Hinter den Zeilen

Spazieren gehen und sich einmal im Leben wie Rilke fühlen: Das geht nirgends besser als genau da, wo der Dichter sein größtes Werk begonnen hat.

Meine Traumreise dauert eigentlich nur knapp mehr als eine Stunde: Mehr Zeit braucht es nicht, um den Rilke-Weg in Duino entlangzulaufen, gleich bei Triest. Es ist nur ein Spaziergang, zwei Kilometer über einen schmalen Trampelpfad. Hier, auf dem Schloss Duino, hat Rainer Maria Rilke angefangen, seine Duineser Elegien zu schreiben. Das Buch fasziniert mich, seit ich 18 war. Und genauso lange nehme ich mir vor, diesen Spazierpfad einmal selbst zu gehen und dabei Rilke zu lesen. Vielleicht verstehe ich das Buch dann ja besser. Denn sooft ich es lese, so viel Gänsehaut es mir schon bereitet hat – worum es in dem Gedichtzyklus genau geht, weiß ich bis heute nicht.

»Die Duineser Elegien versteht man nie ganz, und vielleicht soll man das auch gar nicht«, hat mir Christoph Ulmer vor ein paar Stunden bei einem Kaffee erklärt. Der Kunsthistoriker kennt Rilkes Werk genau, oft geht er selbst mit Reisegruppen über den Pfad und diskutiert mit ihnen über die Duineser Elegien. Sein Tipp: Man müsse sich diesen Text vorlesen lassen, die Buchstaben würden dadurch lebendig – wie bei Musikern die Noten.

Also gut. Ich lade mir das Hörbuch auf mein iPhone, gelesen von Hans Peter Hallwachs, eine Stunde, 13 Minuten. Gegen 18 Uhr drücke ich auf Play. »Wer, wenn ich schrie, hörte mich denn, aus der Engel Ordnungen?« Rilke schreibt in den zehn Elegien über Leid und Tod, Liebe und Leben, assoziativ und ohne die Spur einer zusammenhängenden Handlung.

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Hin und wieder begegnen mir andere Spaziergänger oder Touristen, die gerade vom Strand kommen. Die meisten genießen nur den Ausblick und die Karstlandschaft, sie interessieren sich nicht für Rilke. Überhaupt nimmt das Interesse an Rilkes Zeit in Duino eher ab, hat Christoph Ulmer erzählt. Zudem ist fraglich, ob der Dichter jemals genau hier spazieren ging. Trotzdem: Der Weg passt perfekt zu dem Gedicht. Er ist nicht anstrengend, hat aber etwas Wildes, Verwuchertes. Mal führt er direkt an den Klippen entlang, mal durch dichte Kiefernwälder. Besonders sehenswert ist das im Herbst, die italienische Zentrale für Tourismus spricht von einem europäischen »Indian Summer« – zu Recht.

Ich stehe an einem Felsvorsprung über einem Abhang, der wie ein Balkon über die Klippen ragt. Gleich geht die Sonne unter. Ich sehe links nach Triest, rechts nach Duino – der Blick ist wunderschön. Wie als Kommentar dazu liest der Sprecher: »Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen. Und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören.«

Als es gerade dunkel wird, höre ich die Stelle in der zehnten und letzten Elegie, die ich seit zehn Jahren auswendig kann. Sie beginnt mit den Worten »Wir, Vergeuder der Schmerzen«. Ich bin am Schloss Duino angekommen. Der Weg dauert etwa so lange wie die Lesung. Eigentlich wollte ich mit dem Taxi zurück ins Hotel fahren. Nun gehe ich den Weg im Dunkeln zurück. Ich kann nicht einmal sagen, ob ich das Gedicht jetzt besser verstehe als vorher. Aber ich habe mir vorgenommen, es erst dann wieder zu lesen, wenn ich hierher zurückkomme.

Die Bar »Rifugio Rilke« direkt am Weg ist für einen Snack gut, Abendessen besser in der Osteria »Tre Noci«, östlich des Pfades im Ort Sistiana.