Besessenheit

Die Gier nach dem Zuviel

Momentaufnahmen zu den wichtigsten Begriffen der Saison. Hier: Besessenheit
Die Arbeit, die Liebe, das Essen, das Leben selbst. Alles, was ich tue, artet bei mir in Besessenheit aus – ich kenne kein Maß. Noch bis vor einem Jahr wog ich 130 Kilo. Ich wurde so fett, weil ich mich regelrecht durch Paris gefressen habe. Meine Eltern waren nicht reich, Besuche in Restaurants konnten wir uns nicht leisten. Als ich später selbst Geld verdiente und Paris mit seinen kulinarischen Angeboten entdeckte, holte ich nach, was ich in der Kindheit vermisst hatte.

Wenn ich von etwas besessen bin, dann ganz und gar. Nur ein bisschen abzunehmen kam für mich nicht in Frage, es musste die Radikalkur sein. Ich machte eine Blutgruppen-Diät und ließ mir ein Magenband einsetzen, um schneller Gewicht zu verlieren: 52 Kilo in zwölf Monaten. Lange hielt ich meine Unersättlichkeit für normal, bis ich mir eingestehen musste: Es ist eine Sucht. Auch ohne Therapeuten kam ich darauf, dass die Ursache dafür wohl bei meiner Mutter liegt. Bei ihr gab es immer ein Zuviel: Sie beschützte mich zu viel, sie bemutterte mich zu viel, sie erdrückte mich mit zu viel Liebe. Meine Übermutter isolierte mich von anderen Kindern. Ich wurde zum Außenseiter und hatte keine Freunde.

Es ist verdammt schwer herauszufinden, wer man ist und wo man hingehört, wenn man eigentlich keine Wurzeln hat. Mein Vater ist Deutscher, meine Mutter Syrerin, aufgewachsen bin ich in Afrika. Als ich 14 war, zogen wir nach Paris. Und es wurde nicht besser für mich. Wie in Afrika trug ich diese bunten Hemden mit Blumenmuster, die bourgeoisen Kids lachten mich aus. Meine Ferien verbrachte ich in Lepra-Camps in Äthiopien. Die Jungs, die meine Freunde werden sollten, schreckte das nur ab. Seit dieser Zeit kämpfe ich verzweifelt und wie besessen um Anerkennung.

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Irgendwann kleidete ich mich nicht nur elegant, ich trieb die Extravaganz auf die Spitze. Ich verleugnete meinen Vornamen, den ich hasste, und nannte mich nur noch »Kappauf«, um mich interessant zu machen. Ich arbeitete für den Kosmetikkonzern Helena Rubinstein als Art Director. Doch das reichte mir nicht, ich wollte mehr.

Also gründete ich vor 13 Jahren das Magazin Citizen K – eine größenwahnsinnige Anspielung auf den Film Citizen Kane, weil ich damals wie Orson Welles aussah und davon träumte, ein großer Herausgeber zu werden. Ehrlich, genauso gut hätte ich die Zeitschrift auch »Bitte liebt mich!« nennen können. Mein Konzept, um möglichst viel Aufmerksamkeit zu bekommen: Das Magazin war größer und dicker als die anderen und kostete umgerechnet nur einen Euro. Das schafft man, indem man die Werbung lauter als alle anderen verkauft. Mir ging es nie um das große Geld, mein Trip hieß: Was muss ich tun, um die Menschen für mich zu begeistern? Und obwohl es mir nicht guttat, wiederholte ich das Erziehungsprinzip meiner Mutter: Von allem zu viel.

Dann passierte Folgendes: Vor zwei Jahren habe ich mich verliebt. Nicht wie früher, diese gierigen, flüchtigen Bekanntschaften, sondern richtig. Und merkte: Es ist dringend an der Zeit, mein Leben zu ändern. Klingt pathetisch, aber ich erkannte: Um tatsächlich geliebt zu werden, muss ich anfangen, mich selbst zu mögen. Mit meinem Verhalten hatte ich bisher immer gegen mich gearbeitet.

Heute, mit 40 und ein paar Jahren, machen mir meine Obsessionen keine Angst mehr. Ich habe sie akzeptiert. Und lebe fröhlich mit ihnen weiter. Nur tue ich mir selbst nicht mehr damit weh. Ich arbeite weniger, ich esse weniger, ich nehme keine Drogen, mir reicht eine einzige Liebe. Diese Lektion hat mich zwar mein halbes Leben gekostet, aber dafür sehe ich heute fantastisch aus – man könnte mich für einen 20-Jährigen halten, sagen meine Freunde. Ja, mittlerweile habe ich sogar welche.

Kappauf ist Herausgeber des Modemagazins »Citizen K«.