Wie ich 2017 meine Haltung zu Julian Assange änderte

Seit fünf Jahren lebt Julian Assange, der Gründer von Wikileaks, schon in der ecuadorianischen Botschaft in London. Unserem Autor wird ausgerechnet durch seinen Sohn klar, wie lange das ist. Es ist sein Moment 2017.

Hat seit fünf Jahren keinen Tag an der frischen Luft verbracht: Wikileaks-Gründer Julian Assange.

Es kommt nicht oft vor, dass ich auf einem Kindergeburtstag über Zeitgeschichte nachdenke. Aber dieses Jahr war es so. Am 19. Juni wurde unser Sohn fünf. Kinder flitzen durch den Garten, Kuchen, grillen, herrlich. Doch an diesem Tag ging mir ein Mann nicht aus dem Kopf, dessen Schicksal mich seit vielen Jahren bewegt: Julian Assange. Denn auch für den Wikileaks-Gründer war der 19. Juni 2017 ein besonderes Datum – wenn auch kein besonders schönes: An diesem Tag war es genau fünf Jahre her, dass er in die ecuadorianische Botschaft in London geflohen war, aus Furcht vor Abschiebung in die USA, wie er sagt, wo er wegen seiner Enthüllungen viele mächtige Feinde hat.

Fünf Jahre sind eine lange Zeit, und nichts zeigt das so sehr wie das Heranwachsen eines Kindes. Wird als hilfloses Bündel auf die Welt gebracht und entfaltet sich so schnell, dass man kaum hinterherkommt. Die ersten Schritte! Kinderlieder! Schlittenfahren, Skikurs, Zähne fallen aus. Das Bündel ist nun ein richtiger Mensch, mit Freunden, Lieblingsshirt und Fahrradhelm. Nächstes Jahr kommt er in die Schule.

Und Assange? Hat in diesen fünf Jahren keinen Tag an der frischen Luft verbracht. Er lebt in einer Art Parallelwelt mitten in London, neben dem Kaufhaus Harrods. Er fürchtet, sobald er die Botschaft verließe, würde er festgenommen. Es gibt einen Dokumentarfilm über ihn, der seinen Unterschlupf zeigt. Eng, zugezogene Vorhänge, mit einem Level an Chaos, das an eine Studentenbude erinnert. Seine Haut wirkt gräulich, seine Interviews bisweilen krude. Während unser Sohn sich ein Leben aufbaut, scheint Julian Assange sich immer weiter vom Leben zu entfernen.

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Ich habe Assange vor vielen Jahren in London für ein Interview getroffen. Damals war er noch frei und gerade dabei, die Supermacht USA vor sich herzutreiben, indem er in kurzen Abständen Hunderttausende Geheimdokumente zum Krieg im Irak und in Afghanistan veröffentlichte. Ich fand das faszinierend: ein Typ aus Australien, der aus dem Nichts auftaucht und mit einem kleinen Team aus Computernerds die Weltnachrichten bestimmt. Und der mit Datenrecherchen und geheimen Dokumenten Geschichten erzählen kann, die sonst im Verborgenen geblieben wären. Assange war auf dem Höhepunkt seiner Popularität.

Danach ging es ziemlich steil bergab: Missbrauchsvorwürfe, Schlammschlachten mit ehemaligen Mitarbeitern. Und dann auch noch das: Kurz vor der US-Präsidentschaftswahl veröffentlicht er die gehackten E-Mails aus Hillary Clintons Parteizentrale, womit er wohl Donald Trump beim Einzug ins Weiße Haus half. Als dann noch öffentlich wurde, dass Wikileaks regelmäßig mit einem von Trumps Söhnen kommuniziert, galt Assange als eine Mischung aus Saboteur und Handlanger Russlands.

Sein merkwürdiges Verhalten in der Öffentlichkeit, sein egomanisches Getue und sein offensichtliches Eintreten für Donald Trump haben mir Assange fremd gemacht. Vielleicht ist das inkonsequent: eine Organisation wie Wikileaks nur dann gut zu finden, wenn sie Informationen veröffentlicht, die mir gelegen kommen. Als Assange Anfang 2017 geheime Dokumente über die weltweite Hacker-Armee der CIA und ihre Cyberwaffen ans Licht brachte, habe ich sie mit Begeisterung studiert. Hilft er Trump ins Amt, lehne ich ihn ab.

Aber vielleicht zeigt es auch nur, dass Wikileaks erwachsen geworden ist. Was die Plattform geschafft hat – Whistleblower zu ermutigen, geheime Dokumente öffentlich zu machen, die Unrecht aufdecken –, ist ein Verdienst, der größer ist als das Ego von Julian Assange. Geht das also: eine Plattform gut zu finden, ihren Betreiber aber nicht? Vielleicht ist es mit Wikileaks so wie mit Kindern, bei denen man im Laufe ihres Aufwachsens auch Wesen und Verhalten voneinander trennen muss: Ich werde sicher nicht alles mögen, was du tust. Dass es dich gibt, ist trotzdem toll.

Foto: dpa