Die Gewissensfrage

Muss man einen guten Freund bei sich übernachten lassen, auch wenn der für ein Bauprojekt arbeitet, das man selbst energisch ablehnt?

»Ein guter Freund wohnt ab und zu bei mir, wenn er in der Stadt zu tun hat. Nun hat er sich wieder angemeldet. Er hat einen Auftrag für ein großes, umstrittenes Bauprojekt in Stuttgart. Ich bin engagierter Gegner dieses Projekts. Kann ich deshalb sein Gesuch, bei mir zu übernachten, ablehnen?« Frank W., Esslingen

Zu den klassischen Quellen für moralische Abwägungen gehören steuerrechtliche Bestimmungen wohl nicht, aber hier könnten sie helfen: Gesetzt den Fall, Sie verweigern Ihrem Freund die Herberge und er muss im Hotel übernachten, dann könnte er zweifelsohne die Rechnung steuerlich geltend machen – als sogenannte »Betriebsausgaben«. Ein Beleg somit nicht nur fürs Finanzamt, sondern auch für Sie: Die Übernachtung dient seinen Geschäften, und Sie unterstützen, wenn Ihr Freund bei Ihnen wohnt, tatsächlich das missliebige Großprojekt.

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Dem steht die Freundschaft gegenüber, und man könnte argumentieren, Sie laden doch nicht den Geschäftsmann zu sich ins Haus, sondern Ihren guten Freund. Bauhelm und Gummistiefel bleiben draußen. Nur: Kann man das so trennen? Und wenn nicht, was überwiegt: Ihre Ablehnung des Bauprojekts oder die Freundschaft?

Eine Antwort findet sich, wie so oft, bei Aristoteles. Er unterschied zwischen zwei ver-
schiedenen Arten der Freundschaft: Bei der Freundschaft aus Lust oder Nutzen mag man den Freund nicht, »insofern er diese Person ist«, sondern »insofern er nützlich oder angenehm ist«. Anders bei der sogenannten Tugendfreundschaft: »Jene aber, die den Freunden das Gute wünschen um der Freunde willen, sind im eigentlichen Sinne Freunde.« Wendet man das auf Ihren Fall an, sieht man sehr schnell: Wenn Sie mit Ihrem Freund eine echte oder Tugendfreundschaft verbindet, mögen Sie ihn und wollen ihn auch bei sich haben – als die Person, die er ist, selbst wenn er für das verhasste Projekt ar-beitet. Die Freundschaft gilt dem Menschen selbst und steht über seiner Berufstätigkeit. Können Sie das nicht voneinander trennen, ist es keine echte tiefe Freundschaft im Sinne Aristoteles’. Und dann müssen Sie ihretwegen auch nicht über Ihren Schatten springen und den ungeliebten Betonierer beherbergen.

Quellen:

Einkommenssteuergesetz (EStG) § 4 Gewinnbegriff im Allgemeinen
...
(4) Betriebsausgaben sind die Aufwendungen, die durch den Betrieb veranlasst sind.

Aristoteles, Nikomachische Ethik, Achtes Buch, 3. 1156a 6ff. insbesondere 14ff. und 1156b 6ff.
Eine gute Übersetzungen gibt es von Olof Gigon bei dtv, München 1991 und von Ursula Wolff bei rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2006

Lesenswert zum Thema Freundschaft: Klaus-Dieter Eichler (Hrsg.), Philosophie der Freundschaft, Reclam Verlag Leipzig 1999

Illustration: Serge Bloch