»Mein Traum ist es, dass Bildung ein Menschenrecht wird«

Vielleicht sind Filme einfach besser als klassischer Unterricht: Der Amerikaner Salman Khan gibt Nachhilfe auf Youtube – und Tausende von Kindern tun sich mit dem Lernen plötzlich leichter. Die Idee könnte auch unser Schulsystem auf den Kopf stellen.

SZ-Magazin: Herr Khan, Sie stellen simple Lehrfilme ins Internet und bekommen dafür enthusiastische Dankesbriefe. Beispielsweise schreibt ein Junge namens Taylor auf Ihrer Homepage: »Ich bin ein Schüler mit Lernschwächen in Mathe und Physik. Salman Khan hat meine Noten und mein Leben verändert.« Können Sie uns das erklären?
Salman Khan: Im traditionellen Schulsystem lernen alle Kinder im gleichen Tempo. Manche sind davon gelangweilt, weil es ihnen nicht schnell genug geht, andere gehen verloren. Sie haben Wissenslücken und müssen trotzdem die nächsten Schritte irgendwie mitmachen, obwohl sie eigentlich unmöglich folgen können. Das führt dazu, dass die Kinder schlechte Noten bekommen, sich minderwertig fühlen und ganze Familien gestresst sind. Mit der Khan-Akademie können sie sich den gesamten Schulstoff in allen Fächern selbst erarbeiten und da wieder anknüpfen, wo sie ihre Lücken haben.

Warum sollen die Schüler bei Ihnen verstehen, was sie sonst nicht verstehen?
Die Schüler können die Videos so oft anschauen, wie sie wollen, ganz ohne Druck, auch ohne Zeitdruck. Dass jemand langsamer ist, bedeutet ja nicht, dass er dümmer ist – er braucht einfach nur länger. Zusätzlich zu den Filmen bietet die Khan-Akademie Übungen an, mit denen jeder sein Wissen vertiefen und die Fortschritte kontrollieren kann.

Nicht jeder Schüler ist lernwütig. Vielleicht wollen es manche gar nicht so genau wissen?
Ich bin davon überzeugt, dass jeder Mensch lernen möchte. Und es steigert die Motivation enorm, wenn Sie plötzlich etwas verstehen, was Ihnen lange völlig unklar war. Das Standard-Schulwissen kann sich jeder aneignen, das sagen meine Mitarbeiter und ich auch den Schülern: Du hast keine Eins? Es gibt keinen Grund, es nicht zu schaffen. So gesehen, haben wir viel höhere Ansprüche als das konventionelle Schulsystem, wo es oft reicht, wenn ein Schüler den Stoff halbwegs verstanden hat. Aber selbst wenn du 95 Prozent verstanden hast, bleibt da eine Lücke von fünf Prozent, und was ist mit diesen fünf Prozent? Sie machen es dir schwer, weiter aufzubauen.

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Dennoch: Sie sind ein Lehrer, den man nicht anfassen kann, man sieht Sie nicht einmal, sondern hört lediglich Ihre Stimme. Sie können die Schüler weder trösten noch aufmuntern. Dabei weiß man, dass emotionale Bindungen fürs Lernen wichtig sind.
Es entstehen durchaus Bindungen. Denken Sie daran, welche Bedeutung Bücher für einen Menschen haben können, durch die Art, wie die Welt beschrieben wird, den besonderen Humor – und das ist geschriebener Text. Viele sagen, dass meine Stimme ihnen das Gefühl gibt, als würde da jemand neben ihnen sitzen. Ich glaube auch, dass es ablenken würde, wenn ich selbst im Bild wäre. Also drücke ich die Aufnahmetaste und lege los. Ich muss mich nicht mal rasieren, nicht kämmen, es ist egal, ob ich Spinat zwischen den Zähnen habe.

Sie betreiben auch keinen großen Aufwand in Bezug auf aufwendige Animationen oder Grafiken. Stattdessen sieht man stets dieselbe schwarze Tafel, auf die Sie mit bunten Farben schreiben. Warum?
Sie haben recht, die Videos wirken sehr hausgemacht. Die Qualität liegt im Konzept: Ich diskutiere ein Problem im Plauderton und erarbeite die Lösung in Echtzeit und nehme die Zuschauer dabei mit. Ich denke gewissermaßen laut, gestatte mir, Fehler zu machen, die ich dann korrigiere, und wenn ich etwas lustig finde, lache ich. All das darf vorkommen. Die Leute mögen das.

Aber das Zeug zum Lieblingslehrer hat eine Stimme aus dem Off nicht, oder?
Man wird sehen, was später in Erinnerung bleibt. Ich versuche, mit den Schülern auf Augenhöhe und mit Respekt zu sprechen, egal, ob ich erkläre, warum eins plus eins zwei ist oder ob es um Vektorrechnung geht. Ich selbst mochte das als Kind immer sehr.

Sie haben in den letzten Jahren eine Menge Daten über Ihre Schüler gesammelt. Was können Sie über sie sagen?

Siebzig Prozent kommen aus den USA, zwei Drittel sind Jungen, ein Drittel Mädchen. Die meisten besuchen die Highschool oder das College, aber die Khan-Akademie hat auch weitaus ältere Besucher, 60-, 70- oder 80-Jährige, die einfach neugierig sind und zum Beispiel ein bisschen mehr über die Französische Revolution erfahren wollen oder über schwarze Löcher.

2006 haben Sie das allererste Video ins Netz gestellt. Wie kam es dazu?
Meine Cousine Nadia hatte Schwierigkeiten mit Algebra, und wir verabredeten uns zum Lernen. Ich lebte damals in Boston und sie in New Orleans, und so hielten wir die Stunden am Telefon oder über Internet-Konferenzen ab. Das funktionierte so gut, dass mich bald weitere Familienmitglieder um Unterstützung baten. Ich arbeitete damals noch als Hedge-Fonds-Analyst und bekam nun echte Zeitprobleme. So kam ich auf die Idee, die Lektionen aufzunehmen und auf Youtube zu stellen.

Wie waren die Reaktionen?
Meine Cousine erklärte, dass sie mich auf Video lieber mag. Ich denke, dass der Stress deutlich geringer war. Sie konnte Pausen machen oder die Filme beliebig wiederholen. Und plötzlich schauten sich auch fremde Menschen die Filme an und schickten mir Kommentare, die mich sehr berührten. Letztlich gaben solche Briefe den Anstoß dafür, dass ich 2009 meinen Job kündigte und mich ganz auf die Khan-Akademie konzentrierte.

Sie lebten inzwischen im Silicon Valley, und Ihre Karriere lief glänzend an. Nun verzichteten Sie darauf zugunsten einer damals noch kleinen, gemeinnützigen Organisation. Eine schwere Entscheidung?
Mir hat meine Arbeit immer Spaß gemacht, aber was ich da tat, machte zehnmal mehr Spaß. Mein Ziel war es immer, so viel Geld zu verdienen, dass ich einmal meine eigene Schule eröffnen kann, allerdings keine klassische Schule, sondern eine nach meinen eigenen Vorstellungen. Nun war mein Wunsch plötzlich viel früher und auf einem überraschenden Weg wahr geworden.

Wie viele Leute haben Ihnen abgeraten?
Wenn du etwas Unkonventionelles tust, wollen dich die Leute oft bremsen. Auch bei meiner Frau waren Ängste da – verständlicherweise: In den ersten neun Monaten lebten wir von unseren Ersparnissen. Aber sie hat mich von Anfang an unterstützt, und heute ist sie sehr froh.

Inzwischen haben Sie prominente Förderer: Google und vor allem die Gates Foundation haben Sie mit Millionenspenden unterstützt.

Das macht es natürlich viel einfacher. Aber auch viele Leute im Silicon Valley können nachvollziehen, was ich tue. Ich glaube, dass die meisten Menschen hier Geld als Indiz dafür sehen, wie viel sie in der Welt bewirken. Die Khan-Akademie war bereits nach kurzer Zeit bekannter als so manches andere erfolgreiche Start-up-Unternehmen.

Inzwischen stellen Sie über 3400 Videos kostenlos zur Verfügung, und Sie haben pro Monat sechs Millionen Besucher. Auch die deutschen Schüler können sich freuen: Derzeit werden die Videos in andere Sprachen übersetzt, und mittlerweile soll ein Großteil der Inhalte auch mit deutscher Synchronstimme angeboten werden. Wie kommen Sie voran?
Es sind hauptsächlich ehrenamtliche Mitarbeiter, die diese Aufgabe dankenswerterweise übernehmen; wir könnten da durchaus noch Verstärkung gebrauchen. Wer Interesse hat, soll gern ein paar Videos übersetzen und sie uns zuschicken. In einem zweiten Schritt wollen wir dann auch die gesamte Homepage in andere Sprachen übersetzen, aber das wird sicher noch ein Jahr dauern.


Beginn einer Revolution

Nicht alle Inhalte sind so universell wie Mathematik. Wenn ein Kind aus München zum Beispiel Informationen zum Oktoberfest oder zur Frauenkirche sucht, wird es bei Ihnen nichts finden.
Die Übersetzungen sind ja auch nur ein Anfang. Noch besser wäre es, wenn gleich eigene Videos in der jeweiligen Sprache entstehen würden. Ich kann mir vorstellen, dass wir in fünf bis zehn Jahren nahezu unabhängige Organisationen in den jeweiligen Regionen haben, die auch die dort relevanten Inhalte mit aufnehmen. Ich persönlich würde das am liebsten auch alles wissen.

Es muss doch auch Dinge geben, die Sie langweilig finden?
Ganz ehrlich, ich finde das alles spannend. Ich glaube auch, dass nur ein Lehrer, der selbst begeistert ist, seine Schüler begeistern kann.

Laut einer 2011 von der OECD veröffentlichten Publikation müssen sich an deutschen Schulen elf Schüler einen Computer teilen, womit Deutschland im internationalen Vergleich ziemlich weit hinten steht. Andere Studien haben außerdem ergeben, dass Computer in vielen Klassenzimmern nur herumstehen.
Das hat mit Gewohnheiten zu tun und sicher auch mit Angst. Das Internet ist immer noch ein sehr neues Instrument, und berechtigterweise fragen viele Lehrer, was sie denn überhaupt damit anfangen sollen. Nun – zumindest gibt es jetzt die Khan-Akademie …

Sie arbeiten ja in den USA bereits mit Schulen zusammen. Wie sind die Reaktionen?
Wir machen gute Erfahrungen; in den allermeisten Fällen sind die Lehrer wirklich froh über so ein kraftvolles Werkzeug. Ein Lehrer sagte mir, dass er sich mittlerweile wie der Dirigent eines Orchesters fühle. Er selbst hat mehr Freiheiten, und die Schüler haben sie auch.

Kommt es nicht auch vor, dass Lehrer die Khan-Akademie nutzen, um die alten Strukturen zu erhalten?
Das haben wir auch schon erlebt. Ich wurde zum Beispiel gefragt, ob wir nicht Einschränkungen machen können, damit die Schüler nicht zu weit vor und nicht zurückgehen. Ich habe natürlich »Nein« gesagt – das ist ja gerade die Idee, dass jeder individuell lernt. Wir möchten jedem die Chance geben, die beste Version seiner selbst zu werden – und eben nicht im Vergleich mit den Banknachbarn.

Auch Bill Gates und seine Kinder lernen mit der Khan-Akademie. Der Microsoft-Gründer bezeichnet die Khan-Akademie sogar als »Beginn einer Revolution«. Übertreibt er?

Ich glaube, dass wir tatsächlich an einem Wendepunkt stehen. Mein Traum ist es, dass Bildung ein Menschenrecht wird, nicht nur auf dem Papier, sondern in der Realität. Auch die Schulen werden sich ändern. Wenn sich die Kinder mit Plattformen wie der Khan-Akademie selbst den Stoff beibringen, hat das gravierende Auswirkungen: Es macht dann keinen Sinn mehr, Kinder in Altersklassen zu unterteilen, da ja ohnehin jeder in seinem Tempo lernt. Ich finde auch die Einteilung in Grundschule, weiterführende Schule und College äußerst künstlich. In der Schule wird der Lehrer mehr Zeit haben, auf Probleme einzugehen, oder die Schüler helfen sich gegenseitig.

Was ist mit Ländern in Afrika oder auch Asien, wo noch längst nicht jeder Zugang zu einem Computer hat?
Das ist tatsächlich ein Problem. Aber ich hoffe und glaube, dass auch hier die Entwicklung schnell voranschreiten wird und dieses Thema in fünf bis zehn Jahren erledigt sein wird.

Wenn Sie von »umfassender Bildung für alle« sprechen, müssten Sie auch Ihre Bildungsinhalte erweitern. Bislang unterrichtet die Khan-Akademie hauptsächlich den klassischen Schulstoff, obwohl die Welt viel bunter ist.
Ich glaube, dass es im Moment noch nötig ist, die klassischen Fächer anzubieten, weil wir die Schüler stärken möchten. Aber so langsam erreichen wir die kritische Masse und können gezielt eigene Inhalte setzen. In der Schule wird zum Beispiel im Fach Wirtschaft nicht über die griechische Finanzkrise gesprochen – wir tun das. Wir haben auch eine komplette Reihe über Kosmologie oder über Computerkunde – das wird an keiner Grundschule unterrichtet. Oder wir stellen die Religionen vor – sehr sachlich und wertfrei. Ich finde auch, dass jeder Mensch das Wissen eines Jurastudenten nach dem ersten Semester haben sollte.

Trotzdem fehlt etwas: In Ihren Filmen können wir erfahren, wie ein Stern entsteht, wie die Fotosynthese abläuft oder wie die Bilder Picassos einzuordnen sind. Aber das ist doch etwas ganz anderes, als selbst den Sternenhimmel in der Nacht zu betrachten oder selbst etwas zu pflanzen oder ein Bild zu malen, finden Sie nicht?
Absolut. Wenn ich an eine Schule für meine eigenen Kinder denke, ist das auch ganz klar ein physischer Ort und kein virtueller. Aber die Schule wird sich grundsätzlich von der unterscheiden, die ich besucht habe und Sie vermutlich auch … wo man in einem Raum sitzt, der Lehrer spricht, man macht Notizen, schaut auf die Uhr … Stattdessen glaube ich, dass sich die Kinder in Zukunft einen Großteil des Stoffes mit Hilfe von Plattformen wie der Khan-Akademie selbst beibringen und es in der Schule nur noch um genau diese Dinge geht: Roboter bauen, Feuer machen, Bilder malen, mit Freunden diskutieren, zusammen spielen …

Glauben Sie wirklich, dass solche Schulen kommen werden? Bisher verhält sich das traditionelle Schulsystem ungeheuer starr gegenüber Veränderungen.
Es ist immer schwer, große Systeme zu verändern. Aber mit den Methoden, die wir jetzt haben, ist es möglich, dass die Kinder nicht mehr durch dieses System gehen müssen, sondern einen Weg daran vorbei finden. Für meine Kinder wünsche ich mir das auf jeden Fall.

Sind Sie sicher, dass die Kinder sich dann wirklich noch mit Mathe und Physik beschäftigen würden?
Aber ja, das müssen sie ja, wenn sie zum Beispiel einen Roboter bauen wollen. Genau das macht uns Menschen doch aus, dass wir die Welt um uns herum verstehen wollen.

Wie müssten die neuen Schulen also aussehen?
Wichtig ist, dass die Kinder weiterhin einen Ort haben, an dem sie zusammenkommen, ihre Freunde treffen können. Wie dieser Ort aussieht, wird sich zeigen; vielleicht wie eine Kombination aus Museum, Bibliothek, Labor und Werkstatt. Es wird in diesen Schulen darum gehen, wirklich tiefe Erfahrungen zu machen und als Mensch zu reifen.

Salman Khan
Wer im Netz nach Salman Khan sucht, stößt zuerst auf den bekannten Bollywood-Schauspieler. Auch Salman Khan, der Internetpädagoge, hat indische Wurzeln. Geboren 1976 in New Orleans, erwarb er mehrere akademische Abschlüsse, unter anderem einen MBA der Harvard Business School, und arbeitete dann als Hedge-Fonds-Analyst, bis er sich ganz auf die Khan-Akademie konzentrierte. Heute lebt er in Kalifornien, zusammen mit seiner Frau, einer Fachärztin für Rheuma, die von ihrem Mann regelmäßig gelöchert wird, wenn es um medizinische Themen geht. Sie haben einen Sohn und eine Tochter. Einer großen Öffentlichkeit bekannt wurde Khan 2008: Damals erklärte er den Zuschauern live im Nachrichtenkanal CNN, wie Immobilienspekulationen zur nationalen Finanzkrise führen konnten.

Foto: Ron Seidenglanz