Die Gewissensfrage

Unsere Leserin stellt Menschen zur Rede, die in der S-Bahn ihre Füße auf den Sitz legen. Ihr Bekannter meint, das dürfe sie nicht. Wer hat recht?

»Mich ärgert es, wenn Leute in der S-Bahn ihre Füße mit den Schuhen auf die Sitze legen, ohne zum Beispiel eine Zeitung darunter zu tun. Deshalb – es erfordert schon Mut – spreche ich sie darauf an, allerdings ganz höflich. Die Reaktion war fast immer freundlich. Nun sagt ein Bekannter, dass ich nicht das Recht hätte, die Leute zu erziehen. Hat er recht?« Corinna L., München

Ja, Ihr Bekannter hat recht. Sie haben nicht das Recht, fremde Menschen zu erziehen. Das haben eigentlich nur Eltern gegenüber ihren Kindern, und schon dort funktioniert es nicht immer. Erwachsene sind nicht nur ziemlich erziehungsresistent, es ist auch schwierig zu begründen, woher ein Recht kommen sollte, sie zu erziehen. Aus der Tatsache, dass Sie sich über etwas ärgern, auf jeden Fall nicht.

Meistgelesen diese Woche:

Das bedeutet allerdings nicht, dass Sie kein Recht hätten, die Leute darauf anzusprechen. Das haben Sie sehr wohl. Aber nicht um sie zu erziehen, sondern um sich selbst und andere zu schützen. Füße ohne Unterlage auf die Sitze zu legen, bedeutet praktisch, die Sitze schmutzig zu machen, und den Schmutz hat dann der oder die Nächste an der Hose oder am Rock. Sie verteidigen mit Ihrem Hinweis also die allgemeine Hygiene, die gemeinschaftlich benutzten Sitze in der Bahn und die Sauberkeit der Kleidung der nachfolgenden Fahrgäste. Dazu sind Sie durchaus berechtigt.

Womit wir bei der Frage wären, wie man die beiden Aspekte trennen kann. Und da wird es schwierig, zumal sie sich überschneiden. Ich halte es für unsozial, seine Schuhe auf die Sitze zu legen, und finde deshalb, man sollte es generell bleiben lassen. Und Sie haben recht, im Grunde sollte man etwas sagen. Wenn das mehr Menschen täten, würde dieses unsoziale Verhalten vermutlich weniger. Dennoch enthält mir der gegenüber Fremden laut ausgesprochene Hinweis eine zu starke erzieherische Komponente. Deshalb würde ich unterscheiden: Hinterlassen die Schuhe sichtbar Schmutz, etwa an einem Tag mit Schneematsch, halte ich eine Bitte, das zu unterlassen, für vollkommen angebracht. Geht es dagegen mehr ums Prinzip, ist mir persönlich ein theoretisch möglicher Fleck in meiner Kleidung lieber als öffentliche Ermahnungen.

Literatur:

Die Problematik der Legitimation von Erziehung behandeln:

Micha Brumlik, Advokatorische Ethik. Zur Legitimation pädagogischer Eingriffe. Philo Verlag, Berlin, 2. Auflage 2004

Christoph Schickhardt, Kinderethik. Der moralische Status und die Rechte der Kinder, mentis Verlag, Münster 2012