Papas Glücks-Geheimnis

Unsere Autorin fand immer eigenartig, dass ihr Vater ein Leben lang denselben Job machte. Erst als sie mal mitging, verstand sie, warum er ein zufriedener Mensch ist.

Foto: privat

Warum mein Vater mich immer in den Schulferien fragte, ob ich ihn zur Arbeit begleiten wolle, habe ich nie verstanden. Ich fand, ich hatte Wichtigeres zu tun – und wenn es nur Fernsehen oder Entenfüttern war. Sein Job erschien mir langweilig, seine Lebensführung unspektakulär: Zum Auszug aus dem Elternhaus musste ihn seine erste richtige Freundin, meine Mutter, regelrecht überreden. Als ich auf die Welt kam, nahmen sich die beiden eine größere Wohnung, Lage: zwei Stockwerke weiter oben. Hier werden sie alt werden. »Schaffe, schaffe, Häusle baue« ist in unserer Heimat die Maxime. Aber Papa baute nie, und das Schaffen war ihm auch nie das Wichtigste.

Vierzig Jahre lang arbeitete er als Fernmeldehandwerker – verbeamtet. Aus seiner Abteilung der Deutschen Bundespost ging in den Neunzigern die Telekom hervor. Für Papa änderte sich nichts. Von der Ausbildung bis zur Rente wechselte er nicht einmal seine Position. Wenn ein Angebot kam, Bürojob mit mehr Gehalt und mehr Prestige, lehnte er sofort ab: »Da könnte ich gar nicht mehr zu Fuß ins Geschäft gehen«, sagte er mir. Und dumm herumsitzen wolle er auch nicht.

Ich verstand dieses sture Geradeaus nie. Als Kind fragte ich mich, warum Papa nicht ständig neue Geschäftsautos bekam, so wie der Vater meiner Freundin Kerstin. Weshalb er mit uns immer nach Italien fuhr, aber nie wie unsere Nachbarn in die USA flog. Ich wollte unbedingt in einem Haus leben oder aus Prinzip wenigstens mal in eine neue Wohnung ziehen. Wenn unsere Bekannten Beamtenwitze machten, war ich stellvertretend für meinen Vater gekränkt. Besonders nervte mich, dass er auf alle meine Zukunftssorgen mit demselben Rat reagierte: »Chill mal!«

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Im Sommer vor zwei Jahren – meine Schulzeit war schon lange her – fragte mich mein Vater wieder, ob ich ihn zur Arbeit begleiten wolle. Und jetzt, mit 26, sagte ich Ja. Die nächsten Wochen sprach er in bester Laune von unserem »Vater-Kind-Projekt«. Als es so weit war, gab er mir ein Namensschild. »Fräulein Gassmann« hatte er mit Kuli darauf geschrieben. Ich meckerte über die Verniedlichung, steckte es aber an meine Jacke. Wir fuhren zu Verteilerkästen und Schaltzentralen, dann richteten wir einer Frau mit fünf Katzen ihr Internet ein. Mein Vater stellte mich als seine Praktikantin vor und übertrug mir Aufgaben, »Bitte holen Sie mal die Broschüre aus dem Auto, Fräulein Gassmann«. Alle zwei Stunden machten wir eine Kaffeepause. Wenn ein Telefonbesitzer über seine Firma schimpfte, zwinkerte Papa: »Wissen Sie, die anderen sind noch schlimmer.« Da lachte der Telefonbesitzer. Manchmal musste mein Vater nur einen Stecker aus- und wieder einstecken, schon stand er als Held da. Nach Feierabend, genau genommen Feiernachmittag, saßen wir auf dem Balkon und tranken wieder Kaffee.

Er erzählte mir von seiner Kindheit. Seinen Vater hat er damals kaum gesehen, der war immer nur im Geschäft. Und auf einmal wurde mir klar: Papas Work-Life-Balance war ein Traum. Er arbeitete viel, mehr als genug. Aber immer war er recht- zeitig auf seinem Fahrrad, im Schwimmbad, bei seiner Familie.

Die meisten Berufstätigen heute, auch ich als Journalistin, sind ja getrieben von der Logik: Veränderung bedeutet Erfolg, und Erfolg ist das Ziel. Wenn wir immer hetzen, achten wir allerdings nicht auf den Weg. »Beschleunigung des Lebenstempos« nennt der Soziologe Hartmut Rosa diese Entwicklung in modernen Gesellschaften: Wir nehmen Zeit als knappe Ressource wahr. Wir essen schneller, schlafen weniger, sprechen kaum mehr mit der Familie, »eine logische Folge aus einem wettbewerbsorientierten kapitalistischen Marktsystem«, sagt Rosa.

Mit seinem dahergepfiffenen »Nein Danke« zu allen Aufstiegsmöglichkeiten hat mein Vater dieses Prinzip umgekehrt. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Er war nie faul – trotz all der Kaffeepausen und freien Tage arbeitete er sehr gut. Und er, der stets die schwierigen Fälle seiner Kollegen übernahm, musste nie an sich zweifeln. Die Unternehmenszeitung lobte Papa als »Ein-Mann-Winning-Team«, die Kunden überhäuften ihn mit Pralinen und Kaffee. Im Winter ließen sie ihn ihre selbst gebackenen Plätzchen aufessen.

Das ist Papas Lebensgeheimnis: Wenn sich etwas gut anfühlt, einfach beibehalten. Laut einer Studie der Techniker Krankenkasse ist über die Hälfte der Deutschen gestresst. Meinem Vater geht es gut. Er hat ein schönes, sinnerfülltes Leben.

Kürzlich wagte er doch eine Veränderung: Er ging vorzeitig in Pension. Das Frühverrentungsprogramm der Telekom ist verlockend – man könnte aber auch sagen: Es dient einem traurigen Zweck. Die letzten Beamten sollen ersetzt werden durch einfacher kündbare Mitarbeiter. Ich möchte nicht, dass mit Papas Ruhestand auch seine Vorstellung von Arbeit in Rente geht. Deshalb versuche ich, im Beruf gelassen zu bleiben. Das gelingt mir nicht immer. Aber wenn ich die Kaffeepausen wieder vergesse, schaue ich auf das Regal neben meinem Schreibtisch. Da liegt das Namensschild, das mir mein Vater für unseren gemeinsamen Arbeitstag geschrieben hat. In Gedanken höre ich ihn dann sagen: »Chill mal!«

Fotos: Laurens Grigoleit; privat