Allem Zauber wohnt ein Anfang inne

Samantha Shannon wuchs mit den Abenteuern von Harry Potter auf, jetzt wird sie selbst als neue J. K. Rowling gefeiert, hat einen Vertrag für eine Romanserie, sieben Bände, Vorschuss 120 000 Euro. Samantha Shannon ist gerade mal 21 Jahre alt. Kann das gut gehen?

Als sie allein auf die Reise ging, war Samantha Shannon sechs Jahre alt. Sie hatte sich das Buch schenken lassen, von dem jeder in der Schule sprach. Jetzt lag es vor ihr, der Einband knisterte noch. Sie schlug die erste Seite auf und war fort.

Samantha Shannon, 21, hat zwei Bücher geschrieben. Das erste, in das sie alle ihre Träume steckte, war eine Katastrophe. Kein Verlag wollte es. Das zweite kaufte der britische Verlag Bloomsbury und verkündete, es als Auftakt einer Serie von sieben Bänden zu veröffentlichen. Stil: Fantasy. Vorschuss: mehr als 120 000 Euro. Als Shannons Agent ihr das Angebot unterbreitete, sagte sie: »Wie – der Verlag von Harry Potter

Das Buch damals, das ihr mit sechs eine andere Welt aufgetan hatte, war der erste Band von Harry Potter gewesen. Als die Serie mit dem siebten Band endete, schrieb Shannon ihr erstes Buch, mit dem sie scheiterte. Beim zweiten jubelte Shannon über den Vertrag bei Bloomsbury, aber bald kam ihr die Situation absurd vor: Sie hatte Erfolg mit einem Buch, das absolut nichts mit Harry Potter zu tun hatte – aber alle Welt interessierte nur, dass sie zur Generation zählte, die mit Potters Abenteuern aufwuchs. Es war, als sei nicht ihr eigenes Buch The Bone Season wichtig, sondern nur die Parallelen: Samantha Shannon, sieben Bände, bei Bloomsbury, genau wie Du-weißt-schon-wer!

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»Ich werde ständig gefragt: Sind Sie die neue J. K. Rowling?«, sagt Shannon. »Und ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.« Sie sitzt in einem Büro voller Bücher, das ihrem Agenten gehört; draußen trommelt der Regen auf Londons Straßen. Shannon trägt ihr langes Haar offen, ihr Blick ist erwartungsvoll. Sie sitzt auf eine Art aufrecht, die Schreibtischmenschen gemein ist: allein dann kontrolliert, wenn nicht auf Arbeit konzentriert. Sie spricht ohne Hast, ihre Rede, gemessen und nachdenklich, lässt sie älter wirken, als sie ist. Sie ist erschöpft. Sie fliegt in diesen Tagen ihrem Roman hinterher, Vereinigte Staaten, Norwegen, Rumänien. Er erscheint in über zwanzig Ländern, in Deutschland Mitte November. Shannon rechnete auf dieser Tournee damit, über die Heldin ihres Romans ausgefragt zu werden. Oder über das futuristische London, in dem die Heldin lebt. Oder über deren Begabung, in Welten jenseits der Wirklichkeit einzudringen, die Traumlandschaften. Aber wohin der Verlag Shannon auch schickte: Überall interessierte die Geschichte ihrer Heldin weniger als ihre eigene. Eine seltsame Erfahrung für jemanden, in dessen Leben immer Helden die Hauptfiguren waren.

Shannon wuchs tief im Westen Londons auf, wo die Stadt ins Land übergeht. Als sie damals mit Harry Potters erstem Schuljahr in Hogwarts durch war, hungerte sie nach mehr. Sie las von Danny und seiner Fasanenjagd, von Mowgli, Alice, Pippi, aber nichts kam an dieses Gefühl heran, von einem Riesen auf einem fliegenden Motorrad aus der Welt der Muggel abgeholt zu werden. »Komisch, dass es eine Zeit gab, in der niemand dieses Wort kannte«, sagt sie.

In ihrer Erinnerung folgte ihre Kindheit einem eigenen Takt: Jeden Sommer, wenn die großen Ferien zu Ende gingen und sie in eine neue Klasse kam, erschien auch ein neuer Harry-Potter-Band. Wenn es so weit war, hatte sie solche Angst, jemand könnte ihr den Lauf der Geschichte verraten, dass sie sich in ihr Zimmer einschloss, um das Buch in einem Zug durchzulesen. Danach, in den langen Monaten des Wartens auf die Fortsetzung, weidete sie die Büchereien ab. Shannons Mutter machte sich Sorgen. Das Kind hatte keine Hobbys. Es las nur. Fantasy. Science-Fiction. Schund.

Shannon mochte es, wie Geschichten sie schluckten. Sie wanderte durch das Nebelgebirge und den Düsterwald, erforschte das Laternendickicht und flog zur Enklave der Spacer auf Erden – Landschaften, die sie abends, wenn ihre Mutter das Licht löschte, in Gedanken durchstreifte, bis der Schlaf kam. Das Schöne daran war das
Gefühl einer vagen Gemeinschaft: Zugang zu diesen Orten hatte nur, wer ebenfalls Tolkiens Hobbit, Lewis’ Chroniken von Narnia und Asimovs Stahlhöhlen gelesen hatte.

»Jeder, der sich nicht satt lesen kann, lebt doch so«, sagt Shannon. »Mitten in einer Menge von Welten, und jede ist ein Buch, das man mal gelesen hat.«

Wie groß diese Gemeinschaft war, erkannte Shannon erst auf der Oberschule. Manche Mitschüler folgten den Geschich-ten des Drachenreiters Eragon, andere denen aus der Tintenwelt, und manchmal, wenn eine Sache so abhob wie Stephenie Meyers Vampir-Serie Twilight, schienen sie sogar in der Mehrzahl zu sein. Sonst blieb das Internet. Dort hatten Fans begonnen, Harry Potters Abenteuer auf eigene Faust fortzuschreiben: In der Parallelwelt von Hogwarts fächerten sich alternative Handlungsstränge auf, die eigene Parallelwelten schufen – Fantasien einer Fantasie, genannt »Fan-Fiction«.

Shannon kam es vor, als sei der Wald zwischen den Welten, den sie aus den Chroniken Narnias kannte, Wirklichkeit geworden. Dort warten Tausende kleiner Teiche, die als Tore den Weg zu sämtlichen Welten der Vorstellung weisen – man muss nur hineintauchen. Eines Tages zögerte sie. Es war das Jahr 2007, der letzte Harry Potter erschien. Sollte sie in einen weiteren Teich springen? Oder einen entspringen lassen? Shannon überlegte nicht lang. Sie war 15, eine Veteranin der Fantasie. Sie fing an zu schreiben.

»Als Kind hatte ich nie groß nachgedacht, wo Geschichten eigentlich herkommen«, sagt Samantha Shannon. »Aber dann wollte ich eine eigene Welt erschaffen.«

In der Schule trug Shannon ständig ein Notizbuch mit sich, in dem sie in jeder Pause ihre Ideen aufzeichnete. Zu Hause verbunkerte sie sich in ihrem Zimmer und schrieb, oft 15 Stunden am Stück. Sie sah die Geschichte so deutlich vor sich, eine epische Science-Fiction-Romanze in drei Teilen, auch der Titel stand schon fest: Aurora. Sie schlief zu wenig. Sie bekam Migräne-Attacken. Selbst im Sommer war sie bleich. Ihre Mutter, besorgt um die besessen tippende Tochter, versuchte sie zurück ins Leben zu locken. Keine Chance.

Jeder wusste, dass Shannon ein Buch schrieb, in der Schule, im Viertel, überall. Sie war ein schüchternes Mädchen in der Pubertät; wann immer sie jemand ansprach, hatte sie das Gefühl, derjenige starre nur auf eines – ihre Zahnspange. Es gab kein Zurück. 2009, nach zwei Jahren, war zumindest der erste Teil der Trilogie fertig. Das Manuskript zählte 200 000 Wörter, etwas weniger als Dostojewskis Schuld und Sühne. Shannon begann mit Korrekturen.

Sie war schon an der Uni, als sie Aurora 2010 an Verlage und Agenten schickte. Shannon, gerade Studentin der Literatur geworden, glaubte fest an ihr Werk. Dann kamen die Antworten. Absage. Absage. Absage. Später gestand ihre Mutter, dass sie die meisten Briefe abgefangen hatte, weil sie den Kummer ihrer Tochter nicht mehr ertrug. Shannon war fassungslos. Vier Jahre Arbeit verloren. Ihr Traumland im Roman ungelesen. Und diese Schmach: Sie scheiterte, während eine Autorin wie Cassandra Clare, eine ehemalige Verfasserin von Fan-Fiction, Erfolge feierte – mit dämlichen Tussis als Heldinnen, die Dämonenjäger anhimmelten. Shannon war fertig mit fantastischer Literatur. Da schenkte ihr eine ehemalige Lehrerin ein Buch. Es hieß Der Report der Magd, von Margaret Atwood.

»Was dieser Roman alles mit mir machte«, sagt Samantha Shannon, »das kann ich kaum beschreiben.«

Die Geschichte spielt in Gilead, einer Diktatur der Männer, errichtet in einer nahen Zukunft. Frauen dürfen kein Eigentum besitzen, keine Meinung, keinen Namen: Sie heißen nach dem Mann, dem sie untertan sind. Die wenigen, die noch fruchtbar sind, dienen als Gebärerinnen. Shannon verschlang die Geschichte. Dieses Buch war düster, die Heldin kein Püppchen. Warum war sie früher nicht auf so etwas gestoßen?

Sie stellte sich einen Kanon auf, abzuarbeiten während des Studiums. Sie marschierte vor der Hasswoche durch das Ministerium für Wahrheit, 1984, trank Moloko Plus in der »Korova Milchbar«, Uhrwerk Orange, erwachte sehend in einer Stadt voll Erblindeter, Die Triffids – und überall erzählten: Männer. Nur im damaligen Bestseller Die Tribute von Panem fand sie eine Frau, die ihr zusagte; allerdings kannte sie die japanische Inspiration für diese Geschichte, den blutrünstigen Roman Battle Royal – und entsprang der nicht dem Klassiker Herr der Fliegen? Shannons Arbeit an ihrem Kanon war wie ein Abschied. Sie las sich immer weiter fort von ihrem Traum, Schriftstellerin zu werden.

An der Universität betrachtete sie ihre Lust am Lesen inzwischen mit dem nüchternen Blick einer Literatur-Studentin. Harry Potter? Schon im 18. Jahrhundert gab es literarische Phänomene, die ganze Generationen ergriffen, Shannon studierte Samuel Richardsons Pamela oder die bedrohte Tugend, ein Vorläufer von Goethes Werther. In einer erfundenen Gesellschaft spielende Literatur wie 1984? Faszinierende Form, Shannon sezierte sie für die Studentenzeitung. Heroische Frauen-Figuren? Auf die Gender-Perspektive kam es an.

Shannon stellte sich darauf ein, nach dem Studium was mit Medien zu machen, vielleicht in einem Lektorat. In den Semesterferien 2011 trat sie dazu ein Schnupperpraktikum an, bei einem Literatur-Agenten. Sein Büro lag in Seven Dials, einem der alten Viertel Londons. In dessen Mitte stoßen sieben Straßen aufeinander, einst war es ein berüchtigter Slum, heute beherbergen die verwinkelten Häuser Boutiquen. Abseits, in Seitenstraßen, verkaufen kleine Geschäfte Tarotkarten und Glaskugeln.

»Ich starrte aus dem Fenster und erwischte mich in einem Tagtraum«, sagt Shannon. »Ein Mädchen, das zur Arbeit geht, wie ich. Aber sie ist hellsichtig.«

Shannon, die in der Schule ständig ein Notizbuch mit sich herumgetragen hatte, musste erst eines kaufen, um die Idee aufzuschreiben. Noch am selben Abend fing sie an. Sie sagte niemandem etwas. Sie schrieb heimlich. Es fühlte sich großartig an. Als sie fertig war, schickte sie das Manuskript an den Agenten in Seven Dials. Er nahm es. Sie saß allein auf ihrem Bett im Studentenwohnheim, als der Anruf kam, es gebe einen Interessenten: Bloomsbury.

Der Wahnsinn begann bald darauf. Sieben Bände, bei Bloomsbury! Für eine Fantasy-Serie! Das Wirtschaftsmagazin Forbes nahm Shannon als Beleg, die Buchbranche kalkuliere wie Hollywood nur noch in Blockbustern. Fernsehsendern diente sie als Beweis dafür, dass die Generation Harry Potter zu literarischer Größe gewachsen ist, ihrer Studentenzeitung, dass sich ein Studium auszahlt. Ansonsten war sie das Fräuleinwunder, das die Fantasy aufrollen würde. Das Buch war noch überhaupt nicht erschienen, aber jeder hatte schon eine Meinung. Shannon konnte nur noch verlieren.

»Müsste ich jetzt Millionen meiner Bücher verkaufen, um alle Erwartungen zu erfüllen?«, sagt sie. »Sehen wir den Tatsachen ins Auge: Das ist höchst unwahrscheinlich.«

Als The Bone Season auf Englisch erschienen war, dauerte es nicht lang, und die ersten Kritiken standen im Internet. Viele Leser waren verstört. Der Roman setzte in einem Überwachungsstaat ein und endete in einer archaischen Enklave, es gab Geister, eine außerirdische Rasse, eine Æther-Ebene und einen Tabellenteil mit rund sechzig Klassen der Hellseherei, die Sprache war dem Slang viktorianischer Straßenbanden nachempfunden und die gesamte Welt Folge einer alternativen
Geschichtsschreibung. Es war kein gutes Buch. Es war auch kein schlechtes Buch. Es war eine einzige Herausforderung. Am Anfang stand eine einsame Zeile der Widmung: Für alle Träumer.

»Ich weiß, ich fordere eine Menge vom Leser«, sagt Shannon. »Aber so funktioniert fantastische Literatur doch. Wer in der Lage ist, sich auf ein Buch einzulassen, dem eröffnet es seine pralle Welt.«

Shannon arbeitet längst am zweiten Band. Sie hatte noch überlegt, ob sie sich von ihrem Vorschuss eine Wohnung nehmen soll, zum Schreiben. Dann zog sie nach dem Studium doch zurück in ihr Elternhaus. Sie gönnt sich von dem Geld nur einen einzigen Luxus: Sie kauft jedes Buch, das sie will.

Samantha Shannon wurde 1991 in London geboren. Als sie sechs Jahre alt war, erschien in Großbritannien ein Buch mit einem sperrigen Titel: Harry Potter and the Philosopher’s Stone, das Debüt einer bis dahin unbekannten Schriftstellerin namens J. K. Rowling. Der Aufstieg Harry Potters zu einem weltweiten Phänomen begleitete Samantha Shannons Kindheit und Jugend: Sie zählt zu der Generation, die mit den Büchern lesen lernte. Im Alter von 15 Jahren begann Shannon selbst zu schreiben. Ihr erster Roman, noch zu Schulzeiten verfasst, blieb unveröffentlicht. Während ihres Studiums der Literatur in Oxford begann sie ein neues Buch zu schreiben. Das kaufte der britische Verlag Bloomsbury - jener Verlag, der einst Harry Potter -herausbrachte.

Foto: Axel Hoedt