Die Gewissensfrage

Darf man seiner Yogalehrerin sagen, dass man ihre Krankheitsvertretung besser findet oder hat sie noch Anrecht auf ihren alten Kurs?

»Vor anderthalb Jahren erkrankte unsere Yogalehrerin und organisierte einen Ersatz. Jetzt möchte sie den Kurs wieder übernehmen. Wir aber finden die Stunden unserer Ersatzlehrerin viel besser und würden lieber bei ihr bleiben. Dürfen wir das der alten Lehrerin sagen oder hat sie noch ›Anrecht‹ auf unseren Yogakurs?« Ann-Kathrin S., Bonn

Yoga ist nicht nur eine Form von Fitnessübungen, sondern gleichzeitig eine Philosophie, die es sich lohnt zu betrachten. Obwohl es verschiedene Formen und Schulen von Yoga gibt, haben sie doch gemeinsame Grundlagen. Und für die Fragestellung hier scheint mir Yama, die erste Stufe des sogenannten Raja-Yoga, von Bedeutung, die am ehesten einer Moralphilosophie oder Ethik entspricht. Nach dem Yogasutra des altindischen Weisen Patanjali besteht Yama aus fünf Elementen: Ahimsa (Gewaltlosigkeit), Satya (Wahrhaftigkeit), Asteya (Nicht-Stehlen), Brahmacharya (Keuschheit) und Aparigraha (Nicht-Ergreifen). Ähnlichkeiten mit den biblischen Zehn Geboten, dem Dekalog, sind kaum zu übersehen.

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Das wichtigste Element, Ahimsa, bedeutet nicht nur Verzicht auf körperliche, sondern auch auf psychische Gewalt und Verletzungen, und beinhaltet Freundlichkeit. Dieses Prinzip würde dafür sprechen, der alten Lehrerin nicht zu sagen, dass man ihre Vertretung viel besser findet, um sie nicht zu verletzen. Allerdings gerät man dabei schon in Widerspruch zur Wahrhaftigkeit, Satya. Zwar lügen Sie nicht direkt, wenn Sie Ihrer alten Lehrerin nichts sagen, aber es käme zu einem Widerspruch zwischen Ihrem Inneren und Ihrem Handeln, würden Sie schweigend, als wäre alles in Ordnung, den Kurs bei ihr wiederaufnehmen. In gewissem Sinne gaukelten Sie ihr etwas vor.

Entscheidend wäre für mich am Ende Aparigraha, das Nicht-Ergreifen oder Nicht-Besitzen. Und zwar auf Seiten Ihrer alten Lehrerin: Um die Erwartung zu hegen, nach ihrer Abwesenheit den alten Kurs wieder übernehmen zu können, müsste sie diesen Kurs als ihren Besitz betrachten, an ihm festhalten. Das aber verstieße gegen das Gebot des Aparigraha. Eine Verpflichtung, wieder zur alten Lehrerin zurückzuwechseln, stünde also im Widerspruch zu dem, was im Kurs gelehrt wird.

Literatur:

Mit Schwerpunkt auf dem körperlichen Übungsteil aber auch einer Einführung in die philosophischen Grundlagen: B.K.S. Iyengar, Yoga. Der Weg zu Gesundheit und Harmonie, Dorling Kindersley, London, New York, München und Delhi 2001

Reinhard Palm: Der Yogaleitfaden des Patañjali. Sanskrit/Deutsch, Reclam, Stuttgart 2010Mircea Eliade: Yoga, Insel Verlag, Frankfurt am Main, 2004

Helmuth von Glasenapp (Hrsg.), Indische Geisteswelt. Eine Auswahl von Texten in deutscher Übersetzung, 2 Bände, antiquarisch erhältlich in verschiedenen Ausgaben, z.B. Sonderausgabe in einem Band, Holle Verlag, Baden Baden 1975

Für das Thema der Ähnlichkeit der Gebote in unterschiedlichen Religionen und Kulturen stehen der Name Hans Küng und sein Projekt Weltethos:

Hans Küng, Projekt Weltethos, Piper Verlag, München 1992

Hans Küng (hrsg.) Ja zum Weltethos. Perspektiven für die Suche nach Orientierung, Piper Verlag München 1995

Hans Küng, Karl-Josef Kuschel (Hrsg.), Wissenschaft und Weltethos, Piper Verlag, München 1998

Illustration: Serge Bloch