Das Rezept seines Lebens

Der Modedesigner Azzedine Alaïa zeigt seine Kollektionen nicht, wenn es alle anderen tun, sondern dann, wenn sie reif sind. Was das bedeutet und warum seine Kleider zu den begehrtesten zählen – das versteht man am besten, wenn man ihn in seiner Küche besucht.

Das Lieblingsrestaurant der Modewelt steht in keinem Reiseführer. Es gibt dort keine Speisekarte, man kann nicht reservieren. Wer hier im Pariser Stadtteil Marais an einer der beiden langen Tafeln essen will, muss vom Hausherrn eingeladen werden. Vielleicht sitzt man dann mit Rihanna oder Naomi Campbell beim Dinner oder zwischen Julian Schnabel und einem Modefotografen. Vielleicht ist der Tischnachbar aber auch ein Praktikant oder einfach ein Freund des Hauses. Die übliche Hackordnung der Branche gilt hier nicht, unter dem großen Oberlicht wird jeder Gast gleich behandelt. Höchstens die Hunde bekommen manchmal ein extra Stück Fleisch unter dem Tisch hingehalten: Didine, ein riesiger Bernhardiner, und der Malteser Waka Waka, der nicht zufällig wie der WM-Song von Shakira heißt. Er ist ein Geschenk der Sängerin.

»Chez Alaïa« könnte man diesen Ort nennen, an dem gerade Platten mit gefülltem Chicoree, gemischter Salat, Brot und Schälchen mit Kräuteröl als Vorspeise serviert werden. Denn man sitzt tatsächlich bei Azzedine Alaïa zu Hause am Küchentisch. Alaïa, tunesischer Designer, Körpergröße 1,58 Meter, wurde in den Achtzigerjahren mit seinen anschmiegsamen Lycra-Kleidern und den Kapuzenroben, die Grace Jones trug, bekannt. Er gehört zu den größten Couturiers unserer Zeit.

Dabei tut dieser Mann eigentlich alles, um im heutigen Modesystem nicht erfolgreich zu sein. Statt ständig wechselnden Trends zu folgen, macht er im Grunde immer das Gleiche: Strickkleider mit Glockenröcken, perforiertes Leder, kurze Tops, leicht variiert, weiter perfektioniert. Alaïa hat noch nie eine Seite Modewerbung geschaltet. Will eine Schauspielerin ein Kleid von ihm auf einem Event tragen, muss sie es sich persönlich bei ihm in Paris abholen. Alaïa veranstaltet auch keine bombastischen Modenschauen, sondern präsentiert seine Entwürfe im hauseigenen Showroom, schräg unterhalb der Küche. Die aktuelle Kollektion für diesen Herbst sollte Ende März vorgestellt werden – Wochen später als die Schauen der anderen Marken. Seit Jahren richtet sich Alaïa nicht mehr nach dem Prêt-à-porter-Kalender, sondern zeigt seine Kollektionen, wenn sie »reif« sind, wie er es formuliert. Allerdings gab es diesmal dann gar keine Schau, die per Mail angekündigten Einladungen wurden nicht abgeschickt. Bei jedem anderen Modeschöpfer wäre das ein Eklat, mindestens ein Zeichen für eine Schaffenskrise. Bei Alaïa überraschte es niemanden. Längst genießt er so etwas wie Narrenfreiheit im Betrieb. Am Ende entschied er sich für ein Defilee während der Haute-Couture-Schauen im Juli. Der Abschlussapplaus dauerte locker fünf Minuten. Blicken ließ sich Alaïa trotzdem nicht. Interviews gibt er auch eher selten, und wer doch einen Termin bei ihm bekommt, darf – oder muss, abzulehnen war keine Option – vorher am gemeinsamen Mittagessen teilnehmen. Als Willkommensgeste, verbunden mit der stillen Hoffnung, der Gast möge nach drei Gängen auch der Konversation satt sein. Alaïa plaudert gern, aber er redet nicht viel.

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Heute sitzen hier rund 35 Leute beisammen: das gesamte Atelier, die Geschäftsführerin Alison Sachs, Models, dazu der langjährige Lebensgefährte des Designers, der deutsche Maler Christoph von Weyhe. Später wird er spontan noch zwei Einkäufer aus New York dazubitten, die unten im Showroom waren. »Wie die Mode-Version der Speisung der Fünftausend«, schrieb die Vogue-Kritikerin Suzy Menkes einmal über die Atmosphäre hier. Nächstenliebe und Sattwerden gehören nicht zu den ersten Stichworten, die einem zur Modebranche einfallen, doch in Alaïas Küche ist es anders. Als ich vergeblich versuche, ein Chicoree-Schiffchen mit dem Vorlege- besteck in den Griff zu bekommen, bedient sich Alaïa mit den Fingern und signalisiert mit freundlichem Lächeln, es ihm gleichzutun. Alaïa sitzt am Kopf und trägt wie immer seine leicht verblichene, chinesische Arbeiteruniform mit Mao-Kragen. Im Hintergrund werkeln ein Koch und eine Küchenhilfe in der offenen Industrieküchenzeile. Statt exklusivem Interieur oder Kunst ist der eigentliche Blickfang im Raum ein riesiger roter Fleischwolf.

Die meisten Luxuslabels würden einen solchen Ort hermetisch abriegeln. Viel zu intim, viel zu wenig Modebezug. Nichts, was »auf die Marke einzahlt«, wie es im Marketing heißt. Bei Alaïa hingegen ist diese Küche im ersten Stock das Herzstück des ehemaligen Fabrikgebäudes, das ihm als Wohn- und Firmensitz dient. Wie hier gekocht, gegessen und miteinander umgegangen wird, hat auf den ersten Blick wenig mit Schlauchkleidern und Sanduhr-Silhouetten zu tun. In Wahrheit aber hat es sehr viel damit zu tun, wie Azzedine Alaïa Mode macht. Wenn Frauen wie die britische Architektin Sophie Hicks von einem Abend schwärmen, den sie auf einem dieser mittelbequemen Metallstühle verbracht haben, dann tun sie das aus dem gleichen Grund, aus dem sich Frauen aus aller Welt für die Marke begeistern: weil sie sich mit Alaïa so wohlfühlen.

Bei ihm geht es um zwei Elemente des Lebens, Nahrung und Kleidung. In beiden Dingen ist er der ideale Gastgeber. Er kümmert sich um das leibliche Wohl, innen wie außen. Beides so einfach und gut wie möglich. Was nur geht, wenn die Sachen eben »reif« sind. Doch in der Mode werden viele Designer von immer kürzeren Zeitplänen und kommerziellem Druck gestört. Das Ergebnis: ein Haufen halbgares Zeug in den Läden.

Es gibt eine alte Videoaufnahme von einer seiner ersten Modenschauen, Mitte der Achtzigerjahre in Paris. Alaïa muss damals um die 45 gewesen sein, als Geburtsdatum ist nur »zirka 1940« bekannt. Er hat noch einen fluffigen, pechschwarzen Lockenkopf statt der kurzen glatten Haare von heute, trägt aber schon seine Mao-Uniform und klobig-bequeme Schuhe, während er mit Stecknadeln im Mund die letzten Kleider absteckt. Der Laufsteg ist eine Schneise durch eine kleine Altbauwohnung, die Gäste sitzen gedrängt und warten seit einer Ewigkeit auf die Show eines Designers, den damals selbst in der Branche nur wenige kennen. Doch dann laufen die begehrtesten Models der Stunde auf: Cindy Crawford, Tatjana Patitz, Stephanie Seymour. Das Supermodels-Ding, sagt Suzy Menkes, habe im Grunde nicht mit Gianni Versace, sondern mit Alaïa angefangen. Aber wie konnte das sein? Wo diese Models sonst höchstens mal für eine Chanel-Show nach Paris kamen? Später hat es Seymour in einem Interview aufgeklärt: »Wir wollten keine Bezahlung, wir wollten die Kleider – wir rissen uns förmlich darum.« Die Frauen wirkten in diesen neuen, körperbetonten Schnitten unglaublich sexy, aber nicht auf eine vulgäre, sondern auf eine starke Art. Die unifarbenen Kleider modellierten den Körper, umspielten ihn. Brust und Po wurden gehoben, der Bauch sanft weggedrückt.

Bei Alaïa gab es für die Models »backstage« – Umkleidekabine war die Küche – immer etwas zu essen, Couscous mit Wurst und Spiegelei. Bei Bedarf auch einen Schlafplatz. Als der gerade 16-jährigen Naomi Campbell in Paris das Portemonnaie samt Ausweis geklaut wurde und sie nicht abreisen konnte, rief Alaïa ihre Mutter an, um ihr mitzuteilen, so ein junges Mädchen könne unmöglich im Hotel bleiben, Naomi werde bis auf Weiteres bei ihm wohnen. So liebenswürdig der Mann mit den tiefschwarzen Augen von unten hochschauen kann, so resolut kann er werden. Er habe aufgepasst wie ein Schießhund, dass das Mädchen nachts nicht in die Clubs geht, sagt Alaïa. »Aber Naomi war ja immer so frech, am Ende ist sie doch ausgebüxt.« Einmal flog sie die Treppe herunter. Eis zum Kühlen gab es keins im Haus, Alaïa fand etwas Besseres: eine gefrorene Lammkeule. Campbell hat bis heute ein Zimmer bei »Papa«, wie sie ihn liebevoll nennt. Neulich war ein Bild auf Instagram, wie sie hier am Tisch sitzt und Brik, tunesische Teigtaschen, isst, »im besten Restaurant von Paris«.

An diesem Mittag gibt es als Hauptgang Huhn, Sonnenweizen, Möhrengemüse. Hausmannkost. Platten und Schüsseln werden in die Mitte gestellt, jeder soll sich bedienen. Wer nur ein kleines Stück Brust nimmt, bekommt einen tadelnden Blick von Alaïa. Früher hat er oft selbst auf dem Markt eingekauft und dann zwischen den Anproben ein Menü für das ganze Atelier gezaubert. Langjährige Mitarbeiter meinen, er, der oft bis spät in die Nacht arbeite und sich deshalb zeitweise eine Eule zur Gesellschaft hielt, könne sich am Herd am besten entspannen.

Arbeiten, ernten, teilen – mit diesen Parametern wuchs Alaïa auf. Sein Vater war Weizenbauer und meistens auf dem Feld, der Junge und seine Zwillingsschwester wuchsen bei der Großmutter in Tunis auf. Die Tür des Hauses stand immer offen, am Tisch wurde stets ein extra Teller gedeckt. »Damit sich jeder jederzeit willkommen fühlte«, sagt Alaïa. Eines Tages stand ein Bettler mit seiner kleinen Tochter vor der Tür, als die Familie gerade beim Essen saß. Der Vater schickte ihn nicht weg, sondern ließ Alaïa seinen Teller mit dem Mädchen teilen. Am nächsten Tag ging der Bettler, aber das Mädchen blieb und lebte fortan wie eine adoptierte Schwester mit im Haus.

Es sind überhaupt vor allem die Frauen, die sein Leben geprägt haben und von denen er gelernt hat, was er über sie und den weiblichen Körper weiß. Mit zehn verbrachte er die Nachmittage gelegentlich bei einer Hebamme, die eine Freundin der Familie war. Bei ihr entdeckte er die ersten Modezeitschriften. Und gelegentlich wurde dort eben auch ein Kind geboren. »Ich weiß bis heute, an welcher Stelle man die Nabelschnur abtrennt«, sagt er und zeigt mit seiner Hand drei Fingerbreit an. Was er dort aber noch viel Wichtigeres lernte: wie stark Frauen sind – und wie sie gleichzeitig doch mit ihrem Körper hadern, wenn er sich verändert.

Alaïa war immer ein kleines Label mit eingefleischter Fangemeinde. Im Jahr 2000 verkaufte er überraschend an Prada – und kaufte seine Anteile sieben Jahre später zurück. Daraufhin stieg der Schweizer Luxuskonzern Richemont bei ihm ein, zu dem auch Cartier und Chloé gehören. Zuletzt sollen die Jahresumsätze bei fünfzig Millionen Euro gelegen haben, bei Harrod’s in London und Barney’s in New York gehören Alaïas Kollektionen zu den bestverkauften. Insider fragen sich, wann Richemont anfangen wird, die Marke Alaïa auszupressen. Immerhin wird schon ein Flagshipstore auf der Londoner Bond Street eröffnet, ein weiterer in Dubai ist geplant. Vor einiger Zeit ging das Gerücht um, Phoebe Philo vom französischen Modelabel Céline werde das Design übernehmen. Auch deshalb rennen sie in Scharen zu ihm, wenn er zum Abendessen lädt: weil klar ist, dass es dieses Haus und diese Tafeln nicht mehr ewig geben wird. Alaïa muss weit über siebzig sein. Was Leute – egal, ob sie nun der Modebranche angehören oder nicht – an diesem Ort ebenfalls schätzen: Es wird über diese Branche fast nie geredet. Lieber über die Ausstellung eines jungen Künstlers, die demnächst unten im Showroom zu sehen sein wird. Mittlerweile wird dort häufig Kunst präsentiert. Jemand witzelt, es sei ein Segen, dass nicht Alaïa die Exponate entwerfe, sonst müssten sie womöglich auch diese Schau noch absagen.

So wenig wie sich Alaïa an Schauenkalender hält, so wenig richtet er sich nach den üblichen Auslieferungszeiten. Wann genau die bestellte Ware eintreffe, wüssten sie nie, sagt Emmanuel de Bayser, Mitinhaber des Modegeschäfts The Corner in Berlin. Bei anderen Labels undenkbar, »bei Alaïa ist es im Grunde egal«, meint de Bayser: »Seine Sachen sind Klassiker. Es gibt Kundinnen, die nur Alaïa tragen, wenn sie es sich leisten können.« Die Strickkleider kosten schnell mehr als 2000 Euro, Schuhe ab 800 Euro. Nichts wird reduziert, weil selten etwas übrig bleibt. »Die Passform ist unübertroffen«, sagt de Bayser. »Auch nach Jahren stimmt hier jede Naht.« Alaïa sei der letzte echte Couturier, der seine Entwürfe immer noch selbst absteckt, Schnittmuster anfertigt, zuschneidet. »Das macht heute keiner mehr. Das kann heute auch keiner mehr.« Alaïa hat nie eine Modeschule besucht. Mit 16 verschwieg er sein wahres Alter und schrieb sich in Tunis an der Hochschule für angewandte Künste in Bildhauerei ein. Bis heute modelliert er seine Kleider regelrecht auf den Leib. Der Louis-Vuitton-Designer Nicolas Ghesquière sagte einmal, er habe immer gedacht, in der Mode gehe es vor allem um Dekoration. Erst durch Alaïas Arbeit habe er begriffen, dass es um Struktur und Aufbau gehe. Währenddessen landete Alaïa bei einem Schneideratelier und fertigte dort bald, wie damals üblich, Kopien der großen Designer für die Damen der gehobenen Gesellschaft an. Sein Ruf war so gut, dass eine Freundin der Familie ihn 1957 in Paris bei Dior empfahl. Doch bereits nach fünf Tagen war er wieder gefeuert. Der Algerienkrieg war immer noch in vollem Gange, nordafrikanische Männer mit dunklen Locken hatten zu dieser Zeit einen schweren Stand. Eine tunesischstämmige Bekannte seiner Familie besorgte ihm einen Job als Babysitter und Haushälter bei einer reichen Familie. Die stellte ihm ein Schreiben aus, damit die Polizisten ihn gewähren ließen, wenn er die Kinder spazieren fuhr. Später arbeitete er für den Modeschöpfer Guy Laroche.

Ein charmanter Zug der Geschichte, dass er später ausgerechnet von Dior das Angebot bekam, Chefdesigner zu werden. Das war 2011, nachdem John Galliano wegen antisemitischer Äußerungen gefeuert worden war. »Zu spät«, sagt Alaïa heute, natürlich habe er abgelehnt. »Sie hätten mir nichts mehr bieten können. Ich habe ja alles, was ich brauche.«

Wegen seiner Statur neigen viele dazu, den Couturier zu unterschätzen. Es gibt all diese Fotos von ihm mit berühmten Models, die ihn weit überragen. Das Bild, wie Grace Jones ihn auf Händen über eine Bühne trägt, ist legendär. Doch Alaïa kann auch anders, wenn er sich verletzt fühlt. 2009 wählte das Metropolitan Museum of Art als Ausstellungsthema »The Model as Muse«. Naomi Campbell und sechs weitere Models bekamen von »Papa« bereits Kleider für die prestigeträchtige Eröffnungsgala angepasst, als sich herausstellte, dass Anna Wintour, US-Vogue-Chefin und Co-Kuratorin, Alaïa mit keinem Ausstellungsstück bedacht hatte. Ihn, den Lieblingsdesigner so vieler Models! Er tobte. Aus Protest blieb Campbell der Veranstaltung fern, und bis heute hat er der US-Vogue nie wieder Kleider für Fotoproduktionen zur Verfügung gestellt. So weit draußen aus dem Modesystem wollte Alaïa dann doch nicht sein.

Die Tische sind längst abgeräumt, die Küche verwaist, aber der Hausherr sitzt immer noch und wartet darauf, dass auch der letzte Gast gehen möge. Eine Sache muss ich ihn aber noch fragen: Hat er nie darüber nachgedacht, ein richtiges Restaurant zu eröffnen? Wo er doch oben im Haus vor ein paar Jahren eine Art Bed & Breakfast für Freunde eingerichtet hat? Wo doch selbst die Armanis, Dolces und Pradas ihre Lokale haben, obwohl von denen bisher nicht bekannt ist, dass sie passionierte Köche wären? Alaïa kichert kurz, schüttelt den Kopf und schiebt den Stuhl zurück, um sich zu erheben. Er müsse jetzt wirklich wieder nach nebenan. Ein Mantel wartet noch auf ihn. Ein Entwurf, an dem er seit fünf Jahren arbeite. Er sei aber noch nicht reif.

Foto: Paolo Roversi