Die Gewissensfrage

»Beim Spaziergang habe ich beobachtet, wie ein großer Erpel eine Ente im Beisein ihres Partners vergewaltigte. Die Ente selbst versuchte wiederholt zu entkommen und auch ihr Partner, wesentlich kleiner und schmächtiger als der Aggressor, konnte trotz verzweifelter Gegenwehr die Vergewaltigung nicht verhindern. Im Wissen, dass Enten eine monogame Beziehung führen, war ich im Konflikt, ob hier ein Eingreifen angebracht ist.« ANDREA A., MÜNCHEN

Eine Vergewaltigung ist eines der verabscheuungswürdigsten Verbrechen. Nichts dagegen zu unternehmen wäre unverzeihlich. Soweit es sich um Menschen handelt, kann hier nicht der geringste Zweifel bestehen. Aber gilt das auch für Tiere? Meiner Ansicht nach nicht.Dies liegt nicht daran, dass ich Tieren keine Leidensfähigkeit zugestehen wollte oder dass der Mensch nicht die Verpflichtung hätte, Leid bei Tieren zu vermeiden. Man muss hier jedoch zunächst die moralische Qualität des Vorgangs als solchen betrachten und dann die des möglichen Eingreifens.Vergewaltigungen, im Tierreich auch »Zwangsbegattungen« genannt, kommen dort häu-fig vor, auch bei den zumindest in Saisonehen lebenden Enten. Es besteht jedoch ein großer Unterschied zu dem Verbrechen unter Menschen: Der Erpel handelt nicht »böse« oder »unmoralisch«. Diese Begriffe sind menschlichem Handeln vorbehalten. Erst die Möglichkeit des Menschen, zwischen Richtig und Falsch zu entscheiden, erlaubt es, wie der Göttinger Anthropologe Christian Vogel betont, einem Handeln eine moralische Qualität zuzuschreiben. Die Natur kann unendlich grausam sein, böse jedoch nicht; sie ist in den Worten des englischen Biologen T. H. Huxley »moralisch indifferent«.Naturfilme zeigen oft ein Schlachten und Fressen, das zwar äußerst blutrünstig abläuft, aber als »natürlich« hingenommen und gern beobachtet wird. Das Töten eigener oder fremder Kinder, der Infantizid zur Verbesserung der eigenen Fortpflanzungschancen, ist im Tierreich weit verbreitet. Die Schimpansenforscherin Jane Goodall berichtet davon, wie eine sozial hochrangige Schimpansenmutter die Babys niedrig stehender Mütter auffraß – unklar, ob aus Ernährungs- oder Konkurrenzgründen. Bei den Hanuman-Languren, einer indischen Affenart, die in Haremsstrukturen leben, töten neue Harems-chefs regelmäßig die Kinder ihrer Vorgänger, um die nun freien Weibchen anschließend selbst zu begatten. In solchen Fällen sträubt sich unser Empfinden, doch jedes Mal geht es letztlich um das biologische Ziel der Weitergabe der eigenen Gene. Wer dies verurteilt, überträgt menschliche Maßstäbe unzulässigerweise auf das Tierreich.Aber könnte nicht auch ein ethisch neutrales Unglück ein Eingreifen erfordern – wie es auch immer aussehen mag bei einem triebtollen Erpel? Eine derartige Forderung bei einem evolutionär entwickelten Verhalten aufzustellen hieße jedoch, sich als Mensch eine Korrekturfunktion in der Evolution anzumaßen. Der Mensch muss, da er selbst zu moralischem Handeln in der Lage ist, zwar seinen eigenen Einfluss auf die Umwelt verantworten; eine Verantwortung für die gesamte Natur zu übernehmen wäre hingegen schlicht vermessen.Allerdings lässt mich ein Aspekt zögern. Immanuel Kant fordert richtiges Verhalten gegenüber Tieren, weil, wer grausam gegenüber Tieren sei, dies dann auch leichter gegenüber Menschen werde. Sollte das auch für das Zusehen gelten, wenn etwa derjenige, der einer Vergewaltigung unter Enten teilnahmslos beiwohnt, damit den Abscheu gegenüber diesem Verbrechen unter Menschen verliert, wäre ein Eingreifen absolut notwendig.Haben Sie auch eine Gewissensfrage? Dann schreiben Sie an Dr. Dr. Rainer Erlinger, SZ-Magazin, Rindermarkt 5, 80331 München oder an gewissensfrage@sz-magazin.de.