Das bayerische Meer

In Capoliveri auf der Insel Elba trifft man nur Münchner. Es ist trotzdem sehr schön da.

Man hat mir natürlich nicht gesagt, dass ich jeden Tag lauter Münchner auf der Piazza treffen würde. Man hat mir aber prophezeit, dass ich Elba mögen würde. Obwohl ich wirklich kein Italien-Fan bin. »Elba wird dir trotzdem gefallen«, haben meine Münchner Freunde gesagt. Wobei sie mit »Elba« – und das ist wichtig – nicht die ganze Insel meinen, sondern einen Ort: Capoliveri. Man könnte sogar sagen, sie meinen nur die Piazza von Capoliveri und auf der Piazza auch nur eine Bar, »Rodriguez«.

Was für eine Strafe, könnte man nun sagen: eine italienische Bar auf einer italienischen Piazza voller Münchner. Was man daran mögen soll, könnte man fragen. Aber ich behaupte mal, dass die Münchner Capoliveri gut getan haben. Nicht weil sie Geld ins Dorf gebracht haben, sondern weil sie es anderweitig geprägt, zivilisiert haben. Das klingt kolonialistisch, ich weiß, aber vielleicht ist es wie mit den Hippies und Kalifornien. Wären sie nicht dort gewesen, wäre Kalifornien heute womöglich eine einzige Shoppingmall. Und wären sie nicht nach Elba und dort nach Capoliveri gekommen, dann könnte in Capoliveri vielleicht heute noch keine Frau ohne Mann auf der Piazza sitzen und etwas zu trinken bestellen. Es war die erste Generation deutscher Hippies, die in den siebziger Jahren Capoliveri entdeckte, und es waren Hippies aus München. Da war Capoliveri noch ein abgelegenes, rückständiges Bergdorf – der Tourismus, den es in der Toskana und demnach auch auf Elba längst gab, spielte sich in anderen Orten ab, die am Meer lagen: im Nordwesten in Marciana Marina, einer kleinen Bucht mit Hafen, ein klassischer Badeort; und im Südwesten, genau auf der anderen Seite des schmalsten Teils der Insel, im ein wenig mondäneren Marina di Campo, hinter der Strandpromenade südländische Villen und einige wenige Hotels, im Hafen Cafés, Läden für Badezubehör, Keramik und ein paar etwas teurere Geschäfte. In Capoliveri gab es damals nicht einmal Schmuckstände oder Souvenirläden, Touristen kamen höchstens für den kurzen Ausflug in ein ursprüngliches Bergdorf heraufgefahren.

Es war ja kaum zu glauben, dass es in den siebziger Jahren noch Orte zu entdecken gab am Mittelmeer, aber hier war einer, und genau das war es, was die Münchner Hippies damals suchten. Sie mussten gar nicht direkt ans Meer, denn man konnte von fast jedem Haus in Capoliveri das Meer sehen und zu Fuß vom Dorf aus drei wunderbare Sandstrände erreichen, wenn man ein bisschen fit war: Barabarca, Zuccale und Madonna delle Grazie. Überhaupt ist die Auswahl an Stränden groß, weil Capoliveri auf einer Halbinsel im Südosten der Insel Elba liegt, es geht also in drei Richtungen bergab zum Meer, die gewundene Straße endet auf der einen Seite in Naregno, auf der anderen in der Cala dell’Innamorata, der Bucht der Liebenden. Der Rest der Halbinsel ist Naturschutzgebiet, also für Autos nicht befahrbar und auch nicht zu bebauen. Auch andere Teile Elbas sind Naturschutzgebiet, daher ist die Insel so bewaldet und grün und unversehrt geblieben.

Meistgelesen diese Woche:

Nähern wir uns Capoliveri erst einmal vorsichtig an. Im Sommer setzt jede Stunde eine Fähre von Piombino, das etwas südlich von Livorno liegt, nach Elba über. Die Fahrt dauert ungefähr eine Stunde, und da fängt der Urlaub schon an, mit einer Dose Arezzo-Bier an Deck, mit der Luft, die nach Salz schmeckt, dem Wind, der durch die Haare fegt. Da ich mir vorgenommen habe, ganz traditionell zu reisen, nehme ich das Schiff Torremar, nicht eine der Moby-Fähren, die wohl teurer sind und dazu bunt und albern bemalt.

Die dicht aneinander gebauten Häuser der Hafenstadt Portoferraio, in Gelb, Ocker und einem gedeckten Orange gehalten, werfen selbst die grelle hochsommerliche Mittagssonne als mildes Licht zurück. Vom Fähr-anleger führt der direkteste Weg nach Capoliveri schnell aus Portoferraio heraus, vorbei an Autowerkstätten, den großen Supermärkten von Coop und Conad und einer Baumschule mit Bougainvilleen und tausenden Terrakottatöpfen, dann bergauf und bergab und vorbei am Golfplatz, wo die Straße kurz gerade verläuft und alle versuchen, einander nach den vielen Kurven endlich zu überholen – eine legendäre Mutprobenstrecke für einheimische Jugendliche mit ihren motorini. Wenn links die Tankstelle kommt, die auch in der Hochsaison mittags drei oder vier Stunden lang geschlossen hat, sieht man rechts oben Capoliveri liegen, wie eine Haube auf der Bergkuppe, die auch am Abend noch von der letzten Sonne beleuchtet wird. Man muss das Dorf heutzutage weiträumig umfahren, das war früher wohl ganz anders – viel romantischer: Da kam man sofort auf die Straße, von der aus man zugleich auf drei Seiten der Insel hinabblicken kann und drei Meere zu sehen glaubt.

Vor einer Weile, erzählt man mir, konnte man hier noch jeden Nachmittag Steve antreffen, halb Italiener und halb Neuseeländer, der von der sehr kleinen Terrasse seines Restaurants »Il Rostro« auf die drei Meere und den sich ankündigenden Sonnenuntergang schaute. Aber Steve, der die gelockten grauen Haare lang trug wie ein Musiker und immer und überall barfuß herumlief, hat sein Restaurant nach über zwanzig Jahren verkauft. Er wollte zurück nach Neuseeland gehen, wo er geboren ist, nun kocht er allerdings auf dem Festland, weil er es in Neuseeland nach all den Jahren auf Elba doch nicht mehr ausgehalten hat.

Seine Frau Anna, die angeblich oder tatsächlich in jüngeren Jahren alle möglichen Affären im Dorf hatte – darunter eine, aber wer weiß das schon genau, sehr ernsthafte mit dem Kellner Carlo Santini –, sieht man immer noch ab und zu im weißen Flatterkleid über die Piazza laufen. Sie wirkt nun nicht mehr wie jemand, der nach Affären sucht, eher scheint sie Ruhe zu suchen – als hätte sie zu viel von diesem gesellschaftlichen Leben. Dabei ist es gar nicht leicht, im Dorf zu sein und sich zurückzuziehen. Capoliveri ist dafür, vor allem im Sommer, nicht der ideale Ort – und viel zu klein. Binnen einer Woche kennt hier jeder jeden, zumindest vom Sehen.

Wenn Anna auf der Piazza erscheint und einen schnellen Kaffee trinkt, tut sie das bei »Rodriguez«. Wenn der große graubärtige Mann, ein gebürtiger Capoliverese, der mit Kaffeesatz seine Souvenirbilder von Capoli-veris Gassen malt, in Hausschuhen, die breiten Schultern gebückt, Lust auf einen Kaffee hat, schlurft er, eine Opernarie singend, ins »Rodriguez«. Und wenn Zapata, der einen Lederladen hatte und immer, wirklich immer ein blaues Jeanshemd und eine schwarze Ray-Ban-Sonnenbrille trägt, täglich fünfmal Kaffee trinken geht, kommt er jedes Mal zu »Rodriguez«. Wenn der Münchner Kolumnist, der hier Urlaub macht, und der Münchner Künstler, der hier lebt, einen Kaffee zusammen trinken, sitzen sie bei »Rodriguez«. Und wenn der Münchner TV-Regisseur mit seiner Freundin, die im Fernsehen die Freundin eines Saarbrücker Tatort-Kommissars spielt, einen aperitivo auf der Piazza bestellt, dann nur bei »Rodriguez«.

Dabei ist »Rodriguez« eine ganz gewöhnliche Bar, wie es auf der Piazza vier oder fünf gibt, aber aus irgendeinem Grund muss es genau diese Bar sein. Im Dorf sagt man, es sei die Bar, von der aus man alles sieht, weil sie am höchsten liegt von allen. Das war immer entscheidend für Capoliveresen, denn Capoliveri heißt übersetzt »Kap der Freien«. Einst lebten hier die Freibeuter, und wenn eines wichtig ist für Piraten, dann ist es ein guter Überblick. Den anderen immer ein bisschen voraus sein. So sehen sich die Capoliveresen heute noch gern: als freie Geister, als die besseren Elbaner oder sogar die besseren Italiener. Und so sehen sich die Münchner, die auch einmal davon geträumt haben, auf einem Piratenschiff zu fahren oder in einer Band zu spielen, in Capoliveri als die besseren Touristen.

Diese Münchner verbringen nicht nur ihren Urlaub, also zwei Wochen im Jahr, in Capoliveri. Die meisten von ihnen haben sich damals, in den siebziger Jahren, für wenig Geld (es soll sich um Beträge von 20 000 Mark gehandelt haben) Häuser in den alten Gassen gekauft – für die Zukunft, für ein anderes Leben. Die alten Gebäude haben sie sich damals selbst zurechtgemacht, weil sie oft den Kaufpreis gerade mal zusammengekratzt hatten. Die meisten dieser Häuser haben nur ein Zimmer pro Etage, aber man hat ihnen irgendwie noch eine Dachterrasse abgetrotzt. Diese Häuser, die klein und alles andere als komfortabel sind, kosten heute ungefähr so viel wie eine Drei-Zimmer-Wohnung in München.

Aber es gibt auch alte Abmachungen, und an alte Abmachungen halten sich die Capoliveresen wie an kein anderes Gesetz. Der türkisch-russische Maler und Skulpteur Safa, ein mittlerweile gebückter alter Mann, der nie Geld hat, aber immer noch eine stolze anarchistische Vision von Kunst, bezog vor vierzig Jahren die Cantina des Metzgers. 20 000 Lire Miete wollte der Metzger dafür. Mit Handschlag wurde das Geschäft besiegelt, »per sempre«, für immer, und der Metzger hat niemals nach mehr Geld gefragt. Obwohl er natürlich weiß, dass es neben seiner Cantina eine andere Cantina gibt, die zu einer schicken Apotheke wurde – halbrunde Panoramafenster und elektronische Türen mit Sensoren – und deren Vermieter ein Vielfaches im Vergleich zu seiner Miete kassiert.

Es ist auch eine Abmachung, ein Privileg der Einheimischen, im »Rodriguez« direkt an die Bar zu gehen und sich einen Cappuccino und einen Zuckerring selbst zu holen. Das ist billiger, als sich bedienen zu lassen. Die Einheimischen trinken ihren Kaffee in dem winzigen Raum im Stehen, während sie mit Walter oder Dino reden. Die Brüder, gebürtige Capoliveresen, stehen seit 25 Jahren jeden Tag an dieser Theke, Walter macht den Kaffee und man kann sagen, dass Walters Kaffee der beste auf der ganzen Welt ist, was vielleicht daran liegt, dass Walter seine Kaffeemaschine immer mal wieder streichelt.

Die Münchner gehen auch an den Tresen und holen sich ihren Kaffee selbst. Sie allerdings – daran erkennt man sie – balancieren ihre Tassen nach draußen und setzen sich an einen Tisch im Servierbereich. Walter und Dino wissen und tolerieren das, obwohl das eine sehr großzügige Auslegung des Privilegs der Einheimischen ist. Und wenn es zu viele Münchner werden – weil diejenigen, die in Capoliveri sozusagen aufgewachsen sind und häufig auch selbst bei »Rodriguez« gekellnert haben, immer mehr und mehr Freunde mitbringen –, dann kommt schon mal eine Serviererin und legt still einen Zettel auf den Tisch, auf dem steht, was man alles hatte. Manchmal zahlt man dann den Preis, den man zahlt, wenn man sich bedienen lässt. Nichts für ungut, aber darüber verliert man kein Wort.

Im letzten Sommer war der einzige Supermarkt im Dorf plötzlich geschlossen. An seiner Stelle gab es einen klimatisierten, viel größeren und besser sortierten an der Umgehungsstraße. Das wurde das Dorfgespräch der Saison, eigentlich sollten sich Dorfbewohner wie Touristen über diese Verbesserung freuen. Aber alle vermissten den alten Supermarkt, den kleinen und engen mit der eingeschränkten Auswahl. Diesen Sommer eröffnete der Supermarkt im Dorf wieder neu. Der Pfarrer dankte Gott unter Tränen dafür, dass er den Capoliveresen den Supermarkt in ihrem Dorf wiedergegeben hatte, dann durfte die Dorfälteste das Band durchschneiden, das vor die Tür gespannt war. Die Einheimischen und die Touristen freuten sich. Keiner der Touristen versäumte es zu sagen, wie sehr er sich vor allem für die Alten im Dorf freue, weil ihnen der Treffpunkt so gefehlt habe. Und man nahm es ihnen irgendwie ab, dieses Sich-Kümmern um die Dorfbewohner.
Wenn dieser Text bisher den Eindruck einer Idylle erweckt hat, in der sich Deutsche und Italiener bestens verstehen, dann stimmt das. Einerseits. Es gibt natürlich auch an-dere Geschichten. Die beste: Als Luciano Casini, einer von drei Brüdern aus Capoliveri, sein Restaurant »Il Chiasso« baute, schlug und meißelte er mit Hilfe des bereits an anderer Stelle genannten Künstlers Safa Bän-ke in die Felsen. Die Arbeit war mühsam. Luciano wischte sich den Schweiß von der Stirn und sagte: »Jeder deutsche Arsch, der eines Tages auf so einer Bank sitzt, wird richtig bluten.«

Und genau so ist es gekommen. Das »Chiasso« ist schon lange das mit Abstand teuerste Restaurant des Dorfes, es hatte sogar eine Zeit lang den einzigen Stern der Insel, und wer etwas auf sich hält, isst wenigstens gelegentlich dort. An den Wänden hängen hunderte Fotos von Luciano mit Prominenten aus aller Welt. Mittlerweile sitzen die Gäste nicht mehr nur auf den Bänken aus Stein, Luciano hat Tische und Stühle in jede Gasse der erreichbaren Umgebung gestellt, sodass man ständig das Gefühl hat, mitten durchs Restaurant zu laufen. Ein kleiner Vergrößerungs-Trick, über den hier jeder spricht, in einem Tonfall zwischen Neid und Bewunderung.

Den engen Gassen und vielen Treppen übrigens, so hübsch sie sind mit den rankenden Rosen und Bougainvilleen, ist es wohl zu verdanken, dass in Capoliveri Luxus- und Massentourismus keinen Einzug gehalten haben. Man muss sein Gepäck vom Parkplatz durchs Dorf schleppen, das Kopfsteinpflaster eignet sich wenig für hohe Schuhe. Man lebt in den Häusern sehr nah aneinander, hört den Ehestreit der Nachbarn links und rechts und gegenüber, hört ihre Teller klappern, ihre Katze miauen, ja man hört sogar Luciano, der in der Wohnung über seinem Restaurant lebt, nachts schnarchen.

Die Casini-Brüder haben sich allesamt ausländische Frauen gesucht, und es ist anzunehmen, dass diese Frauen seinerzeit allein auf der Piazza saßen, um sich ein Getränk zu bestellen. Luciano hat eine Deutsche geheiratet, sein Bruder Homero, dem die Boutique am nächsten zur Piazza gehörte, eine Engländerin. Der dritte Bruder, Guido, der die »Piano-Bar« besaß, ist auch mit einer Engländerin verheiratet, und zwar mit einer, von der es heißt, sie sei die Zehnte in der Thronfolge. Im Dorf erzählt man sich heute noch gern, was für ein Erlebnis es für die adeligen Briten gewesen sein muss, als dann eine Horde wilder, nicht gerade manierlicher Capoliveresen in England zur Hochzeitsfeier eintraf.

Ich könnte noch viel mehr Geschichten erzählen, die im Sommer spielen und in denen sich ein Elbaner in ein ausländisches oder ein deutsches oder ein Münchner Mäd-chen verliebt hat. So war es mit Aldo und Tinka, Gianni und Evi, Angelo und Monika, Zapata und Marion. Manche dieser Geschichten gehen gut aus: Aldo und Tinka sind noch heute ein Paar und haben Kinder, Gianni und Evi ebenso, auch wenn sie mehr Schwierigkeiten hatten. Manche Geschichten gehen nicht so gut aus, etwa die von Angelo und Monika, was jedoch wohl daran liegt, dass es nie richtig einfach zwischen ihnen war. Aber das würde zu weit führen, außerdem kann man diese Geschichten noch heute immer wieder hören, wenn man ein bisschen Zeit mitbringt und sich auf die Piazza setzt.

Ich kann nur sagen, dass ich die Münchner, von denen hier die Rede war, zum großen Teil überhaupt erst auf Elba kennen gelernt habe. Dass ich sie in München kaum sehe. Dass ich sie deshalb gern auf der Piazza treffe. Ich kann auch sagen, dass die Capoliveresen mich mit Italien ausgesöhnt haben. Kann man nun folgern, dass sich die Klischees von Münchnern und Italienern in einem alten Piratenhorst, der sich gegen die Massen und den Luxus sträubt, gegenseitig aufheben?