Alles, was zählt

Warum ist der Begriff »Erbsenzähler« eigentlich so negativ behaftet? Heute kann der Mensch so gut zählen wie noch nie – und das Zählen hat sogar eine heilsame Wirkung.

Das Zählen von Dingen hat den Menschen stets Freude, aber auch Leid bereitet. Mancher empfindet geheimes Vergnügen daran, auf dem Weg zur Arbeit die Haustüren zu zählen, an denen er vorbeikommt, oder die Zahl der Menschen, die eine Mütze tragen, mit jener der Barhäuptigen abzugleichen – oder vielleicht auch morgens ganz für sich eine statistische Erfassung der Hunderassen vorzunehmen, denen er begegnet, bevor der graue Alltag im Schatten des Chefs beginnt.

Es gibt aber auch Menschen, die immerwährendes Zählen als Zwang empfinden, unter dem sie leiden. Sie begeben sich, wenn es gut geht, in therapeutische Behandlung, um von ihrem Kummer zu berichten, aber auch, um bei dieser Gelegenheit wieder und wieder zu kontrollieren, ob sich die Zahl der Tapetenstreifen in der Praxis des Betreuers im Vergleich zur Vorwoche verändert hat.

Neu ist: welche technischen Gerätschaften uns bei der täglichen Zähltätigkeit unterstützen. Zum Beispiel tragen Bürger, die gern ihre Schritte zählen, neuerdings Armbänder, die dies für sie erledigen. Activity Tracker erfassen auch alle Schwimmbewegungen, Fahrrad-Tritte, Ruderzüge, das Auf und Ab des Pulses, bald sicher auch den Druck des Blutes. Und nicht nur das! Sie können diese Daten mit der Menge der pro Tag verzehrten Kürbiskerne, Knoblauchpastillen und Müsliflocken multiplizieren, dies durch einen Schweinshaxn-Koeffizienten teilen und nach einer Reihe weiterer algorithmischer Exerzitien dem Träger sein aktuelles Todesdatum mitteilen, welches er durch gesunde Lebensführung immer weiter hinausschieben sollte. Ich persönlich lasse mit Hilfe einer App im Telefon die am Wochenende zurückgelegten Ski-Kilometer zählen und stellte dabei kürzlich fest, dass ich eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 120 Kilometern pro Stunde erzielt hatte, ein Wert, der den Sieger eines Rennens auf der Kitzbüheler Streif neidisch machen würde. (Bis ich kapierte, dass ich vergessen hatte, den Ski-Tracker vor der Heimfahrt mit dem Auto abzuschalten, hatte ich eine Stunde in einem unvergleichlichen Gefühl von Großartigkeit gelebt: sechzig Minuten, die mir keiner mehr nehmen kann.)

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Man sollte meinen, die Zählfähigkeit des Menschen sei so an einem nicht zu überbietenden Gipfelpunkt angekommen. Doch zählt der Mensch ja nicht nur als Einzelwesen, sondern auch in der Gemeinschaft. Beispielsweise hat, wie ich bei der Lektüre der Architekturseite archdaily.com feststellte, das Department of Parks & Recreation der Stadt New York mit Hilfe von 2300 Freiwilligen die Bäume in Manhattan, Brooklyn, Queens und so weiter zählen lassen und ist auf 685 781 gekommen.

Und, bitte, jeder Baum hat eine Identifikationsnummer bekommen, man kann ihn auf einer Stadtkarte anklicken und ein Foto von ihm sehen, ja, es ist möglich, festzustellen, dass der Erdboden um den Gingko Nr. 3754593 vor der Apotheke in der Hausnummer 4721 in der 8th Avenue in Brooklyn am 30.12.2016 gejätet und gemulcht wurde. Fast wundert es, dass nicht jedes seiner Blätter einen Namen bekam und der Tag seines herbstlichen Falls verzeichnet wurde! Auch erfährt man, wie viele London-Platanen es in New York gibt (88 165) und dass dies der dort häufigste Baum ist, 13 Prozent aller New Yorker Bäume sind London-Platanen.

Den New York-Tourismus wird das auf eine neue Stufe heben. »Kennst du die Weiß-Esche vor 561 Cauldwell Avenue in der Bronx? Immer wenn ich dort bin, fahre ich vorbei.« – »Ja, und der Lederhülsenbaum in der 231. Straße, das ist in Rosedale, es gibt 633 davon im Viertel, aber diesen mag ich am liebsten.« – »Wusstest du, dass es von dort zur Roteiche Nr. 2615693 in der 232nd Street 349 Schritte sind? Man verbraucht dabei 3,4 Kalorien.«

Ach, es gibt so viel zu zählen! Mülltonnen in Caracas. Grashalme in Bochum. Sahnetorten in Travemünde. Geschirrhandtücher in San Sebastián. Zählen beruhigt. Es lenkt ab. Und was brauchen wir in diesem Jahr mehr als Beruhigung und Ablenkung?

Illustration: Dirk Schmidt