Die Gewissensfrage

Kann man einen Rechtsextremisten lieben, ohne seine politischen Ansichten zu teilen?

»Meine beste Freundin ist mit einem Mann liiert, der sehr aktiv in einer rechtsextremen Partei ist. Sie toleriert seine politische Arbeit, distanziert sich aber von den radikalen Ansichten. Ist eine solche Differenzierung überhaupt möglich, oder muss man nicht jegliche Form von Billigung dieser rechtsradikalen Gesinnung ausdrücklich ablehnen?« Susanne E., Hannover

»Zoon politikon«, ein staatenbildendes Wesen sei der Mensch, lautet ein bekanntes Zitat aus Aristoteles’ Politik. In der Philosophie ist umstritten, was genau Aristoteles damit meinte: Dass der Mensch die Gesellschaft anderer Menschen sucht oder die Polis, eine staatliche Gemeinschaft aufbauen will, also politisch im engeren Sinne ist. Weniger bekannt ist jedoch, dass Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik einen anderen Schwerpunkt setzt: »Denn der Mensch ist von Natur aus mehr ein Paar bildendes (Zoon syndiastikon) als ein Staaten bildendes Lebewesen (Zoon politikon).« Damit wären wir am Kern Ihres Problems und Aristoteles scheint der Liebe den Vorrang vor dem Politischen zu geben.

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Ist das richtig? Immerhin zeigen wissenschaftliche Untersuchungen, dass politische Einstellungen mit Persönlichkeitseigenschaften verbunden und zum Teil sogar genetisch bedingt sind. Dennoch: Abgesehen davon, dass man sich oft nicht aussuchen kann, in wen man sich verliebt, sollten politische Einstellungen meines Erachtens das Miteinander nicht dominieren. Wie hoch der Spitzensteuersatz sein soll, welche Schulform die beste ist oder wie das Gesundheitssystem zu organisieren, sind am Ende technische Fragen, unterschiedliche Einstellungen und Ideen, wie das Zusammenleben am besten gestaltet werden kann. Sie sind zweitrangig gegenüber dem Menschen, dem Menschlichen.

Mit einer Grenze: Eine politische oder religiöse Einstellung, die Menschen ihren Zielen unterordnet, Grundideen wie gleiche Rechte, Freiheit oder gleiche Würde des Menschen negiert, die bereit ist, Menschen zum Mittel zu machen, geht so sehr an den Kern des Menschlichen, dass sie sich von der Person mit dieser Einstellung nicht trennen lässt. Das sehe ich beim Rechtsextremismus verwirklicht, weshalb ich die Differenzierung Ihrer Freundin nicht nachvollziehen kann.

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Literatur:

Aristoteles: Politik, I 2 1253a 2f.
Gute Übersetzungen gibt es von Olof Gigon bei dtv und von Franz Susemihl (herausgegeben von Ursula Wolf) bei Rowohlt

Aristoteles: Nikomachische Ethik, VIII 14 1162a 16f.
Gute Übersetzungen gibt es von Olof Gigon bei dtv und von Ursula Wolf bei Rowohlt

Rolf Geiger: zoon politikon, in: Christoph Horn und Christof Rapp (Hrsg.) Wörterbuch der antiken Philosophie, Verlag C.H. Beck, 2. Auflagen, München 2008

Anotn Hügli: Mensch II. Antike und Bibel, in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer (Hrsg.) Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 5, Schwabe Verlag, Basel 1980, Sp. 1067

Wolfgang Kullmann: Der Mensch als politisches Lebewesen bei Aristoteles, Hermes 108 (1980) 419-443

Harald Schoen: Persönlichkeit, politische Präferenzen und politische Partizipation, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 62. Jahrgang · 49-50/2012 · 3. Dezember 2012, S. 47-52

Michele Vecchion / Harald Schoen / José Luis González Castro / Jan Cieciuch / Vassilis Pavlopoulos / Gian Vittorio Caprara: Personality correlates of party preference: The Big Five in five big European countries, Personality and Individual Differences 51 (2011) 737-742

Xiaowen Xu / Raymond A. Mar / Jordan B. Peterson: Does Cultural Exposure Partially Explain the Association Between Personality and Political Orientation? Personality and Individual Differences, Published online before print August 8, 2013, doi: 10.1177/0146167213499235

Jacob B. Hirsh / Colin G. DeYoung / Xiaowen Xu / Jordan B. Peterson: Compassionate Liberals and Polite Conservatives: Associations of Agreeableness With Political Ideology and Moral Values, in: Personality and Social Psychology Bulletin 36 (2010) 655-664

John Alford / Carolyn Funk and John R.Hibbing: Are Political Orientations Genetically Transmitted? in: American Political Science Review 99 (2005) 153-167

Peter K. Hatemi / Rose McDermott: The genetics of politics: discovery, challenges, and progress, in: Trends in Genetics, October 2012, Vol. 28, No. 10

Peter K Hatemi / Enda Byrne / Rose McDermott: Introduction: What is a ‘gene' and why does it matter for political science?, in: Journal of Theoretical Politics 24 (2012) 305-327

Jonathan Haid: The Rightous Mind. Why Good People Are Divided by Politics and Religion, Pantheon Books, New York 2012

Journal of Theoretical Politics: Special Issue: Genes and Politics, edited by Peter K Hatemi, July 2012; 24 (3)

Themenheft „Extremismus", Aus Politik und Zeitgeschichte 44/2010 1. November 2010

Lesenswert:
Detlev Ganten / Volker Gerharst / Jan-Christoph Heiliger / Julian Nida-Rümelin (Hrsg.), Was ist der Mensch? de Gruyter Verlag, Berlin 2008

Illustration: Serge Bloch