Bilder einer Einstellung

Wer sich nachgemachte Klassiker ins Wohnzimmer hängt, hat keinen Stil? Diese Meinung gehört ins Museum. Ein Lob der Kopie.

Riskieren Sie es mal, bei einem Abendessen mit Menschen in Grünwald oder Hamburg-Blankenese zu erzählen, Sie hätten sich eine Reproduktion von van Goghs Roten Weinbergen bei Arles über den Schreibtisch gehängt: Sie liebten das Bild, und der Weg nach Moskau ins Puschkin-Museum sei doch ein bisschen weit.

Was werden Sie erleben? Einige in der Runde werden verstohlen lachen – andere Sie belehren: Reproduktionen, die seien was für Leute, die sich eine Reise nach Moskau nicht leisten könnten, Studenten zum Beispiel, für Arme also und Banausen. Der wahre Kunstfreund halte sich ans Original, ans Echte eben, seine Aura, die Begegnung mit dem Pinselstrich.

Sie kennen das alles aus gehobenen Feuilletons, sagen Sie, und Museumsdirektoren müssten ja so reden, aber fällt denn keinem auf, dass die heftigsten Prediger der Einzigartigkeit jene Kunsthändler und Auktionshäuser sind, die mit Originalen Millionen verdienen? Immerhin, da stutzen einige. Und Sie drohen einfach an, beim nächsten gemeinsamen Abendessen würden Sie »das Original als solches« vollständig zersäbeln.
Sie informieren sich also und könnten beispielsweise so beginnen: Ich habe zwei Ohrfeigen mitgebracht. Die erste: In der bildenden Kunst kann der Experte die nahezu perfekten Reproduktionen von heute erst aus der Nähe, der Laie meist überhaupt nicht vom Original unterscheiden – und wenn, beeindruckt ihn das nicht. Stört es denn die Hunderttausende, die in Florenz auf der Piazza della Signoria den David bewundern, dass sie mit einer Kopie vorliebnehmen müssen? Sie ist 1910 entstanden, um das Monumentalwerk des Michelangelo vor weiterer Verschmutzung zu schützen (es steht im Museum) – und zwar dadurch, dass ein Bildhauer einen Gipsabdruck vom Original mit einem Punktiergerät abtastete und es zentimetergenau in Marmor nachformte. Auf der Piazzale Michelangelo steht sogar ein dritter David, in Bronze!

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Und damit bin ich bei der zweiten Ohrfeige: Was ist denn das überhaupt, ein »Original«? Findet der Bronzeguss nämlich im Auftrag des Künstlers statt, so haben auch mehrere Exemplare »den Rang des Originals«, sagt der Brockhaus.
Die sogenannten Originalgrafiken werden sogar im Dutzend gehandelt – und falls sie vom Künstler signiert sind, bekommen wir es flugs mit zwanzig oder dreißig »Originalen« zu tun. Hat Andy Warhol mit seinen Siebdrucken, von Konservendosen bis zur Mona Lisa, nicht aus der Serienproduktion ein in der Branche akzeptiertes Geschäftsmodell gemacht? Und könnt ihr mir mal erklären, was in der Musik das Original sein soll: die Partitur – oder die hundert Arten, wie die Orchester sie zum Klingen bringen? In den anderen Künsten wird um das Original nicht so viel Gewese gemacht. In der Literatur wollen wir doch gar nicht erst mit ihm behelligt werden: Wer liest schon tausend Seiten Handschrift von Thomas Mann?

Aber nun der Hammer: Das Original kann uns geradezu erschrecken! So geschehen 1988. Da war das Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle, Michelangelos Erschaffung Adams, acht Jahre lang mit höchster Akribie restauriert worden – und die Farben traten mit einer Frische, ja mit einer Bilderbuch-Buntheit hervor, die viele Kunstfreunde verstörte; die Patina hatten sie als echter empfunden. Die »Aura« war futsch!

Müssen wir ihr nachtrauern, wenn sie uns neuerdings ausdrücklich vorenthalten wird? Seit 1879 in der Höhle von Altamira an der Nordküste Spaniens die fantastischen Deckenmalereien aus der Steinzeit entdeckt worden sind, haben die Ausdünstungen der allzu vielen Besucher die Gemälde schon so beschädigt, dass die Höhle 1979 für alle Neugierigen gesperrt worden ist. In dem nahen Städtchen Santillana del Mar können wir die exakten Nachbildungen bewundern – nicht mit krummem Rücken und in ungleich besserem Licht. »Die Frage ›Kopie oder Original‹ ist im Zweifelsfall dem Publikum egal«, resümierte der Kunstkritiker Reinhard J. Brembeck 2007 in der Süddeutschen Zeitung.

Für Museen, Galerien, Kunsthändler war das natürlich eine schlimme Entwicklung. Für die Lebenden unter den Künstlern auch. Sie hat ja noch die beiden Zeitströmungen verstärkt, die seit dem 19. Jahrhundert die soziale Geltung der Maler dramatisch vermindert haben: Gott, Jesus und Maria sind längst tausendfach gemalt und ihre Anbeter weniger geworden; die Fotografie hat die Alleinstellung des Porträts zerstört, für das Päpsten, Kardinälen, Fürsten, Patriziern einst nichts zu teuer gewesen war.
Schon gar nicht mehr gibt es Aufträge wie den, den Maria von Medici 1621 dem Peter Paul Rubens erteilte: die Geschichte ihres Lebens in 21 Bildern! Auf ebenso viele kolossale Leinwände hat Rubens den Zyklus gedonnert, im Louvre wollen sie abgeschritten sein. Und störte es damals irgend-jemand, dass Rubens selbstverständlich eine Schar von Gehilfen und Schülern hinzugezogen hatte?

Heute braucht die Malerei zum Überleben ihre Prediger. Sie tun das Äußerste, um »die emotionalen Qualitäten des Originals« herauszustreichen, das Zeitkolorit, das Fluidum, die Unwiederholbarkeit. Für die 107 Millionen Dollar, die das Auktionshaus Sotheby’s im Mai für den Schrei des Edvard Munch erzielte, konnte man schon mal in die Tasten greifen: Originale sind ganz unbeschreiblich wichtig, und wer sich mit einer Reproduktion begnügt, ist ein Ignorant.

Aber die Vernunft bricht sich Bahn. Über kunstsammelnde Milliardäre wie den Käufer des Schreis schrieb die SZ vor Kurzem, sie hätten »die Preise am Kunstmarkt in absurde Höhen getrieben. Oft entspringt die Begeisterung für Kunst einem nüchternen Kalkül: Wer teure Werke kauft, verschafft sich Anerkennung in den feinsten Kreisen der Gesellschaft«. Da liegt der Hund begraben.

Wenn aber das Original wirklich so unglaublich viel wert wäre: Müssten wir alle – müsste die Weltgemeinschaft der Kunstfreunde sich nicht dagegen empören, dass ein Einzelner den Schrei herrisch an sich reißen durfte und ihn wegschließt für immer? Sollten wir uns nicht geradezu bemühen, die Stimmung umzudrehen – also zu verkünden: Schön, dass die Technik das Original fast entbehrlich gemacht hat! Genießen wir sie, diese prachtvollen Reproduktionen. Muss es denn dabei bleiben, dass die mehr als 800 Werke van Goghs auf sage und schreibe 171 Museen in allen Kontinenten verteilt sind? Wer soll die alle besuchen? Ich wünsche mir das eine Van-Gogh-Museum mit Reproduktionen seiner sämtlichen Bilder! Handle, Unesco!
Auslachen würde Sie da keiner mehr. 

Foto: Marek Vogel