Musikalische Massenresignation

Noch vier Wochen bis zur Bundestagswahl, doch von leidenschaftlichen Debatten ist weit und breit nichts zu hören. Nur ein Blick auf die Spitze der Charts, wo Vanessa Mai gerade über den Regenbogen tanzt, verrät, wie es im Inneren der Nation aussieht.

So bonbonfarben wie ihre Musik: Schlagersängerin Vanessa Mai

Wer wissen will, wie es um Deutschland kurz vor der Bundestagswahl bestellt ist, muss genau hinhören. Zunächst ist es vor allem: still. Der Wahlkampf verlief so unspektakulär, dass die New York Times schon fast besorgt darauf hinwies, das Land leide unter Massenresignation.

Gäbe es zu diesem Wahljahr einen Soundtrack, es wäre kein Knistern, sondern ein monotones Surren. Die Kanzlerkandidaten absolvieren ihr Programm allenfalls pflichtbewusst, ähnlich leidenschaftslos bleibt die Stimmung der Wähler. Musikalisch regiert vier Wochen vor der Wahl jedoch der Patriotismus: Die Top 10 der Album-Charts sind fast ausschließlich von deutschen Titeln besetzt. Musik ist ein verlässliches Meinungsbarometer. Wie sieht es also wirklich aus im Herzen der Nation?

Mal reingehört. Platz eins, »Regenbogen« von Vanessa Mai: säuseliger Schlagerpop, Liebeslieder, die inhaltlich an ein bonbonfarbenes Poesiealbum erinnern. »Der Film steckt fest im Happy End. Wir bleiben hier im schönsten Moment«, singt Mai. Solch blinder Hedonismus mag politisch gefährlich sein, ist aber perfekt geeignet, um im Jeep-Cabrio und in weißen Leinenhosen durch die Balearen zu fahren. Noch ist ja Ferienzeit, vielleicht ist im All-Inclusive-Urlaub einfach kein Platz für Wahlkampfstimmung.

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Auf Veränderungen scheinen die Hörer (und Wähler?) wohl gerade auch keine Lust zu haben. Vielleicht klingen deshalb viele Hits aus der Liste so, als hätte sich seit der letzten Wahl nicht viel getan. Vanessa Mai, 25 Jahre alt und seit kurzem mit ihrem Manager verheiratet, gab zuletzt in einem Interview zu, wie gern sie für ihren Mann koche und aufräume. Ihre Lieder klingen seltsam vertraut, ein Pop-Hit-Medley der vergangenen Jahrzehnte, dem man Dieter Bohlens Produzentenhand deutlich anhört. Platz Nummer sieben der Album-Charts, »Sing meinen Song – Das Tauschkonzert Vol. 4«, zelebriert übrigens ebenfalls Künstler, die sich gegenseitig recyceln.

Auch Helene Fischer (»Helene Fischer«, Platz drei), Olaf, der Flipper (»Daumen hoch«, Platz vier) und Die Amigos (»Zauberland«, Platz sechs) verkörpern ihr bewährtes Genre von »Faust-in-die-Luft«- bis Schunkel-Schlager. Man könnte meinen, das Land möchte sich zu Zeilen wie »Halt mich, küss mich, unbekannter Engel« voller Wohlgefallen in den Eskapismus schunkeln. Helene Fischer, die zu ihrer aktuellen Tour unter anderem fünfmal in Folge im Olympiastadion in München auftreten wird, wird nicht gerne ernst genommen. Aber am Ende haben vermutlich mehr Menschen ein Helene-Fischer-Konzert gesehen als das diesjährige Kanzlerduell.

Wo bleibt das Aufbegehren? Dafür sollte eigentlich der Deutschrap zuständig sein, der neben deutschem Schlager die Charts bestimmt. Leider kommen die Strophen auf den Alben von Massiv (»BGB X«, Platz acht), Manuellsen (»Der Löwe«, Platz zehn) und den Hamburgern 187 Strassenbande (»Sampler 4«, Platz fünf) nicht über das Erwartbare hinaus. Sie klingen so subtil wie schwere Goldketten und Chromfelgen. Inhaltlich folgen die Tracks dem typischen Gangsta-Rap-Schema: Es geht um Geld zählen im Range Rover, Schusswaffen und Frauen namens Candy. Zum Politikum wird in den Texten allenfalls der Rauschgiftkonsum in der Vorstadt. Passivität ist King: »Fickt die Welt ist meine Message«, rappt 187 Strassenbande. Es ist nur breitbeiniges Gepose, wenn der Deutsch-Araber Massiv in seinen Texten mit Taliban und Twin-Tower-Metaphern um sich schießt.

Der einzige nicht-deutsche Künstler in den Top 10 ist der Noch-EU-Bürger Ed Sheeran. Das Album des Briten heißt zwar passend »Divide« (Platz neun), doch zu »Galway Girl« lässt es sich so sorglos mitsingen, als sei der Brexit nie geschehen. Zusammenfassend kann man sagen: Die Charts drehen sich in Ruhe um sich selbst, während sich die Erde weiterdreht.

In einem »Meer aus Veränderung«, so stand in der New York Times, sei Angela Merkel der Fels in der Brandung. Kein Wunder also, dass der Wahlkampf auch musikalisch zur Massenresignation anstiftet. In unruhigen Zeiten sucht der Mensch Zuflucht in Altbekanntem – das gilt für die Politik genauso wie für die Charts. Vielleicht ist das schlecht. Vielleicht ist es aber auch menschlich, sich zu wünschen, dass zumindest in einem Bereich alles beim Alten bleibt: Wie auch immer die Wahl am 24. September ausgehen wird – Helene Fischer bleibt der Fels, der unbeirrt gegen die Brandung ansingt.

Foto: Sandra Ludewig/Sony Music