Von den Socken

Ohne sie hätten wir längst kalte Füße bekommen - und doch würdigen wir sie kaum eines Blickes. Bis jetzt. Eine kleine Geschichte der Socke.

Bestimmt haben Sie sich schon einmal gefragt, wie es sein kann, dass man zwei Socken in die Waschmaschine steckt und nur einer wieder herauskommt. Und warum ein tadelloser Strumpf, gerade erst gekauft, plötzlich ein Loch hat. Falls das Ihre einzigen Gedanken zum Thema waren – nun, dann gehören Sie zur Mehrheit. Denn die Socke ist unter den Kleidungsstücken das, was der Dachs unter den Waldtieren ist: Von tiefer Dunkelheit dem Blick entzogen, fristet sie ein Schattendasein. Und manchmal riecht es dort unten ein wenig streng.

So kann festgestellt werden: Der Socke fehlt es entschieden an Glamour. Im Gegensatz zur Unterwäsche, die ebenso unsichtbar bleibt, wohnt Socken auch keine erotische Komponente inne. (Wir setzen jetzt einmal voraus, dass die Leser des SZ-Magazins keine geschlechtliche Erbauung darin finden, sich andere Personen mit nichts als Strickstrümpfen bekleidet vorzustellen.) Die Socke wärmt den Fuß, federt den Tritt und polstert den Schuh – sie ist ein braves, funktionales Kleidungsstück mit niedrigem Coolness-Faktor. Doch wie so oft im Leben ist Coolness auch hier eine Frage der Perspektive. Erste Sympathien gewinnt der Strumpf bereits durch seine Leistungsbereitschaft: Kein anderes Kleidungsstück ist im täglichen Gebrauch ähnlichen Belastungen durch Reibung, Feuchtigkeit und Druck ausgesetzt. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich außerdem, dass die Socke über eine interessante Vergangenheit und vielversprechende Zukunft verfügt: In den letzten Jahren haben findige Textilingenieure den Fußlumpen von einst zum Hightech-Produkt weiterentwickelt, in dem inzwischen bis zu 14 Kilometer Garn pro Paar verstrickt werden, bei Bedarf mit Nanotechnologie. »Zurzeit durchläuft die Strumpfindustrie eine extrem innovative Phase«, bestätigt der Historiker Michael Schödel vom Deutschen Strumpfmuseum. »Wer fest auf beiden Beinen steht, braucht sich vor Sturm nicht zu fürchten«, sagt ein chinesisches Sprichwort. In vielen Kulturen haben die Menschen Methoden ersonnen, den aufrechten Gang – das zivilisatorische Urmoment – mit Schuhen und Strümpfen zu stützen. Die Phönizier und Ägypter scheinen trotz des milden Klimas im Mittelmeerraum bereits in vorchristlicher Zeit Strümpfe gestrickt zu haben, und das Wort »Socke« ist ein Lehnwort aus dem Lateinischen, von »soccus«, einem geschnürten, eng anliegenden Schlüpfschuh, der in der Regel zu Hause getragen wurde. Es dauerte dann aber noch mehr als tausend Jahre, bis sich die Stricktechnik in Europa verbreitete. Ungefähr ab dem 11. Jahrhundert zogen Fürsten, Könige und natürlich der Papst gestrickte Woll- und Seidenstrümpfe über ihre edlen Haxen, der Rest der Bevölkerung behalf sich mit Fußlappen, Wickelgamaschen, aus Tuch gefertigten Strumpfhosen und Beinlingen, die an den Gürtel geknotet wurden.

Anfang des 16. Jahrhunderts, als Martin Luther die Kirche spaltete, kam es auch zum großen Schisma des Beinkleids: zur endgültigen Trennung von Hose und Strumpf. Eingeführt wurde diese Neuerung von Landsknechten, die in den Konfessions- und Bauernkriegen kämpften und sich von der Zerteilung ihrer Garderobe größere Bewegungsfreiheit versprachen. Die Hose reichte nun bis kurz unters Knie, darunter bedeckte der Strumpf die komplette Wade, sofern die Wolle reichte. Dieses Grundmodell prägte die Männermode der folgenden Jahrhunderte und änderte sich erst 1789, als die revolutionären Franzosen demonstrativ knöchellange Hosen trugen und nicht die »culotte«, die Kniebundhose des Adels. Seit dem Wirken der Sansculottes ist der Strumpf dem Blick entzogen; wir brauchen heute also nur an unserem Bein hinabzuschauen, um der vielleicht nachhaltigsten Umwälzung der Französischen Revolution gewahr zu werden.

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Zu diesem Zeitpunkt wurden Socken bereits auf mechanischen »Wirkstühlen« hergestellt. 1853 eröffnete die erste englische Strumpffabrik, 1863 erfand der Amerikaner William Lamb die erste Flachstrickmaschine, bald darauf wurde auch die Rundstrickmaschine eingeführt, deren Grundprinzip noch heute die industrielle Strumpfproduktion bestimmt: Eine gewisse Anzahl von Nadeln – bei einem feinen Strumpf sind es zum Beispiel 240 – wird kreisförmig um einen Zylinder befestigt, sodass beim Stricken eine Art Schlauch entsteht. Ende des 19. Jahrhunderts war es bereits möglich, Strümpfe mit verstärkten Fersen und Spitzen zu stricken, die kontinuierliche Verbesserung der Maschinen ermöglichte ab 1920 schließlich die vollautomatische Herstellung gerippter und gemusterter Strümpfe. Als in den Dreißigerjahren Kunstfasern wie Nylon und Perlon synthetisiert wurden, waren schließlich die wesentlichen Elemente der modernen Strumpfherstellung verfügbar.

Die Socke ist ein krisensicheres Produkt, der große Trend zum Barfußlaufen wird trotz Klimawandels noch einige Jahrzehnte auf sich warten lassen. Dennoch haben die deutschen Hersteller in den vergangenen Jahrzehnten mit der Konkurrenz aus Billiglohnländern zu kämpfen. Wie in anderen Branchen auch mussten etliche Fabriken schließen, einige Traditionsfirmen verschwanden vom Markt. Eine Vielzahl von Unternehmen versuchten sich durch die Betonung von Mode und Design in diesem Wettbewerb zu behaupten. Ein besonderer Erfolg gelang hier der Firma Burlington, die im Jahr 1977 Socken mit dem charakteristischen Argyle-Design einführte, einem Karomuster, das in Schottland als Familienzeichen des traditionsreichen Campbell-Clans dient. Obwohl das schwierig zu strickende Design oft kopiert wurde, blieb es in der öffentlichen Wahrnehmung mit dem ursprünglichen Hersteller assoziiert; seit 1985 verbürgt außerdem eine am Schaft befestigte Metallniete die Marken-identität der Burlington-Socke.

Parallel zum Design wird viel Energie darauf verwendet, neue Materialien und Strickmethoden für die Strumpfherstellung nutzbar zu machen, um so die Haltbarkeit und den Tragekomfort zu verbessern. »Über innovative Techniken kann man dem Verbraucher mehr bieten«, sagt die Textilingenieurin Angela Langer, die beim deutschen Marktführer Falke Labor und Entwicklungsabteilung im Bereich Strickstrumpf leitet. Beträchtlicher Aufwand wird zum Beispiel betrieben, um den Strumpf »ergonomisch an den Fußauftritt anzupassen«. Im Zentrum dieser Bestrebungen steht die Erkenntnis, dass der rechte und der linke Fuß unterschiedlich geformt sind. Obwohl alles andere als ein Geheimnis, hatte diese Tatsache jahrhundertelang keinen Einfluss auf die Strumpfproduktion – ein Paar bestand stets aus zwei identisch gestrickten Socken, die allenfalls durch einen Aufdruck kundtaten, für welchen Fuß sie vorgesehen waren. »Wir haben bestimmte Modelle im Fußspitzenbereich an den Zehenverlauf angepasst«, erklärt Angela Langer. »Dazu verstärken wir den Strumpf im Auftrittsbereich, außer an der Spitze also auch im Fersenbeutel und an der Sohle.« Um den Strumpf solcherart an den Fuß anzupassen, sind teilweise aufwändige Stricktechniken nötig, die in langen Testreihen entwickelt werden müssen. Andererseits ist ein an die Fußanatomie angepasster Strumpf deshalb nicht ohne Weiteres zu kopieren.

Ein weiteres Forschungsgebiet des Falke-Labors betrifft das zentrale Imageproblem der Socke: den Fußgeruch. Hier erinnerten sich die Entwickler an ein altes Hausmittel zur Bekämpfung von Bakterien: Silber. Die antiseptische Wirkung des Edelmetalls ist schon lange bekannt; in vergangenen Jahrhunderten wurde es zur Eindämmung von Infektionen eingesetzt, und um zu verhindern, dass die Milch sauer wurde, legte man eine Silbermünze auf den Boden des Krugs. Die Nanotechnologie macht es nun möglich, dieses Prinzip gegen Fußschweiß einzusetzen, denn mit einer Silbermünze im Schuh möchten wohl die wenigsten herumlaufen. Stattdessen wurde eine Polyamid-Faser entwickelt, in die Silberionen integriert sind. In die Socke eingestrickt, bekämpft das Wundergarn die für den Fußgeruch verantwortlichen Mikroben. Und da die Silberteilchen nur einen Durchmesser von wenigen Millionstel Millimetern haben, bleibt die Silbersocke doch erschwinglich.

Den größten Entwicklungsaufwand betreiben Falke und andere Hersteller jedoch im Bereich der Sport- und Funktionssocken. Sie reagieren damit auf die zunehmende Professionalisierung des Freizeitsports, die auch Amateure dazu bringt, sich eine erstklassige Ausrüstung anzuschaffen – selbst wenn diese nur ein paar Mal im Jahr aus dem Schrank geholt wird. Kaum jemand wird der Erkenntnis widersprechen, dass die meisten Sportarten mehr Spaß machen, wenn man sie in geeigneten Schuhen ausübt; ebenso sinnvoll für den ambitionierten Jogger, Golfer oder Tennisspieler können spezielle Socken sein, die an den richtigen Stellen gepolstert sind und typische Bewegungsabläufe unterstützen. Für den Querfeldeinläufer gibt es inzwischen sogar einen beschichteten Strumpf, der mit Nanotechnologie wasserabweisend gemacht wurde.

Die S-Klasse unter den Socken sind jedoch die Skistrümpfe. Kein anderer Strumpf muss ähnlichen Druck und ähnlich extreme Temperaturen kompensieren und dabei einen ganzen Tag lang frisch und bequem bleiben. Falke hat vier Modelle im Programm, die sich an Fahrer mit unterschiedlichen Fähigkeiten richten, vom Anfänger bis zum Olympiasieger. Anhand des Einsteigermodells SK1 erläutert Produktmanager Götz Braun die Überlegungen der Entwickler. »Hobbyfahrer geraten auf dem Ski häufig in Rücklage. Dabei heben sich Rist und Zehen und drücken von innen an den Skischuh, deshalb haben wir diesen Bereich speziell gepolstert, im Vorfußbereich sogar mit sechs Prozent Seide.« Auch das Schienbein und der Knöchel seien besonders gepolstert, mit dem Kunstgarn Polypropylen, das über besonders gutes »Faserrücksprungverhalten« verfüge. »Das bedeutet, dass sich die Faser von allein wieder ausbeult, wenn man sie platt drückt.« Der Rest des Strumpfs besteht aus Polyacryl und Merinowolle; an letzterem Material überzeugt vor allem seine Fähigkeit, Feuchtigkeit aufzunehmen und wieder abzugeben, was besonders für Langzeitsportarten geeignet ist. Da die Polsterzonen unterschiedliche Höhen haben, ist der gesamte Strumpf von einer Art Kanalsystem durchzogen, das permanente Luftzirkulation gewährleistet.

Der Strumpf-Historiker Schödel ist davon überzeugt, dass nur solche Entwicklungsarbeit letztlich den Fortbestand der deutschen Sockenindustrie sichert. »Wir erleben gerade, wie sich der Schwerpunkt der Branche von der Mode zu den Funktionsstrümpfen verschiebt. Design ist eben zu leicht zu kopieren, ein Muster brauchen sie nur aufs Fax zu legen, dann kommt das eine Stunde später in China aus der Maschine. Man muss Sachen machen, die die anderen nicht hinkriegen, Stricktechniken entwickeln, die nicht kopiert werden können.« Einer der spannendsten Forschungsbereiche ist laut Schödel die Medikation durch Strümpfe. »Stellen Sie sich vor, dass ein Zuckerkranker sein Insulin eines Tages nicht mehr spritzen muss, sondern über die Strümpfe erhält. Das ist zwar momentan noch Zukunftsmusik, aber an solchen Ideen wird gearbeitet.« Nicht bestätigen kann Schödel allerdings, dass in einem Forschungsinstitut der Bayerischen Staatsregierung bereits eine Bier-Socke getestet wird, die zum Oktoberfest marktreif sein soll.

Auch bei Falke hat man genug Ideen. »Eines unserer Ziele ist eine Socke«, erklärt Angela Langer, »die das Fußklima in verschiedene Richtungen steuern, also den Fuß bei Bedarf wärmen oder abkühlen kann.« Mit den derzeit verfügbaren Materialien lässt sich ein solcher Wunderstrumpf bei aller Kunstfertigkeit der Strickmeister noch nicht herstellen. Aber wenn sich die Strumpf-industrie so weiterentwickelt, ist die geruchslose, klimaregulierende Wohlfühlsocke nur noch eine Frage der Zeit.