Bestäubungsmittel

Unbemerkt von Drogenfahndern und Statistiken leben sie seit Jahren unter uns: die Nasenspray-Junkies. Bekenntnisse eines Süchtigen.

Ich liebe die USA. Von allen Reisen, die ich jemals unternahm, sind mir jene in die USA am liebsten. Meine Zuneigung liegt allerdings weder am Klima noch an den freundlichen Leuten oder den Sehenswürdigkeiten, sondern an der Organisation des Gesundheitswesens. Anders formuliert: Es gibt dort keine Apotheken. Ich bin nasensprayabhängig. Meine Nase ist immer verstopft. Frei atmen kann ich nur, wenn ich mir alle fünf bis sechs Stunden ein Schnupfenmedikament in die Nase sprühe. Tue ich das nicht, fühle ich mich, als wäre eine Vakuumpumpe an meine Nase angeschlossen, als würden die Nasenlöcher zubetoniert, von einem kleinen Mann in meiner Nase zugeschweißt. Kein noch so kleiner Luftzug kann dann durch meine Nasenflügel in Richtung Lunge rutschen. Seit acht Jahren geht das so. Ich bin abhängig wie ein Junkie, mit allen Symptomen, die sich bei einer Abhängigkeit einstellen: Leugnen der Sucht, Panik, wenn der Stoff nicht in der Nähe ist, Herzrasen, Kontrollverlust und Nervosität. Ich hasse es. Ich brauche etwa eine Flasche Nasenspray in der Woche, muss also oft in Apotheken gehen. Wie entspannend ist es dagegen, in einer amerikanischen Drogeriekette einfach mal fünf Flaschen Nasenspray auf einen Schlag zu kaufen, ohne unter dem vorwurfsvollen Blick eines Apothekers eine Erkältung zu simulieren! Der Wirkstoff in fast allen Sprays heißt Xylometazolinhydro-chlorid, ein Wort, das mich inzwischen fast so lange durch mein Leben begleitet wie meine Eltern. Es handelt sich um eine Substanz, die sofort nach Einsprühen in die Nase bewirkt, dass sich die Blutgefäße verengen. Die durch eine Erkältung angeschwollenen Polypen ziehen sich zusammen. Wird der Stoff aber zu lange benutzt – die Grenze liegt bei etwa sieben Tagen –, trocknet das Medikament auf Dauer die Nasenschleimhaut aus, sie bekommt zu wenig Blut. Um die Durchblutung zu steigern, schwillt die gereizte Schleimhaut an. Je länger das Medikament genommen wird, desto größer werden die Polypen, desto schlechter bekommt man Luft. Außerdem hält die abschwellende Wirkung immer kürzer an, sodass man, wie jeder Junkie, im Laufe der Zeit die Dosis erhöhen muss. Es entsteht schnell ein Teufelskreis, da die Patienten immer häufiger zum Spray greifen müssen, um die jetzt chronisch verstopfte Nase freizubekommen. Das Ergebnis: eine ständig trockene Nase mit Borkenbildung. Der Begriff »Borken« ist dabei nichts anderes als ein weniger eklig klingendes Wort für eingetrocknete Popel, die in ihrer Form abgestorbenen Ästen an toten Bäumen ähneln und die dem Nasensprayabhängigen bei jeder unpassenden Situation aus der Nase hängen. Als wäre das nicht schon genug, wird auch die Nasenschleimhaut bleibend geschädigt. Davon werden die Flimmerhärchen in der Nase beeinträchtigt. Die Folge sind bakterielle Infektionen des Naseninnenraums und der Nasennebenhöhlen, da Bakterien nicht mehr abtransportiert werden können. In ganz üblen Fällen vermischen sich diese mit sich bereits zersetzenden Borken, und der Nasensprayjunkie stinkt bei jedem Ausatmen aus der Nase wie ein Chemieklo im Hochsommer. Zum Glück ist mir dieses Phänomen mit Namen »Ozaena« bislang erspart geblieben, sodass ich immer versuchen konnte, mein ständiges Schniefen und An-der-Nase-Rumfummeln Rock’n’Roll-tauglich aufzuwerten. Auf Partys mache ich regelmäßig eine Kokaingeschichte aus meiner Nasensprayabhängigkeit, indem ich etwas andeute, ein »Ihr wisst schon«-Lächeln aufsetze und mich danach, um Rückfragen zu vermeiden, schleunigst woanders hinstelle. Manchmal verselbstständigt sich die Kokainnummer allerdings. Ich stand einmal, es ist schon länger her, im Hauptgebäude der Uni Hamburg und schniefte vor mich hin. Die Kokainaffäre von Christoph Daum war gerade publik geworden. Eine ältere Frau, vielleicht die Mutter einer Studentin, kam vorbei und schrie mich an: »Sie Kokswrack!« Was mir, bitte schön, einfallen würde, hier unter lauter jungen Menschen, also wirklich, wenn ich mich zugrunde richten wolle, dann bitte sehr, aber sterben könne ich nun wirklich auch zu Hause. Wie schon gesagt: Ich hasse meine Sucht. Dabei soll aufhören so einfach sein. Die Flasche wegwerfen, diszipliniert sein, durch den Mund atmen, mehrere Wochen durchhalten, und schon hat sich die Nasenschleimhaut regeneriert. So leicht und doch so schwer – ich habe es noch nie probiert. Es spricht wirklich rein gar nichts gegen einen Entzug, denn Nasenspray ist eine der wenigen Süchte, die überhaupt nicht cool sind. Die Chance, einer Frau mit dem Bekenntnis zur Nasenspraysucht zu imponieren, ist verschwindend gering. Niemand nimmt den Patienten ernst, wenn er sich zu seiner Sucht bekennt. Freunde, denen ich von meinem Problem erzähle, setzen ein nichtssagendes Lächeln aus Güte, Mitleid und ungläubigem Erstaunen auf, bevor sie nicht im Geringsten auf die Sache eingehen und etwas völlig anderes erzählen. Ich vermute, dass hinter meinem Rücken Witze über mich gemacht werden. Nun bin ich aber nicht der Einzige, es wimmelt geradezu von Abhängigen. Hunderte von Internet-Foren beschäftigen sich mit Nasenspraysucht. Angeblich leiden etwa 100 000 Deutsche daran, diese Zahl taucht allerdings ausschließlich im Internet auf. »Es gibt keine Statistik, in der ich nachsehen könnte«, sagt Dr. Stefan Tesche, Oberarzt der HNO-Abteilung der Hamburger Universitätsklinik. »Zahlen haben wir nicht.« 100 000 Abhängige scheint eher untertrieben, denn die Sucht ist inzwischen so verbreitet, dass sie sogar einen eigenen Namen hat: Privinismus, nach einem seit Jahrzehnten erhältlichen Spray. »Ich schätze, dass etwa zwanzig Prozent aller Patienten, die zu uns kommen, Nasenspray deutlich zu lange nehmen«, sagt Tesche. Wer davon loskommen will, muss das selbst schaffen. Es gibt keine Hilfsangebote. »Von dem Thema haben wir noch nie gehört«, lässt etwa die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen in Hamm verlauten. »Dafür existiert keine Extrakategorie«, sagt Gabi Dobusch von der Hamburger Landesstelle für Suchtprävention. »Wir haben zwar eine Abteilung für Medikamentensucht, aber da ist Nasenspray nicht dabei.«

Der Markt hingegen ist riesig. »Nasensprays verkaufen sich bei uns wie frisch geschnittenes Brot«, sagt eine Apothekerin aus Hamburg. Helga Fritsch vom Bundesverband deutscher Apotheker bestätigt: »Dieser Vergleich ist zwar drastisch, aber man kann ihn ziehen, da will ich nicht widersprechen. Die Präparate gehen sehr gut.« Gesicherte Marktdaten sind allerdings nicht in Erfahrung zu bringen; ein Pharma-Insider, der nicht zitiert werden will, spricht von mehr als fünfzig Millionen verkauften Flaschen pro Jahr. Wie viele dieser Flaschen medizinisch notwendig sind, weiß kei-ner, und so kann man nur vermuten, dass ein erheblicher Teil davon an Süchtige geht. »Das Problem ist bekannt«, sagt Dr. Axel Thiele vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte aus Bonn, unternehmen müsse man allerdings nichts. Da in jeder Flasche ein Beipackzettel liege und die Apotheker angehalten seien, über die Risiken eines überlangen Konsums aufzuklären, sei das Nasenspray für den Bereich der Arzneimittelsicherheit »kein großes Problem«. So ziehen Leute wie ich also weiter von Apotheke zu Apotheke. Spraywechsel hat den Vorteil, dass ich mich ganz bequem selbst belügen kann. Wohl wissend, aber verdrängend, dass es nicht an der Marke liegt, sondern am Wirkstoff, sage ich zu meinem Spiegelbild: »Ich werde nicht abhängig von dem Produkt in meiner Hand«, wenn ich mich als Gast einer Veranstaltung wieder mal auf die Toilette zurückgezogen habe, um mir einen befreienden Schuss zu setzen. Einmal, ich war gerade auf ei-ner Hochzeit und spürte, wie meine Nase sich schloss, rannte ich auf die Toilette. Ich hatte die Tür zum Klo schon fünfmal zuvor passiert, immer zog ich den Kopf ein, weil der Türrahmen viel zu niedrig für mich war. Diesmal verschwendete ich daran keinen Gedanken. Ich rannte mit der Geschwindigkeit eines Rennpferdes gegen den Querbalken und ging zu Boden. Das Blut floss von meiner Stirn, spritzte auf mein Hemd. Noch im Sitzen sprayte ich – und erlangte einen Zustand der Glückseligkeit, der wahrscheinlich nur mit höchster religiöser Ekstase vergleichbar ist. Apothekenwechsel hat den Vorteil, dass es nicht zu peinlich wird. Ich schaffe es, die Frequenz des sich wiederholenden Besuchs in ein und derselben Apotheke so gering zu halten, dass mir bis heute noch kein Mitarbeiter das Du angeboten hat. Die Großstadt hilft dabei. Nicht auszudenken, ich würde in einer Kleinstadt wohnen. Inzwischen kenne ich wahrscheinlich sämtliche Apotheken im Großraum Hamburg. Ich weiß, welche Apotheke wann Nachtdienst hat, wo man über die Gefahren des übermäßigen Konsums aufgeklärt wird (nervig) und welcher Apotheker das Produkt verkauft, ohne Fragen zu stellen (gut). Trotzdem: Besuche ich eine andere Stadt, führt der erste Weg immer in die Apotheke. Von ihrer Droge können Junkies schließlich nie genug bekommen. Mein Nasensprayflaschen-Bedarf ist allerdings auch riesig. Wo immer die theoretische Möglichkeit besteht, dass ich irgendwann mal vorbeikommen könnte, habe ich das Medikament platziert. Im Wohnzimmer und Büro, im Schlafzimmer sowieso, sogar in der Küche, in meiner Lieblingsjacke und im Auto. Wenn ich das Haus verlasse, geht mein erster Griff stets in die rechte Hosentasche: Spray, Haustürschlüssel – okay, es kann losgehen. Ich muss diese Bewegung nicht steuern, sie ist so selbstverständlich für mich wie die Zellteilung in meinem Körper. Dabei plagt mich ständig mein schlechtes Gewissen. Es ist zum Verrücktwerden: Einerseits wünsche ich mir, Apotheker zu sein, um ungestörten Zugriff auf den Wirkstoff zu haben, andererseits will ich gar nichts lieber als diesen blöden Tick loswerden. Abgesehen von dem realen Zuschwellen der Nase spielt auch die Psyche eine nicht zu unterschätzende Rolle. Dauernder Nasenspraykonsum ist in diesem Sinne nichts anderes als dauerduschen, sich ständig die Hände eincremen, jedes Türscharnier ölen zu müssen oder mehrmals täglich die Utensilien auf dem Schreibtisch symmetrisch mit dem Lineal zu ordnen. Wie es zu solchen Zwangsstörungen kommt, ist bislang nicht geklärt. Zwangskranke Menschen wissen sehr genau, dass ihre Gedanken und Handlungen völlig unsinnig sind. Aber folgen sie ihren Zwängen nicht, ergreift sie panische Angst. Ein bis zwei Prozent der deutschen Bevölkerung leiden nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Zwangskrankheiten an solchen Störungen. Niemand nehme Nasenspray aus Spaß, sagt Oberarzt Tesche. Sehr oft bestehe dazu eine medizinische Notwendigkeit, man müsse daher vor dem Entzug den Ursachen auf den Grund gehen. »Des Pudels Kern ist die Nasenatmung.« Wer etwa das Spray wegen zu großer Polypen nehme, könne nach einer Operation viel leichter darauf verzichten. Allerdings: Was nach dem abrupten Absetzen des Sprays kommt, ist, glaubt man den Foren im Internet, kein Spaß. Man kann wochenlang nicht schlafen, denn vor allem nachts ist die Nase ständig verstopft. Man hat Kopfschmerzen, wird übellaunig, befindet sich in einem permanenten Dämmerzustand, der Mund ist ausgetrocknet, man hechelt wie ein Hund. Und überhaupt: Wenn man andauernd durch den Mund atmet, sieht man ja auch etwas dümmlich aus. Trotzdem, ich will nicht länger Junkie sein. Ich höre jetzt wirklich auf mit dem Nasenspraykonsum. Morgen schmeiße ich die Flaschen weg. Oder übermorgen.