchen vor. Wenn es ein Tier besonders lange geschafft hat, in Gefangenschaft zu überleben, bekommt es im Ablebensfall Nachrufe in der Weltpresse oder sogar Wikipedia-Einträge. Eben erst ist in einem Zoo in der chinesischen Provinz Guangdong mit 34 Ming Ming an Altersschwäche und Nierenversagen gestorben, der Welt ältester Pandabär. Und im Juni jährt sich zum fünften Mal der Todestag Harriets, einer Schildkröte, der nachgesagt wurde, sie sei 1835 von Charles Darwin auf den Galapágos-Inseln gefangen genommen worden. 2006 starb sie in einem australischen Zoo, 175 Jahre alt, die drittälteste Schildkröte, von der die Chroniken zu berichten wissen.

Auch den Tieren, die ihm noch näher ans Herz gehen als jene im Zoo, gönnt der Mensch ein langes Leben. Fische nicht mitgezählt, gibt es 22,3 Millionen Haustiere in Deutschland, ein Viertel von ihnen in Ein-Personen-Haushalten. Über 3,7 Milliarden Euro gaben die Deutschen im vergangenen Jahr für Heimtierbedarf aus. Hunde und Katzen sind längst so etwas wie Familienmitglieder geworden, »Pelzbabys«, wie sie der amerikanische Autor Michael Schaffer nennt, von dem auch die leicht beunruhigende Auskunft stammt, dass sich in den USA 83 Prozent der Besitzer von Heimtieren als deren »Mummies« und »Daddies« verstehen. Aber es ist ja was dran: Denn unsere Haustiere, die ihre eigenen Lebensgeschichten nicht erzählen können, begleiten unsere Biografien, oft länger als menschliche Gefährten. Sie sind bei Umzügen dabei, bei Beziehungskrächen und bei Trennungen, und immer, wenn die Menschenseele Not leidet, halten sie ihr Fell hin, es fühlt sich wie Zuwendung an. Nur in der Urlaubszeit müssen sie dann und wann doch zurückbleiben, drei Wochen im Zwinger verkraften sie schon. Tiere, so reden es sich viele ein, kennen nicht die Trauer von Menschen, haben kein Gedächtnis, man sagt ihnen immer genau das nach, was einem selbst am Besten tut.

Ihre Altersbeschwerden gleichen häufig den Verschleißerscheinungen ihrer Besitzer: Die Spannkraft lässt nach, die Gelenke tun weh, die Temperaturempfindlichkeit nimmt zu, die Augen trüben ein, die Zähne fallen aus, die Blase wird undicht. Nicht schön, aber der Markt hat gegen solche Wehwehchen erstaunlich viel aufzubieten. Akupunktur bewirkt auch bei müden Hunden wahre Wunder, probiotische Nahrung reguliert die Verdauung, Aufbaupräparate und Wellness-Spaziergänge bringen verlorene Vitalität zurück. Manche lassen auch die Tumore ihrer krebskranken Lieblinge bestrahlen. Und für jene, die wirklich kaum mehr humpeln können, gäbe es auch künstliche Hüftgelenke oder maßgefertigte Rollhilfen. Über all das, die kleinen Mädchen und die alten Damen mit ihrem Tierfimmel, machen sich Zeitgenossen, die sich für aufgeklärt halten, nur zu gern lustig. Aber was ist moralischer? Den altersschwachen Hund, der nicht mehr laufen kann, in der Handtasche mitzuschleppen? Oder ihn einschläfern zu lassen oder im Tierheim abzugeben, weil’s angeblich nicht mehr geht?

Der amerikanische Krimi-Autor Kinky Friedman, ein nachweislich cooler Hund, weit entfernt von jedem Rührseligkeitskitsch, hat diese Fragen für sich entschieden. 1998 gründete er im texanischen Medina die Utopia Animal Rescue Ranch, einen Platz, sagt er, »an dem nie und niemand je getötet wird, eine Zuflucht für streunende und ausgesetzte Tiere«. Der Grund dafür: Er habe etwas dagegen, wenn Tiere vor der Zeit sterben müssen, die ihnen beschieden ist, das sei für ihn ein Gebot der Menschlichkeit.

So ähnlich hat es auch Dirk Bufé gesagt, der merkwürdige Halbtags-Postler in seinem Tier-Altersheim an der Autobahn. Er könne ganz einfach nicht einsehen, dass man Tiere, wenn sie nicht mehr jung und stark und bequem sind, einfach im Tierheim abliefert und sich ein neues anschafft. Was sagt es über uns Menschen, dass sich dieser Satz kein bisschen nach einer Selbstverständlichkeit anhört?

Hier geht's zur Webseite der Fotografin Isa Leshko.

Foto: Isa Leshko