Im Anfang war das Wort

Vor hundert Jahren hat Papst Pius X. den Gläubigen verordnet, einmal in der Woche zu beichten. Der britische Historiker John Cornwell glaubt, dass viele Probleme der heutigen katholischen Kirche erst dadurch entstanden sind.

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SZ-Magazin: Herr Cornwell, wann haben Sie das letzte Mal gebeichtet?
John Cornwell: Warten Sie, da muss ich erst mal überlegen. In einem Beichtstuhl war ich zuletzt 1962. Seitdem habe ich es nicht für nötig gehalten, zur Beichte im traditionellen Sinn zu gehen.

Nicht nur Sie. In vielen Kirchen stehen die Beichtstühle leer.
Oder sie werden als Abstellkammer für Besen und Staubsauger genutzt. Heute spricht die Kirche lieber vom »Sakrament der Versöhnung«, das auch auf einer Kirchenbank oder im Gemeinderaum vollzogen werden kann. Papst Johannes Paul II. und Papst Benedikt XVI. haben versucht, die Beichte wieder attraktiver zu machen. Trotzdem sind ihnen die Gläubigen davongelaufen. In Amerika gehen nach kirchlichen Schätzungen nur noch zwei Prozent der Katholiken regelmäßig zur Beichte. In Europa erhebt die Kirche nicht einmal mehr Statistiken.

Wie erklären Sie sich den Beichtfrust?
Es gibt drei Arten von Katholiken: diejenigen, die sich strikt an die Regeln halten. Dann die große Mehrzahl, die dem eigenen Gewissen folgt und bei kirchlichen Vorschriften wie dem Verhütungsverbot ein Auge zudrückt. Und schließlich gibt es Katholiken, die sich an die Vorschriften halten wollen, aber sich dazu nicht imstande sehen und deshalb aus der Kirche austreten. Die machen mir am meisten Sorgen, denn ich glaube, dass jedes Jahr sehr viele Gläubige aus diesem Grund der katholischen Kirche den Rücken kehren.

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Gebeichtet wird seit 2000 Jahren. Aber erst Anfang des 20. Jahrhunderts verordnete Papst Pius X., dass jeder Katholik jede Woche zur Beichte gehen solle, nicht ein- oder zweimal pro Jahr wie zuvor. Warum wurde das geändert?
In der frühen Kirche war die Taufe das wichtigste Instrument des Sündenerlasses. Wer gegen die Regeln der frühchristlichen Gemeinschaft verstoßen hatte, der konnte durch öffentliche Versöhnungsriten wieder in die Gemeinde aufgenommen werden. Die Sündenvergebung erfolgte durch die Gemeinschaft. In den Klöstern in Irland, Schottland und Wales entwickelte sich ab dem 5. Jahrhundert dann die Praxis der Privatbeichte unter Anleitung eines Abtes oder Kirchenältesten. Durch reisende Mönche verbreitete sich dieser Ritus unter der Laienbevölkerung in Mitteleuropa. Die Kirche entwickelte ausgeklügelte Bußtarife für alle möglichen schweren und lässlichen Sünden: Fasten, Schlafentzug, Pilgerreisen. Erst im 13. Jahrhundert verpflichtete Papst Innozenz III. alle Gläubigen, mindestens einmal im Jahr bei einem Priester zu beichten. Sonst drohte Exkommunikation und ewige Verdammnis, und man verlor das Recht, in heiligem Boden begraben zu werden.

Sie selbst waren sieben Jahre lang Priesterschüler und haben jede Woche gebeichtet. Mit zwanzig verließen Sie das Priesterseminar, um in Oxford Literatur zu studieren. Warum?
Ich wusste in meinem tiefsten Inneren - und in meinen Genitalien - dass ich nicht für ein zölibatäres Leben geeignet war. Mir behagte das klerikale Ethos des Priestertums nicht, in dem wir damals aufgezogen wurden. Wir Priesterschüler waren ziemlich unschuldige Burschen, mussten aber moral- und pastoraltheologische Wälzer studieren, in denen auf Lateinisch alle möglichen Arten sexueller Empfindung abgehandelt wurden: Orgasmen von Eunuchen, Orgasmen bei der Fahrt mit dem Fahrrad oder dem Reiten auf einem Pferd, Orgasmen beim Tanzen. All das wurde in unseren Lehrbüchern fein säuberlich klassifiziert und als Todsünde verurteilt, selbst eine Samenspende beim Arzt.

Ganz zu schweigen von der Masturbation, die Sie in Ihrem Buch als »die größte Einzelobsession der katholischen Moraltheologie« bezeichnen. Welche Strafen standen denn darauf?
Schon die irischen Bußkataloge des 8. Jahrhunderts befassten sich ausführlich mit allen Spielarten der Selbstbefriedigung, auch der unter Priestern. Geistliche, die durch sündige Gedanken einen Samenerguss bekamen, sollten eine Woche fasten - drei Wochen, wenn sie selbst Hand angelegt hatten. Für jede Spielart der Selbstbefriedigung hatten sich die kirchlichen Verfasser spezielle Bußtarife ausgedacht: »Derjenige, der seinen Samen ergießt, während er in der Kirche schläft, der tue drei Tage lang Buße. Wenn er sich selbst stimuliert, so tue er für die erstmalige Sünde zwanzig und für das zweite Mal vierzig Tage Buße.«

Es klingt, als wäre den Beichtvätern nichts Weltliches fremd?

Mit der Zeit entwickelte die Sache eine Eigendynamik. Im Mittelalter sollten Priester die Beichtenden regelrecht ins Kreuzverhör nehmen, wenn sie den Verdacht hatten, dass ein Fall von Ehebruch oder Inzest vorliegen könnte. Es entstanden immer mehr Handbücher, in denen Sündenregister bis ins kleinste Detail kategorisiert wurden. Da gab es alles, von der flüchtigen Berührung und einem Kuss bis hin zur Vergewaltigung von Nonnen. Das Erstaunlichste ist die Bedeutung der Selbstbefriedigung in diesen Bußkatalogen. Masturbation galt als größere Sünde als die Entführung und Vergewaltigung einer Jungfrau. Das war noch 500 Jahre später so, als ich im Priesterseminar studierte. Eines unserer Lehrbücher enthielt allein fünf Seiten über Masturbation, aber nur eine Drittelseite über Vergewaltigung. Von Kindesmissbrauch war in dem ganzen vierbändigen Werk überhaupt nicht die Rede, obwohl eine Passage über »Anstiftung« im Beichtstuhl zeigt, dass Missbrauch in der Beichte als Problem erkannt wurde.

Woher kommt diese Obsession?
Ich denke, sie kommt aus einer tiefen Verunsicherung innerhalb des Klerus. Ein Kind hat ja erst mal keine Angst davor, sich selbst zu berühren. Es ist der Pfarrer, der darin eine Sünde sieht. Aber wenn man einem Kind schon im Alter von sechs Jahren immer wieder eintrichtert, was für eine monströse Sünde das sei, führt das natürlich zu Angstzuständen und einem großen inneren Druck. Das ist nicht nur in katholischen Kreisen so. Denken Sie an den lutherischen Pfarrer in Michael Hanekes Film Das weiße Band, der seinen Sohn nachts fesselt, damit der sich nicht selbst befriedigt.

Sünden gibt es viele. Warum aber kommt man beim Sprechen über die Beichte immer wieder auf das Thema Sexualität?
In der frühchristlichen Kirche glaubte man, dass die Wiederkunft Christi unmittelbar bevorsteht; um dann in den Himmel zu kommen, musste man die Reinheit eines Engels haben. Die christliche Kirche hat diese frühe Verteufelung der Sexualität nie ganz überwunden, zusammen mit der Vorstellung, dass Frauen irgendwie unrein sind. Seit dem Mittelalter dann verstieg sich die katholische Moraltheologie immer mehr in die Differenzierung zwischen lässlichen Sünden und Todsünden, um die es in der Beichte ging. Als Papst Johannes Paul II. 1983 die Generalabsolution wieder abschaffte, bestand er darauf, dass Todsünden nur durch Privatbeichte durch einen Priester absolviert werden durften. Wenn Sie als gläubiger Katholik, wie seit Pius X. üblich, jede Woche zur Beichte gehen, müssen Sie sich schon etwas einfallen lassen, um überhaupt beichten zu können. Und zu den sogenannten »Todsünden« zählten für Johannes Paul II. ja nicht nur Mord oder Ehebruch, sondern auch der Gebrauch von Kondomen, außerehelicher Sex oder die Hingabe an »unreine Gedanken«.

»Anders als seine beiden Vorgänger spricht Franziskus von der Kirche ja als einem Feldlazarett, einem großen Zelt.«

Haben katholische Priester besonders unter den rigiden Bestimmungen der katholischen Sexualmoral zu leiden?
Natürlich, schließlich müssen die meisten einen Widerspruch leben! Schon 1969 gaben bei einer Umfrage des amerikanischen Sexualforschers William H. Masters in der Erzdiözese St. Paul 198 von 200 katholischen Geistlichen an, im gleichen Jahr masturbiert zu haben. Laut einer Studie des Psychotherapeuten Richard W. Sipe aus den Neunzigerjahren masturbieren achtzig Prozent der Priesterschaft. Bei vielen führt das zu Seelenqualen, weil ihr Triebverhalten nicht im Einklang mit der katholischen Sexuallehre steht. Sipe berichtet von einem Priester, der sich aus Verzweiflung selbst kastrierte, und von anderen, die masturbieren und dann mitten in der Nacht zur Beichte gehen, um am nächsten Morgen die Messe halten zu können. In den Interviews, die ich für mein Buch geführt habe, wurde mir sogar von Geistlichen berichtet, die im Beichtstuhl masturbieren.

1910 setzte Papst Pius X. das Alter für die Erstbeichte auf sieben Jahre herab. Sie bezeichnen das als »eines der gewagtesten Experimente an Kindern, die je im Namen des Christentums verordnet wurden«.
Für reife Menschen kann das Beichten von Fehlverhalten ein sehr heilsamer, psychologischer Vorgang sein - wenn es denn einen Anlass gibt, erhebliche Fehltritte zu beichten. Pius’ Dekret aber führte dazu, dass im 20. Jahrhundert Generationen von Kindern nicht erst beim Eintritt in die Pubertät über ihre Sexualität Rechenschaft ablegen mussten, sondern schon mit sieben Jahren, und das jede Woche! Das Gewissen dieser Kinder wurde schon in einem unangemessenen Stadium ihrer emotionalen und geistigen Entwicklung belastet, indem man ihnen ständig die Lehren der Kirche über die Todsünden ins Gedächtnis rief. Die Kinder wurden im jungen Alter mit psychischer Gewalt terrorisiert und eine Minderheit sogar Opfer von physischem Missbrauch.

Sie haben als junger Seminarist Ende der Fünfzigerjahre selbst erlebt, dass ein Priester Sie zu verführen versuchte.
Father McCallum war ein unkonventioneller und freundlicher Priester, der uns Schüler gerne in seinen Privatgemächern empfing und mit Alkohol bewirtete. Als wir einmal allein waren, fragte er mich, ob er meinen Penis sehen könnte. Er wolle überprüfen, ob ich »eine der bekannten Fehlbildungen« hätte, die zu übermäßig häufigen Erektionen führten. Ich verließ sofort den Raum, weil ich das völlig inakzeptabel fand. Nicht alle Jungen haben so reagiert, fürchte ich. Ein englischer Priester, der seit zwanzig Jahren geistliche Sexualstraftäter in seiner Diözese psychotherapeutisch behandelt, schrieb mir, dass sie alle das Sakrament der Beichte genutzt hätten, um Verletzlichkeiten auszuloten und Kandidaten auf den Missbrauch vorzubereiten. Diese Verbindungslinie von der Beichte zum Missbrauch durch Priester ist bislang kaum erkannt. Es mag sich um eine Minderheit handeln, aber Missbrauch durch eine solche geistliche Vertrauensperson ist meiner Ansicht nach die schlimmste Form des Missbrauchs, das ist Seelenmord.

Haben Sie Father McCallum angezeigt?
 
Ich hielt das für aussichtslos. Er wurde später versetzt - an ein Seminar für noch jüngere Knaben!

Glauben Sie, dass er diesen Missbrauch je gebeichtet hat?
In den pastoraltheologischen Handbüchern findet man den Ratschlag an Beichtväter, nur nicht zu sehr ins Detail zu gehen. Ein pädophiler Priester kann demnach beichten, dass er »eine Sünde mit einem anderen Menschen« begangen hat. Der Beichtvater fragt dann vielleicht noch, ob es sich um einen Mann oder eine Frau gehandelt hat, ob die Frau verheiratet gewesen ist, legt ihm dann die entsprechende Buße auf und erteilt Absolution. Ich habe einmal einen Seelsorger gefragt, ob er je einem Priester das Sakrament gespendet hat, der ihm Kindesmissbrauch beichtete. Er sagte mir: »Ich hatte den Verdacht, aber ich wollte nicht nachfragen.«

Wie sollte Papst Franziskus die Beichte reformieren?
Als Erstes sollte er die Erstbeichte im Alter von sieben Jahren abschaffen. Außerdem wäre es eine gute Idee, die Generalabsolution wieder einzuführen, die Johannes Paul II. abgeschafft hat. Der Niedergang der Beichte ist auch Ausdruck einer Krise der katholischen Kirche, in der sich eine immer größere Kluft zwischen Theorie und Praxis auftut. Vierzig Prozent aller Ehen von Katholiken werden geschieden, viele junge Menschen haben vor der Ehe Sex - und die soll man alle ausschließen? Anders als seine beiden Vorgänger spricht Franziskus von der Kirche ja als einem Feldlazarett, einem großen Zelt.

Auf Internetforen tauschen sich junge Katholiken über sexuelle Probleme und Gewissensnöte aus. Ist das Internet der neue Beichtstuhl?
Die Anonymität des Internets hilft natürlich. Inzwischen hat die katholische Kirche sogar Beicht-Apps für Smartphones entwickelt.

Gibt es die Absolution bald per SMS?
Nein, die Apps dienen nur als Leitfaden zur Vorbereitung auf die Beichte.

Hat die Beichte heute noch einen Sinn?
Ja, wenn sie nicht dazu dient, einen langen Katalog alltäglicher Sünden abzuarbeiten. Unsere Ursünde, und das gilt heute mehr denn je, ist die Selbstvergötterung. Eine der wichtigsten Botschaften des Christentums ist die Nächstenliebe, die Zuwendung zu den Mitmenschen. Wenn die Beichte nicht nur als bloßes Ritual, sondern als Gespräch zur spirituellen Orientierung genutzt wird, dann ist sie ein ungeheuer heilsames und nützliches Mittel, um wieder zu Gott und zur Gemeinschaft zu finden.

John Cornwell geboren 1940 in London, brach mit zwanzig seine Ausbildung zum Priester ab und entschied sich stattdessen für ein Literaturstudium an der Universität Oxford. Er wurde Journalist und Schriftsteller und ging ein Vierteljahrhundert lang nicht mehr in die Kirche - bis er Ende der Achtzigerjahre zum Glauben zurückfand und eine Reihe viel beachteter Bücher über die katholische Kirche schrieb. Auf Deutsch erschienen zuletzt sein Bestseller »Pius XII. Der Papst, der geschwiegen hat« und »Die Beichte. Eine dunkle Geschichte«.