Die Mauer muss hin

Klingt nach einer tollen Eissorte, ist aber eine der merkwürdigsten Verirrungen moderner Architektur: die Geschichte vom Siegeszug der Gabione.

Es gibt verschiedene Arten, um auszudrücken, dass man in seiner privaten Lebensführung eher für sich bleiben möchte. Die Gabione gehört zu den deutlicheren.

Vielleicht sind ja die Autobahnen schuld. Seit rund 15 Jahren wischen dort diese Mauern durch unser Blickfeld, rechts und links, bis zu zehn Meter hoch – und direkt hinein in unser Unterbewusstsein. Drahtkörbe, gefüllt mit Grobschotter. Und das, was eigentlich bloß billiger Schallschutz sein sollte, hat dann auch die deutschen Vorgärten als gestalterisches Statement erobert. Haben wir uns an die Schotterkästen gewöhnt wie an eine schlechte Angewohnheit, die wir irgendwann liebgewonnen nennen? Sind Gabionen das Nasepopeln der Architektur? In Deutschland wurden im vergangenen Jahr (umgerechnet auf einen Meter Höhe) rund 1300 Kilometer Gabionen verbaut: eine Mauer von Kiel bis zum Gardasee.

Preisgünstig und pflegeleicht, werben Hersteller. Trockenmauern für Dummies: Korb auf, Stein rein, Korb zu, die Gitter gibt es inzwischen bei Amazon. Und sie haben – das ist vor allem in Großstädten ein wichtiges Thema – für Graffitikünstler eine unattraktive Oberfläche. Ganz genau: unattraktive Oberfläche.

Historisch kommen Gabionen aus der Uferbefestigungstechnik. Und wie beim Landgang der Lebewesen vor Hunderten von Millionen von Jahren, so hat sich auch der Schotterkasten an seine Umwelt angepasst: eine Entwicklung vom bauchigen Maschendrahtkorb der Italiener, die 1903 das erste Patent darauf anmeldeten (»gabbione« heißt auf Deutsch »großer Käfig«), hin zu den punktgeschweißten Gittermatten, die vor allem deutsche Firmen vor mehr als zwanzig Jahren auf den europäischen Markt wuchteten.

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Erst mit diesen Gittermatten werden absolut rechtwinklige Gabionenmauern möglich. »I tedeschi pensano in quadrati«, sagen italienische Produzenten noch heute ein wenig eingeschnappt: Die Deutschen denken eben in Quadraten. Und sie machen alles daraus: Carports und Terrassenbeläge, Sitzgruppen und Wandverkleidungen, Kamine und Kräuterschnecken, LED-beleuchtete Wasserfälle und Mülltonnenboxen, in denen die Hausnummer andersfarbig eingelassen ist – überall Steine in Käfighaltung.

Vor allem natürlich Mauern, Mauern, Mauern. Oft mit per Hand eingeschichteten Steinen an der Ansichtsfläche, gern auch die schlanke Zaungabione, teils weniger als zwanzig Zentimeter tief, mit einbetonierten Stützpfosten. Es ist eine Art schmaler Bruder der Gabionen: Statt Halt zu geben, braucht er ihn selbst.

Normalerweise wird etwas hinter Gitter gesperrt, was sich nicht wegbewegen soll. In diesem Fall aber ist es etwas, was auch selbst als Blockade dient - ein umzäunter Zaun.

Der weltweit größte Markt für Gabionen liegt aber weit weg vom deutschen Vorgarten: in Kriegsgebieten. Ein britischer Hersteller hat ein System für Gabionenmauern perfektioniert, mit dem innerhalb von Stunden ein ganzes Camp gegen feindliche Splitter und Kugeln gesichert werden kann: Die miteinander verbundenen und zusammengelegten Gabionenkörbe, in die Textilsäcke montiert sind, entfalten sich wie eine Ziehharmonika vom fahrenden Lastwagen. Dann befüllen Radlader die Gabionen: mit Wüstensand im Irak, mit Bruchmaterial oder mit Karbonatit-Geröll in Afghanistan. Material aus der Region. Es ist das gleiche Prinzip wie im deutschen Vorgarten, in dessen Gabionen sich in der Schwäbischen Alb gelblicher Jurakalk stapelt, Basalt im Frankfurter Raum, Schrattenkalk im Allgäu, Mosel-Grauwacke in der Eifel.

Dabei punktet die Gabione überall mit ihrem Gewicht: gegen den hineindrückenden Hang, herumfliegende Granatsplitter, den Doppelhaushälftenachbarn. Der Trend zur Schwergewichtsmauer fügt sich ins Psychogramm unserer Zeit: Endlich etwas Unverrückbares (jeder einzelne Kubikmeter Gabione ist schwerer als ein Auto). Endlich etwas, was Dauer und Halt gibt in diesen wankelmütigen Zeiten (Anbieter testen ihre Gitter mit 3000 Stunden Salzsprühnebel und werben mit Standzeiten von 120 Jahren) – und das trotzdem grenzenlose Flexibilität suggeriert: Man könnte das Ding ja jederzeit wieder auseinanderbauen, also theoretisch zumindest.

Mit dem Rückzug der Amerikaner aus dem Irak – stehengelassen haben sie unter anderem kilometerlange Splitterschutzmauern – ist der Millionenmarkt um die Kriegsgabione zurückgegangen. Und es schleicht sich ein Verdacht ein: Fangen wir mit dem, was wir als »gezähmte Natur in feuerverzinktem Stahldrahtkäfig« bestellt haben, nur eine Überkapazität der Rüstungsindustrie auf? Zieht sich durch unsere jetzt splitterschutzsicheren Vorgärten ein gewaltiges Nato-Gitter aus Zink-Aluminium-Draht?

Eine der wenigen Gefahren droht den Gabionen von Kindern. Die fummeln an den Mauern so lange herum, bis sie die zu klein geratenen Steine, das sogenannte Unterkorn, durchs Gitter bekommen. Bei unterfüllten Körben kann es unter Druck zu Ausbauchungen kommen. Das wars dann mit den Quadraten – und der Statik. Heutzutage werden Gabionen bei Kindergärten oder Spielplätzen nicht mehr verbaut, entgabionisierte Zone.

Fotos: Sebastian Arlt