Stipendium für schwere Jungs

Der kalifornischen Stadt Richmond gelang, woran der Rest der USA scheitert: die Waffengewalt einzudämmen. Kernpunkt des Programms ist eine Geldzahlung, die auf den ersten Blick widersinnig erscheint.


Das Problem:
In Amerika sterben jeden Tag 85 Menschen durch Waffengewalt.
Wer hat die Lösung? »Operation Peacemaker« im kalifornischen Richmond.
Wie effektiv ist das? Reduzierung der Waffengewalt um 71 Prozent.
Was fehlt? Dass andere Städte das Modell nachmachen.

DeVone Boggan, 50, ist ein eher ungewöhnlicher Friedensbotschafter: Akkurat im Nadelstreifen-Anzug, immer mit einem Fedora-Hut auf der Halbglatze, läuft der eher klein gewachsene, rundliche Mann durch die gefährlichsten Straßen im kalifornischen Richmond; nur im Urlaub, wie auf dem Foto oben, sieht man ihn mal leger gekleidet. In Richmond kennt ihn jeder: Boggan war neun Jahre lang der »Sicherheitsdirektor der Nachbarschaft« – ein Titel, den er sich selbst gegeben hatte, nachdem ihn die Stadt Richmond engagiert hatte, um ihr drängendstes Problem zu bekämpfen.

Noch vor wenigen Jahren stand die Stadt mit ihren rund 100 000 Einwohnern, in der Bay Area nördlich von Berkeley gelegen, auf Platz neun in der Liste der gefährlichsten Städte Amerikas. Allein im Jahr 2009 wurden dort 47 Menschen erschossen und mehr als 200 weitere durch Schüsse verletzt.

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Boggan sollte sich auf die Brennpunkte konzentrieren, aber bald wurde ihm klar, »dass hier nicht die Straßen brennen, sondern die Menschen.« Von den Leuten in der Nachbarschaft, von der Polizei, von den Gangs, überall hörte er das gleiche: dass gut zwei Dutzend Männer für 70 Prozent der Gewalt verantwortlich waren, aber sich dem Zugriff von Polizei und Justiz beharrlich entzogen.

Boggan heuerte drei frisch aus dem Knast entlassene Verbrecher an und bat sie, die 27 gefährlichsten Straftäter zu einem persönlichen Treffen einzuladen – »aber in drei verschiedenen Gruppierungen, sonst hätten sie sich gleich die Köpfe eingeschlagen.« Er begann das Treffen mit einer Entschuldigung: Es täte ihm leid, dass es so lange gedauert habe, bis er direkt auf sie zugegangen sei. Jetzt habe er ihnen aber etwas anzubieten: eine neue Lebensperspektive. Zum Schluss rief er sie noch einmal zurück. Die Gangmitglieder, ohnehin misstrauisch, dass das Ganze eine Finte sei, um sie alle auf einmal zu verhaften, brachten sich in Stellung, um dem bevorstehenden Zugriff zu entgehen. Dann händigte Boggan jedem einzelnen einen Umschlag aus. Darin: kein Haftbefehl, sondern 1000 Dollar Bargeld.

Das war ein Stunt, den er seitdem nie wieder gemacht hat. Aber anfangs ging es ihm darum, die Anführer davon zu überzeugen, dass sie davon profitieren würden, wenn sie ihm vertrauten. Und es führte zu Schlagzeilen wie: »Eine Stadt bezahlt ihre Mörder.« Das ist inhaltlich nicht falsch, aber in der Verkürzung trotzdem irreführend, denn das Geld ist nur eines von vielen Puzzlesteinchen der »Operation Peacemaker – eines Programms, das seinesgleichen sucht.

Bis dahin hatte Boggan in Oakland mit jugendlichen Straftätern gearbeitet, auch er selbst war als Teenager wegen eines Drogendeals eingebuchtet worden. Daher wusste er: Die normalen Hilfsangebote der Sozialarbeiter erreichen die schweren Jungs nicht, und von der Straße weg verhaften lässt sich das Problem auch nicht, sonst wäre es ja längst gelöst. »Wenn einer verhaftet wird, rückt sofort ein anderer nach. Zu sagen, dass Jobs die Kugeln stoppen, ist nur eine Worthülse, denn die Wahrheit ist: Diese Jungs sind gar nicht bereit für normale Jobs, und die Jobs sind nicht bereit für diese Jungs. Diese Jungs sind isoliert und tragen eine enorme Menge an Wut mit sich herum.« Jungs wie Devon Rice, der zum ersten Mal im Alter von zwölf Jahren wegen bewaffneten Raubüberfalls eingesperrt wurde; er war obdachlos und versuchte, seine alleinerziehende Mutter finanziell zu unterstützen. Boggan entschloss sich, »jeden einzelnen der Jungs als Trauma-Überlebenden zu behandeln, nicht als Monster.«

Mit einer Million Dollar von der Stadt kreierte Boggan ein Acht-Punkte-Programm für die schlimmsten Verbrecher, eine Art Stipendium, wie es sonst nur bei Eliteunis üblich ist: »Ich wollte Privilegien für sie schaffen, Chancen, wie ich sie mir für meine eigenen Kinder wünsche, nichts weniger.« Die Eckpunkte: Gemeinsam mit jedem einzelnen entwirft er einen umfassenden Lebensplan für alle Bereiche ihres Lebens, inklusive Wohnsituation, Gesundheit, Ausbildung, Wutmanagement, Drogen, Job, Spiritualität, Spaß. »Ich sage ihnen nicht, sie sollen die Waffen niederlegen. Ich sage ihnen, wie sie ihr Leben auf die Reihe kriegen.« Das Wichtigste: Bei Fehlern werden sie nicht bestraft. Ein Programm, das darauf abzielt, Schusstote zu verhindern, solle keine Männer aus dem Programm werfen, weil sie schießen, argumentiert Boggan, denn dann würden sie einfach weiter schießen und man hätte nichts erreicht. »Wir haben nicht sporadisch, sondern jeden Tag Kontakt, in der Regel mehrmals. Aber wir verpfeifen sie nicht an die Polizei, sonst würden sie uns nicht vertrauen.« Jeder seiner eigenen Mitarbeiter, darauf bestand er bei der Einstellung, ist selbst mindestens wegen einer Schießerei vorbestraft.

Der umstrittenste Punkt seines Plans ist natürlich das Geld: Boggan bezahlt die Jungs, die sauber bleiben. »Je besser sie sich verhalten, desto größer der Scheck.« Nach sechs Monaten, wenn die »Stipendiaten« die ersten Meilensteine ihres Lebensplans bewältigt haben, zum Beispiel nach einem Drogenentzug, können sie sich erstmalig für eine monatliche Geldzahlung bewerben, bis zu 1000 Dollar können das sein. »Das ist Peanuts für die«, sagt Boggan. »Die machen ein Vielfaches bei einem Drogendeal, aber es ist ein Anreiz und wenn sie einen ehrlichen Job gefunden haben, hilft ihnen vielleicht die Unterstützung, wenigstens den Mindestlohn zu erreichen.« Ein Ältestenrat – distinguierte Herren aus der Nachbarschaft – steht jederzeit zu Gesprächen bereit. Bei guter Führung wird den Jungs sogar ein Urlaub bezahlt, vielleicht in Südafrika oder Paris, das ist der Höhepunkt des Projekts, denn die meisten haben ihre Stadt nie zuvor verlassen. »Da habe ich zum ersten Mal gesehen, dass es nicht nur Richmond gibt, sondern mir die ganze Welt offensteht«, sagt ein Teilnehmer, Rasheed Shepherd, 25, der mit zehn Jahren zum ersten Mal mit Drogen erwischt wurde. Allerdings gibt es eine  Bedingung: Die Jungs müssen mit jemandem reisen, der entweder versucht hat, sie umzubringen, oder den sie versuchten umzubringen. Am Ende des Programms steht dann eine Abschlussfeier, genau wie an der Universität.

Kein Wunder, dass das Kritiker empört. Stadtrat Courtland Boozé wetterte im Magazin Mother Jones über die Entscheidung der Stadt, das Programm zu finanzieren: »Weiße lieben es, Schwarzen den Kopf zu tätscheln, ihnen ein paar Groschen zu geben und dann zu glauben, alle ihre Probleme würden verschwinden. Aber das klappt nie.«

Was aber klappt: Von insgesamt 115 Männern, denen das 18-monatige Programm in neun Jahren angeboten wurde, machten 92 mit. 84 von ihnen blieben bis zum Schluss dabei. Boggans größter Erfolg: 94 Prozent von ihnen sind noch am Leben, 77 Prozent wurden in kein Verbrechen mehr verwickelt. Und die Mordrate in Richmond sank um 71 Prozent. Das ist nicht ausschließlich der »Operation Peacemaker« zu verdanken – ein neuer Polizeichef und andere Maßnahmen der Stadt trugen ebenfalls dazu dabei. Aber unterm Strich wurde in keiner anderen amerikanischen Stadt ein derartiger Rückgang der Straßenkriminalität erreicht.

Boggan antwortet auf seine Kritiker mit einer »klaren Kosten-Nutzen-Rechnung. Jede Schießerei, in der jemand verletzt wird, kostet mindestens 400.000 Dollar an Arztkosten, Polizei, Justizkosten, ganz zu schweigen vom emotionalen und gesellschaftlichen Preis. Einen Verbrecher einzusperren, kostet 60.000 Dollar im Jahr. Alle Personal- und Bürokosten miteingerechnet, kostet uns jeder Fellow pro Jahr 20-000 Dollar. Im Vergleich zum Blutvergießen sind das Peanuts.«

Dabei hätte Boggan das Projekt beinahe gleich am Anfang wieder hingeworfen. Nach acht Monaten in seinem Job erhielt er eine Nachricht, die ihn ins Wanken brachte. Ein enges Familienmitglied war in Detroit, Michigan, aus nächster Nähe erschossen worden. Die Trauer und Wut warfen ihn so aus der Bahn, dass er sich kaum noch vorstellen konnte, nun ausgerechnet genau jener Sorte von Straftätern zu helfen, die sein Familienmitglied auf dem Gewissen hatte. Als er das einem seiner Mitarbeiter sagte, las der ihm die Leviten. Er habe genug »von den Gutmenschen, die hinwerfen, sobald es brenzlig wird«, sagte der Mann. »Dir ist genau das passiert, was hier jedem schon mehrmals passiert ist.« Tatsächlich hatten seine Klienten im Durchschnitt sechs bis sieben enge Freunde oder Angehörige durch Schusswaffen verloren. »Ich wusste nun plötzlich, wie sich das anfühlt«, gibt Boggan zu, »und es hat mir die Augen geöffnet.«

Dass das Modell in Richmond ein Erfolg war, sieht man auch daran, dass es nun vorerst nicht mehr gebraucht wird. DeVone Boggan hat sich selbst arbeitslos gemacht: »Ich bin in Richmond noch als Berater unter Vertrag, aber es gibt derzeit keine aktive Gruppe, denn unsere Stipendiaten geben ihre Erfahrung an die nächste Generation weiter. Die Stadt hat schlicht nicht mehr genügend Schusswaffentäter.«

38 andere Städte wollen das Modell nun übernehmen.

Foto: Privat