Voll Gas voraus

Rio, Istanbul, Stuttgart: Wo immer Menschen für ihre Überzeugungen auf die Straße gehen, reagiert der Staat hart - und bringt die Demonstranten zum Heulen. Über den tränenreichen Siegeszug des Pfeffersprays.

Juni 2013: In San Salvador demonstrieren Veteranen, die Polizei hält mit Fontänen von Pfefferspray dagegen.

Brutal wird es, wenn Polizisten das Zeug nicht nur versprühen, sondern in Plastikkapseln auf Menschen schießen. Dann bleibt es nicht bei der vorübergehenden Blindheit, der Atemnot, dem Schmerz, der Orientierungslosigkeit. Dann kommen Prellungen dazu, die spürt man wochenlang, wie eine ständige Erinnerung an die Übermacht der anderen Seite. Und wer mit einer Prellung davonkommt, hat noch Glück gehabt.

Selim Polat, 25, Student und Parteimitglied der türkischen Sozialdemokratischen Partei, wollte am 31. Mai dieses Jahres nur zeigen, dass er mit der Politik der Regierung Erdogan nicht zufrieden ist, genau wie viele Tausend andere auch. An diesem Tag hatten in Istanbul die Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei schon um fünf Uhr morgens begonnen. Polat stand in einem Pulk von Menschen, als er sah, wie ein Polizist ein Spezialgewehr hob und seine Patronen in die Menge feuerte, eine nach der anderen, in aller Ruhe. Der Abstand: nicht mal zehn Meter. Polat glaubt, dass es eine Spraykapsel war, die ihn direkt ins linke Auge traf. Aber als der Schuss ihn erwischte, konnte er längst nichts mehr sehen, die Luft war voll von Pfefferspray, es brannte in den Augen, es verschlug den Menschen den Atem, sie husteten, weinten, spürten das Brennen am ganzen Körper. Polat, der selbst kein Englisch spricht, lässt über eine Freundin ausrichten, der Polizist sei nach den Schüssen sofort in der Menschenmenge verschwunden, es gab keine Chance, ihn zu stellen. Freunde brachten den Demonstranten in ein Krankenhaus, das Auge konnte nicht mehr gerettet werden, es ist jetzt blind.

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All diese Bilder: John Pike, im Internet verschrien als »Pepper Spray Cop«, der auf dem Campus im US-Städtchen Davis den sitzenden Demonstranten im Vorbeigehen in die Augen sprüht, als gieße er die Blumen in seinem Garten. Die behelmten Polizisten, die in Rio de Janeiro einer Frau im Sommerkleid aus einem Meter Abstand direkt ins Gesicht sprühen. Weinende Kinder, die bei den Bahnhofsprotesten in Stuttgart den
Nebel abkriegen. Demonstrationen in Spanien und Israel, in Brasilien und Chile, in Griechenland und Ägypten, seit zwei, drei Jahren ist der Nebel überall. Wir leben im Zeitalter des Pfeffersprays.

Claudia Roths Bild ging durch Deutschland: eine Frau mit tränenden Augen und schmerzverzerrtem Gesicht. Die damalige Bundesvorsitzende der Grünen war vom 15. bis 17. Juni in Istanbul, um mit den Protestlern zu sprechen – und wurde bei einer friedlichen Veranstaltung Opfer der türkischen Polizei.

SZ-Magazin: Frau Roth, wie sind Sie da reingeraten?

Claudia Roth: Eigentlich war es ein friedlicher Sommerabend im Gezi-Park, mit Musik, wie ein großes Festival, als die Polizei mit massiver Gewalt und ohne Ankündigung gegen alle vorging, die zufällig dort waren. Ich habe dann auch eine Ladung Pfefferspray abbekommen, im Vergleich zu vielen anderen bin ich aber noch glimpflich davongekommen.

Können Sie beschreiben, wie sich so eine Attacke anfühlt?

Nach dem Angriff konnte ich meine Augen nicht mehr aufmachen und nur noch sehr schlecht atmen. Das Tränengas bewirkt, dass man in Panik gerät. Es nimmt einem schlicht die Luft. Ich wurde dann von freiwilligen Ärzten versorgt. Auch am Tag danach hatte ich noch Hustenanfälle.

Was halten Sie prinzipiell vom Einsatz von Pfefferspray gegen Demonstranten?

Pfefferspray kann zu erheblichen Verletzungen führen, auch bei gesunden Menschen. Richtig gefährlich wird es aber für Menschen mit Asthma oder bestimmten Allergien sowie in Wechselwirkung mit Medikamenten oder manchen Drogen. Dann drohen sogar akute Atemnot und Ersticken, Organschäden und im schlimmsten Fall der Tod. Deswegen bin ich strikt gegen den Einsatz von Pfefferspray bei Demonstrationen. Vor allem, weil bei großen Menschenmengen die Gefahr steigt, dass es jemanden mit Allergien oder Asthma trifft. Das Risiko schlimmer Auswirkungen wird damit völlig unkalkulierbar.

Wie scharf ist Pfefferspray überhaupt? Bewertet wird das mit der sogenannten Scoville-Skala. Peperoni schaffen auf der ein paar Hundert Punkte. Als schärfste Schote der Welt gilt eine Chili-Züchtung mit zwei Millionen Scoville-Punkten. Richtig konzentriertes Pfefferspray ist mehr als doppelt so scharf: 5,3 Millionen Scoville-Punkte. Mit Pfeffer hat das Spray übrigens nichts zu tun, der Name hat sich wegen eines Übersetzungsfehlers eingebürgert. Der entscheidende Wirkstoff heißt Oleoresin Capsicum und wird aus dem Fruchtfleisch der Chili-Pflanze gewonnen, das darin enthaltende Capsaicin wird synthetisch verarbeitet und dann mit Wasser und Ethanol vermischt.

Wie genau sich die handelsüblichen Pfeffersprays zusammensetzen, will kein Hersteller verraten. Die Rezepturen werden gehütet wie die von Coca-Cola. Und wie viel damit zu verdienen ist, verraten die Hersteller auch nicht gern. Die amerikanische Firma Sabre, die sich damit brüstet, Weltmarktführer zu sein (Slogan: »Wir bringen erwachsene Männer zum Heulen«) sagt nur: Man sei sehr zufrieden mit dem Absatz, die Firma verkaufe ihre Produkte in 50 Länder auf der ganzen Welt. Der deutsche Marktführer Hoernecke, der unter anderem die deutsche Polizei beliefert, setzt 2,5 Millionen Euro im Jahr mit Pfefferspray um.

In Deutschland sind die Sprays eigentlich nur durch einen Trick zugelassen: Damit das Oleoresin Capsicum gesetzlich freigegeben werden könnte, müsste es zuvor in Tierversuchen getestet werden – die aber sind verboten. Theoretisch müssten die Sprays dem Waffengesetz unterliegen. Frei verkäuflich sind sie nur als Tierabwehrspray, das steht groß auf jeder Dose. Die deutsche Polizei darf die Sprays trotzdem einsetzen: Ausnahmegenehmigungen der zuständigen Ministerien.

Die Bundeswehr dagegen darf bei Auslandseinsätzen kein Pfefferspray anwenden, das verbietet das Genfer Protokoll (genauer: Protokoll über das Verbot der Verwendung von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen sowie von bakteriologischen Mitteln im Kriege). So sieht’s aus: deutsche Soldaten gegen andere Soldaten – nicht erlaubt. Deutsche Polizisten gegen deutsche Demonstranten – erlaubt.

Auf jeden Fall geht schnell etwas schief, sobald Pfefferspray im Spiel ist. Manchmal sogar innerhalb der Polizei. Nach Mai-Demonstrationen in Berlin haben zwei Zivilpolizisten ihre Kollegen von der Einsatztruppe angezeigt, weil die ihnen grundlos Pfefferspray direkt ins Gesicht gesprüht haben sollen. Und die Berliner Jusos würden der deutschen Polizei das Spray gern grundsätzlich verbieten lassen. Von einem solchen Verbot wiederum halten deutsche Polizisten gar nichts – und so kam es zu einer bizarren Verkettung: Im Frühjahr protestierte die Polizeigewerkschaft gegen die Verbotsidee mit einer Demonstration am Rande des SPD-Parteitages. Darauf reagierten wiederum Gegendemonstranten – und weil die eigentlichen Demonstranten nun mal Polizisten waren, wollten die sofort die Personalien der Gegendemonstranten aufnehmen, es kam zu Tumulten, einer Frau soll gezielt ins Gesicht geschlagen worden sein, die Berliner Polizei sagt, es seien Beamte verletzt worden. Jeder gegen jeden.

Umstritten ist, wie oft Pfefferspray tatsächlich tödliche Konsequenzen hat. Nachgewiesen sind Fälle wie der des 32 Jahre alten Slieman H. aus Schöneberg: Der hatte vor drei Jahren, nach viel Alkohol und Kokain, eine Auseinandersetzung mit der Polizei. Beamte setzen Pfefferspray ein, er wird ohnmächtig, kurz darauf stirbt er. Die Staatsanwaltschaft stellt lapidar fest, der Mann habe unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln mit einem allergischen Schock auf das Spray reagiert. Die Ermittlungen gegen die Polizei werden eingestellt – das Argument: Mit der Schockreaktion habe niemand rechnen können, das Verhalten der Beamten sei einwandfrei gewesen.

Laut Recherchen der Taz kam es in Deutschland allein im Jahr 2009 dreimal zu Todesfällen, nachdem die Polizei Pfefferspray eingesetzt hatte. Die amerikanische Bürgerrechtsorganisation ACLU ermittelte für die Jahre 1993 bis 1995 26 derartige Fälle in Kalifornien. Und vor zehn Jahren gab das amerikanische Justizministerium die Ergebnisse einer Studie bekannt, die bei insgesamt 63 Todesfällen einen Zusammenhang mit Pfefferspray nachwies.

Das Pfefferspray ist längst mehr als nur ein Mittel. Es ist zum Symbol einer Zeit geworden.

Ein Foto, das 2011 um die Welt ging: John Pike, der »Pepper Spray Cop«, während einer Demo auf dem Campus der Universität in Davis, Kalifornien.

Die Polizei sieht das alles anders. Rainer Wendt, der Bundesvorsitzende der deutschen Polizeigewerkschaft, weist sogar darauf hin, Pfefferspray sei oft nicht wirkungsvoll genug.

SZ-Magazin: Herr Wendt, ist Pfefferspray ein angemessenes Werkzeug im täglichen Polizeieinsatz?
Rainer Wendt: Wir erleben im täglichen Dienst immer wieder: Ein hochgradiger Erregungszustand plus Alkohol macht die Wirkung des Sprays zunichte. Da schüttelt sich einer kurz und macht weiter. Alkoholisierte merken einfach nichts mehr. Die reagieren ja auch auf Schläge mit dem Mehrzweckstock kaum.

Aber bei einer Demonstration sieht das anders aus.
Ja, zugegeben, da spielt Alkohol eher keine Rolle.

Trotzdem wird immer wieder Pfefferspray eingesetzt.
Bitte, Pfefferspray ist immer noch milder als der Schlagstock! Es tut kurz weh, die Augen tränen, das wars.

Da hört man von Demonstranten ganz anderes.
Nun, es kann zu einzelnen Fällen kommen, in denen die Verhältnismäßigkeit nicht mehr stimmt. Wenn wir das bemerken, gehen wir intern gegen die entsprechenden Beamten vor.

Die Gefahr ist groß, dass Sie mit dem Spray Menschen ernsthaft schädigen, zum Beispiel Asthmatiker. Nehmen Sie das in Kauf?

Zur Auseinandersetzung gehören immer zwei. Wenn einer Asthma hat, muss er wissen: In so eine Situation begebe ich mich lieber nicht.

Er soll auf die Wahrnehmung seiner Rechte als Bürger verzichten?
Nein, er kann ja demonstrieren gehen. Aber wenn wir den Einsatz von Pfefferspray ankündigen, kann sich jeder drauf einstellen. Alles Weitere liegt in der Verantwortung des Störers. Wenn einer sagt, mir ist mein Asthma egal, dann kann das nicht der Polizei angelastet werden.

Leiden auch Polizisten unter dem Spray?
Sehr häufig! Das habe ich selbst erlebt. Da muss nur ein Windstoß kommen, und man hat das Zeug selbst in den Augen. Es gibt auch Kollegen, die nach einem Einsatz am Pfefferspray zweifeln.

Was wären Alternativen?
Es müsste etwas geben, was milder als die Schusswaffe, aber härter als das Spray ist.

Ich meinte eigentlich: mildere Alternativen.

Nein, uns fehlt eher so etwas wie der Taser – da versetzt man dem Störer Stromstöße, es kommt zu einer schmerzhaften Muskelkontraktion, der Täter fällt sofort um. Sehr effizient.

Und das wollen Sie bei Demonstrationen einsetzen?
Nein, bei Demonstrationen wäre der Taser unmöglich. Da genügt uns das Pfefferspray. Und Wasserwerfer, die sind sehr zielgenau.

Der Einsatz des Sprays in Deutschland ist in komplizierten Vorgaben geregelt: Seit 2008 gibt es die »Technische Richtlinie (TR) Reizstoff- Sprühgeräte (RSG) mit Oleoresin Capsicum (OC) oder Pelargonsäurevanillylamid (PAVA)« sowie die »Handhabungshinweise für Reizstoff-Sprühgeräte mit Pfefferspray (OC bzw. PAVA)«. Darin steht allerdings nicht viel mehr als: Pfefferspray bitte immer schön verhältnismäßig einsetzen. Der Rest ist Ländersache, die Regierung verweist bei Kritik darauf, dass der fachgerechte Umgang mit den Sprays von den zuständigen Polizeidienststellen gewährleistet werden müsse.

Die Linkspartei hat im Bundestag mehrere Anfragen dazu gestellt, im April monierten die Abgeordneten Ulla Jelpke, Karin Binder und Christine Buchholz, es sei »schon die Verhältnismäßigkeit des Einsatzes von Pfefferspray zur Ausübung des unmittelbaren Zwanges bei Versammlungen nicht gegeben. Mindestens müsste aber eine umfassende Dokumentation solcher Einsätze erfolgen, um die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgebotes überprüfen zu können«. Die Antwort fiel frostig aus: »Die Bundesregierung verwahrt sich entschieden gegen den latenten Vorwurf des unkontrollierten und undifferenzierten Einsatzes von Pfefferspray.« Seitdem: Schweigen.

Heikel wird es, wenn deutsche Firmen Reizgase ins Ausland liefern. Ein EU-Gesetz von 2006 verbietet den Handel mit »foltertauglichen Polizeimitteln«, dazu zählen Fußfesseln, Elektroschocker und Reizgase. Deutsche Firmen exportieren aber Pfefferspray in alle Welt, allein der Marktführer Hoernecke beliefert 20 Länder. Laut Amnesty International hat die deutsche Regierung seit 2006 Ausfuhrlizenzen für Fußfesseln und chemische Sprays in vier Länder erteilt, nach Kamerun, Indien und China soll Pfefferspray geliefert worden sein. Der Rest: Grauzone. Wenn deutsche Firmen Oleoresin Capsicum irgendwohin liefern, fällt das unter kein Gesetz. Und wenn Labors in anderen Ländern daraus mit Wasser und Ethanol Pfefferspray mixen, … tja.

Die Linkspartei wollte dieses Jahr in mehreren Anfragen wissen, was das Kabinett Merkel vom Einsatz deutscher Pfeffersprays im Ausland hält. Die Antwort ist jedes Mal lapidar: Dazu liegen der Bundesregierung keine Erkenntnisse vor.

Das Pfefferspray ist längst mehr als nur ein Mittel. Es ist zum Symbol einer Zeit geworden. Die Sprühdose als Zeichen des Konflikts, der Überforderung staatlicher Apparate. Christer Petersen, Medienwissenschaftler an der Technischen Universität Cottbus, befasst sich seit Jahren mit der Bildsprache von Kriegen und Konflikten, er kann erklären, wieso das so ist.

SZ-Magazin: Herr Petersen, der amerikanische Kulturwissenschaftler Robert Thompson sagt, wir leben im Zeitalter des Pfeffersprays. Warum hat das Spray so eine Symbolkraft?
Christer Petersen: Medien arbeiten mit Symbolen, weil sie komplexe Zusammenhänge an einfachen Dingen konkretisieren können. Das Bild der Spraydose bringt den ganzen Konflikt zwischen Staat und außerparlamentarischer Opposition auf eine deutliche, schnell begreifbare Formel. Und da zeigt sich vor allem, wie brüchig die Macht des Staates ist.

Inwiefern?
Macht ist dann am wirkungsvollsten, wenn sie nicht als Sanktionierung, etwa in Form von Gewalt, in Erscheinung treten muss: Die bloße Androhung von Strafe respektive Gewalt genügt, um Verhaltensweisen zu kontrollieren. Genau das würde man als staatliche Autorität und Souveränität bezeichnen. In dem Moment aber, wo Menschen tatsächlich Schmerzen zugefügt werden, ist es mit dieser Souveränität vorbei. Wenn der Staat Gewalt gegen seine Bürger ausübt, befindet er sich bereits in einer Krise.

Während Demonstranten unter Pfefferspray leiden, macht die Polizei in Deutschland klar, dass es nicht reicht, sie fordert härtere Mittel, zum Beispiel den berüchtigten Taser. Wie bewerten Sie das?

Man ist als Regierung gut beraten, nicht allzu schnell auf derartige Forderungen der Polizei einzugehen. Weil die Interessenlagen und Perspektiven ganz unterschiedliche sind. Während die Polizei einer Pragmatik und Effektivität der ganz konkreten gewaltsamen Kontrolle von Demonstranten folgt, hat der Staat langfristig seine Macht zu stabilisieren – gerade indem er eben nicht sofort seine ganze Gewalt ausspielt. Oft ist doch die bloße Androhung viel besser geeignet, Macht zu zeigen.

Das Städtchen Oberstenfeld südlich von Heilbronn. Kleine Häuser, romantisch zwischen Hügel gedrückt, Mittelstand und Landwirtschaft, im Nachbardorf wird gerade ein »Schafwollfestival« angekündigt. Die Firma Hoernecke liegt zwischen einer Holzfabrik und der neuapostolischen Kirche. Thomas Hoernecke, Geschäftsführer des Familienunternehmens, empfängt Besucher in einem schmucklosen Gesprächszimmer, eine Auswahl seiner TW1000-Sprays in verschiedenen Größen stellt er gleich mal auf den Tisch, direkt neben die Espressotassen mit dem orientalischen Muster. Hoernecke, um die 50, weiße Haare, Schnurrbart, ein Schrank von Mann, redet laut und gern, wirkt aber auch nervös.

Die Kritik an seinen Sprays macht ihm zu schaffen. Dass ihn der Spiegel einmal einen »Tränenmacher« nannte, nein, das hat ihm nicht gefallen. Er wurde als Zyniker dargestellt, der nur darauf wartet, dass irgendwo auf der Welt neue Konflikte entstehen und er seine Sprays dorthin liefern kann. Dabei sieht er selbst sich als einen braven Mittelständler, der sein Familienunternehmen mit Erfolg führt. Die Firma, 1896 gegründet und lange Zeit mit allen möglichen Arten von Chemie erfolgreich, verkauft ihr Pfefferspray seit den Sechzigerjahren in über 20 Länder der Erde.

Aber wann und wie es eingesetzt wird, dazu will Hoernecke nichts sagen. »Es ist Aufgabe der Politik, das in die richtigen Bahnen zu lenken. Letztlich geht es immer um politische Interessen! Und ich bin kein Politiker.« Amnesty International, die Linke, Demonstranten – davon will Hoernecke nichts wissen. Wenn er in der Zeitung liest, dass seine Sprays Menschen schaden, fühlt er sich ungerecht behandelt. »Wir denken doch an bedrohte Menschen! An die alleinstehende Frau, die nachts in der Tiefgarage zu ihrem Auto will, an die Krankenschwester, die im Dunkeln vom Dienst heimkommt … Die müssen sich doch verteidigen können gegen Angreifer.« Hoernecke sagt, er mache sich Sorgen, dass seine Mitarbeiter beschimpft werden oder dass ihm eines Tages irgendwer die Fenster einschmeißt. Seine Familie hat doch immer alles richtig gemacht. Als die Post in den Siebzigerjahren seinen Vater fragte, wie man Postboten helfen könnte, die von Hunden angefallen werden, dachte der sich das Pfefferspray aus. »Das ist doch vergleichsweise harmlos«, sagt jetzt der Sohn, »wir haben das als Kinder auch in die Augen bekommen, das galt bei uns als Mutprobe.«

Wenn böswillige Menschen mit Hoernecke-Produkten falsch umgehen: Pech. »Sehen Sie – wenn Sie jemanden schlagen, ist das Körperverletzung. Und wenn Sie jemanden mit dem Spray erwischen, ist das möglicherweise auch Körperverletzung. Der Tatbestand ist immer derselbe.« Dass Claudia Roth nach Istanbul gefahren ist, nimmt er ihr übel: »Die hat doch gewusst, was sie da tut, ich bitte Sie!« Nein, so einfach ist das alles nicht. Zum Schluss bietet Hoernecke dem Besuch noch ein bisschen Pfefferspray an, mal probieren? Er macht selbst mit. Und so sitzt man also da, ein Tropfen Spray auf der Zunge brennt wie ein Messerschnitt, in die Augen will man das Zeug auf keinen Fall kriegen. Hoernecke grinst, er sagt: »Sehen Sie, das ist ein gutes Produkt, wir sind stolz auf unser Produkt.«

(Fotos: Corbis/ Ulises Rodriguez; Louise Macabitas)