»Klar waren wir Freaks«

Die Fotografen Bernd und Hilla Becher haben als weltbekanntes Künstlerehepaar fast 50 Jahre lang zusammen gelebt und gearbeitet. Jetzt, ein Jahr nach dem Tod ihres Mannes, spricht Hilla Becher zum ersten Mal über ihr Leben. Und darüber, wie es weitergehen soll

SZ-Magazin: Wie geht es Ihnen, Frau Becher?
Hilla Becher:
Ach, ja. Die letzten Monate waren schon traurig.

Ihr Mann ist vor knapp einem Jahr gestorben. Was hat sich seitdem verändert?
Ich merke, dass ich älter werde, dass es mir schwerer fällt, mit den großen Kameras zu hantieren. Ich weiß, irgendwann ist auch für mich Schluss, aber ein paar Sachen, die wir zusammen begonnen haben, würde ich schon noch gern zu Ende bringen. Was zum Beispiel?
In erster Linie muss ich das Archiv so hinkriegen, dass es irgendwann sauber übergeben werden kann. Ich würde auch gern noch eine oder
zwei Arbeitsreisen machen. Vielleicht ist das auch eine Illusion, aber man klammert sich eben an solche Illusionen.

Sie haben vor, auch ohne Ihren Mann weiter zu fotografieren?
Ja, ich werde wieder fotografieren.

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Haben Sie schon Motive im Kopf?
Kennen Sie Teleskopgasbehälter? Die sind besonders in England riesig und wirklich schön. Die würde ich gern noch machen. Die sterben aus. Ich war schon in London, bin einen Tag lang mit dem Taxi durch die Stadt gefahren und habe Schnappschüsse gemacht. Ich weiß jetzt, wo die alle sind.

Sie haben ja Ihr Leben lang Industriedenkmäler fotografiert: Hunderte von Hochöfen, Hunderte von Wassertürmen, Hunderte von Kohlebunkern. Geht es um Vollständigkeit?
Bernd hat gegen Ende seines Lebens oft gesagt: Hilla, wir sind nicht fertig geworden. Und dann haben wir uns fast gestritten, weil ich gesagt habe: Was stellst du dir denn vor? Unser Werk kann doch gar nicht fertig werden, das ist unendlich.

War es für ihn schwierig, das zu akzeptieren?
Ich glaube, ja. Er konnte mir auch nie genau sagen, was er mit »fertig« eigentlich meinte. Wir wussten doch, dass wir nicht alles fotografieren konnten. In Russland zum Beispiel war es zu schwierig, da haben wir keine Erlaubnis bekommen.

Wurden im Hause Becher auch Familienfotos oder Schnappschüsse gemacht, zum Beispiel an Weihnachten?
Bei Bernd gab es das nicht, aber ich hatte immer auch eine kleine Kamera dabei. Mir war es schon wichtig, Erinnerungen festzuhalten.

Wen haben Sie fotografiert?
Unseren Sohn, meine Mutter, Familie eben. Am liebsten habe ich Gruppenaufnahmen gemacht. Ich habe aber nicht wild in der Menge
herumgeknipst, sondern alle Beteiligten in Stellung gebracht: die erste Reihe sitzend, die zweite stehend, die dritte auf dem Tisch. Ganz konventionell.

Warum hatte Ihr Mann kein Interesse an solchen Fotos?
Er hat sie abgelehnt, weil es ihn nicht interessierte, sie zu machen. Eigentlich hat ihn Fotografie nicht interessiert.

Ein ungewöhnlicher Satz über einen Menschen, der sein Leben lang nichts anderes gemacht hat.
Bernd war eigentlich ein Zeichner. Am Anfang hat er diese Industrielandschaften gezeichnet. Er wurde aber nie fertig, weil er so präzise war. Oft wurde ihm das Motiv vor der Nase weggerissen, die Schwerindustrie wurde im Siegerland zu der Zeit endgültig aufgegeben. Der Abbau, der Verfall gingen schneller voran, als er zeichnen konnte.

Und dann hat er sie fotografiert?
Genau. Er hat sich eine Kleinbildkamera geliehen und Fotos gemacht, als Vorlage für die Zeichnungen. So fing das an, Fotografie als Mittel zum Zweck.

Das klingt nach der Mentalität eines Archivars oder Historikers. Haben Sie sich überhaupt als Künstler verstanden?
Was ist schon ein Künstler? Wer sich Künstler nennt, ist noch lange kein Künstler, das bestimmen andere. Es ist völlig sinnlos zu sagen: Ich bin ein Künstler!

Warum haben Sie nie Menschen, nie Gesichter fotografiert?
Weil Menschen nicht unser Thema waren. Menschen sind ein anderes Thema.

Aber ein reizvolles.
Für andere vielleicht, für uns nicht. Wenn einer Kathedralen fotografiert, fragt doch auch keiner: Wo ist der Pastor? Wo ist die Gemeinde? Das wäre nicht adäquat. Wenn ein Mensch auf einem Bild ist, dominiert er es. Und wenn er nicht zum Thema gehört, dann stört er.

Warum ausgerechnet Förderanlagen und Hochöfen?
Weil sie ehrlich sind. Sie sind funktional und zeigen, was sie machen, das hat uns gefallen. Ein Mensch ist immer, was er sein möchte, nie, was er ist. Sogar ein Tier spielt meistens eine Rolle vor der Kamera.

Aber nur noch Industriearchitektur zu fotografieren, diese Entscheidung muss man doch erst mal bewusst fällen.
Das hat sich so hochgeschaukelt. Am Anfang wollte Bernd sich mit diesen Bildern seine Kindheit bewahren und zurückholen. Er war ja im Siegerland zwischen Erzbergwerken und Hochöfen groß geworden.

Aber Sie hatten doch einen ganz anderen Hintergrund. Sie kommen aus Potsdam.
Stimmt, als Kind habe ich in den Schlössern und Gärten fotografiert. Aber irgendwann fand ich das langweilig. Diese Bilder hat man ja immer schon im Kopf. Und dann kam ich zum ersten Mal ins Ruhrgebiet und war völlig perplex. So was hatte ich noch nicht gesehen, das war neu und fremd, das war ein Abenteuer für mich.

Und die Hochöfen wurden nie langweilig, vierzig Jahre lang nicht?
Zu keiner Sekunde. Wir haben uns diese anonyme Architektur richtig erarbeitet, Objekt für Objekt, bis wir begriffen haben, welche unglaubliche Vielfalt in diesem Sujet steckt. Irgendwann haben wir festgestellt: In England sehen solche Anlagen ein bisschen anders aus. Und dann haben wir uns natürlich gefragt: Warum sehen die anders aus? Wir haben gelernt, warum die Dinge so aussehen, wie sie aussehen. Wir haben gelernt, wie ein Hochofen funktioniert, wie er sich zusammensetzt, woraus er besteht. Und dann fällt es einem auch leichter festzustellen: Gibt es da eigentlich vorn und hinten? Irgendwann haben wir uns gefragt: Hat ein Hochofen ein Gesicht?

Hat er eines?
Nicht im wörtlichen Sinne, aber man kann ihn so fotografieren, dass er besser zu begreifen ist. Denken Sie mal an ein Pferd. Fotografiert man ein Pferd von vorn? Natürlich nicht, das gibt kein Pferd, das gibt ein Monstrum.

Sieht ein englischer Förderturm anders aus als ein französischer? Die Engländer sind pragmatisch. Die stört es nicht, wenn ein Rad in der Landschaft herumsteht. Die Franzosen haben es gern lieblich, die machen auf so ein Ding schon mal ein Dach und ein paar Ornamente, bis es aussieht wie ein chinesischer Gartenpavillon.

Und die Deutschen?
Sind ähnlich. Die setzen oft ein paar Zinnen drauf, wie bei einem Burgturm. Das Faszinierende ist, dass diese Objekte nicht gemacht sind, um schön zu sein, aber trotzdem Schönheit in sich tragen. Wie ein Hammer oder eine Zange, Gegenstände, die ehrlich und perfekt sind, die man nicht mehr verbessern kann.

Etwas ist schön, wenn es ehrlich ist?
Das ist sicher nicht die einzige Bedingung. Etwas ist auch schön, wenn es geradeaus ist oder direkt oder stimmig. Stimmig ist das bessere Wort. Wenn etwas seinen Zweck ideal erfüllt und nicht verklausuliert und verkompliziert ist.

Ist ein Kühlturm schön?
Wir haben diese Türme als schön empfunden. Oft hat einer einen neuen entdeckt und gesagt: »Der ist aber schön!«

Und wer hat dann auf den Auslöser gedrückt?
Darauf kam es gar nicht an. Wir haben immer im Team gearbeitet. Der eine hat die Leute unterhalten oder Wache gestanden, der andere hat das Stativ am Geländer befestigt oder mit der Schere das Unkraut weggeschnitten. Wir mussten uns gegenseitig helfen. Über Leitern und Steigleitern auf einen Hochofen zu klettern ist ungeheuer anstrengend, wenn man schweres Gepäck auf den Schultern hat. Wenn es möglich war, haben wir auch mit zwei Kameras gearbeitet. Wir standen oft unter Druck, weil wir uns nur begrenzte Zeit in diesen Anlagen aufhalten durften und das Wetter ja auch noch passen musste.

Wer war der Antreiber?
Eindeutig Bernd. Er war besessen und hat alles so oft wiederholt, bis es saß. Eigentlich bin ich auch Perfektionistin, aber er war so extrem, dass ich ihn manchmal aus seiner Manie reißen und bremsen musste.

Sie waren sein Korrektiv?
Das wäre übertrieben. Ich habe ihn als Chef und er hat mich als Berater akzeptiert. Anders geht es nicht. Das würde ich übrigens jedem Ehepaar raten. Einer sollte die Kompetenz kriegen und sagen können: So wird es gemacht! Ich glaube, dass Männer im Grunde doch ein bisschen ehrgeiziger sind als Frauen.

Vielleicht auch narzisstischer?
Nicht unbedingt, aber ich denke schon, dass Männer mehr Wert auf diese Rolle legen. Ich hatte damit überhaupt kein Problem und habe eher versucht, ihn durch Gespräche und Argumente dahin zu bringen, dass er
in meinem Sinne entschied. Alles eine Frage der Diplomatie.

Das Künstlerduo Gilbert und George nimmt sich überhaupt nicht mehr als zwei Individuen wahr.
Bei den beiden ist das natürlich ein Rollenspiel. Aber für sie ist es die Wahrheit. Wir kannten die beiden ganz gut. Schon in den Sechzigern waren sie öfter bei uns zu Kaffee und Kuchen. Manchmal habe ich auch gekocht, damals haben die sich noch über meine Frikadellen gefreut. Heute würde ich das nicht mehr machen. Die sind ja inzwischen alle so verwöhnt.

Haben Ihr Mann und Sie sich als zwei oder als ein Künstler gesehen? Warum hätten wir zu einem Künstler verschmelzen sollen? Nein, wir hatten eine gemeinsame Aufgabe, die war uns wichtig. Es ging um die Sache. Wie in einer Autowerkstatt, da wird auch im Team gearbeitet, um das Auto wieder flottzukriegen.

Sie haben in Deutschland, Frankreich, England und in den USA fotografiert. Wie haben Sie sich die Industriegebiete erschlossen? Wir waren oft wochenlang mit unserem VW-Bus unterwegs. In dem haben wir geschlafen, die Negative gewechselt, gekocht, einfach alles, wir hatten ja auch häufig unseren Sohn dabei.

Klingt ziemlich beengt.
Hotels konnten wir uns damals nicht leisten, es hätte in diesen Gegenden auch gar keine gegeben.

Haben Sie die Zeit als entbehrungsreich in Erinnerung?
Nein, als schöne Zeit, als sehr schöne Zeit. Wir waren in Gegenden, die touristisch überhaupt nicht erschlossen waren. Die waren echt. Keine Blumentöpfe, keine Rabatten. Die waren, was sie waren.

War es nicht belastend, mit einem kleinen Kind wochenlang in einem engen Bus durch halb England zu fahren?
Unser Sohn hat sicher einiges durchgemacht, aber es war eben so, und er hat das Beste daraus gemacht. Er hat gelernt, sich zu beschäftigen, hat gebastelt, geschnitzt und gezeichnet.

Wie sind Sie vorgegangen? Ein paar Tage Arbeit, dann ein paar Tage Pause?
Pausen gab’s bei Bernd nicht. Ich hätte manchmal schon gern Pause gemacht, vor allem wegen des Jungen, aber so einfach war das nicht. Manchmal hat es sich von allein ergeben, da hatten wir ein paar Stunden Zeit, weil es regnete oder die Sonne zu grell war.

Sonne hatten Sie nicht so gern, oder?
Den Vorwurf haben wir immer wieder gehört: Die Bechers mögen kein schönes Wetter. Das stimmt nicht. Man sieht die Details einfach besser, wenn der Himmel bedeckt ist. Die Konturen sind nicht durch Schatten verdoppelt. Wir wollten keine Stimmung in den Bildern, sondern Allgemeingültigkeit.

Warum?
Weil die Objekte sich dann besser vergleichen lassen.

Ihr Ziel war Emotionslosigkeit?
Letztlich ja. Wenn man einen See fotografiert, hinter dem die Sonne untergeht, dann ist der Sonnenuntergang auf einmal das wichtigste Element auf dem Foto. Uns hat aber nur der See interessiert. Nur dass der See bei uns ein Kohlebunker oder ein Hochofen war.

Haben Sie auch manchmal gemeinsam Urlaub gemacht?
So richtig Urlaub, zwei bis drei Wochen am Stück, das gab es bei uns nicht. Bernd hat das überhaupt nicht interessiert. Gerade versuche ich das nachzuholen. Mein Sohn hilft mir dabei. Vor Kurzem waren wir zusammen
in Kuba.

Sie haben lange kaum etwas verdient mit Ihren Bildern. Mussten Sie Ihre Arbeitsweise rechtfertigen?
Und wie! Gerade am Anfang haben viele Leute überhaupt nicht verstanden, warum wir etwas gemacht haben, wofür man kein Geld bekommt,
etwas, was sich also nicht lohnt. Ich fand das typisch deutsch. Die Engländer waren da anders, die haben einen Sinn für Menschen, die etwas Skurriles machen.

In England nennt man solche Leute Freaks. Waren Sie welche?
Klar waren wir Freaks. Ich kenne die Übersetzung zwar nicht, aber ich glaube, wir waren welche.

Hatten Sie Angst, sich die Reisen und das Arbeiten nicht mehr leisten zu können?
In den ersten Jahren ging es manchmal nicht mehr weiter. Wir hatten finanzielle Probleme, schlechte Objektive, schlechte Geräte, jede Reise war ein Problem. Und dann bekam Bernd das Angebot, an der Akademie in Düsseldorf zu unterrichten. Dass er den Job damals angenommen hat, hatte sicher auch mit unserer Lage zu tun.

Was hat Sie an Ihrem Mann fasziniert, als Sie ihn kennengelernt haben?
Dass er ziemlich verrückt war. Das hört sich jetzt platt an, oder? Aber wir waren uns ähnlich, haben uns gut unterhalten und ergänzt. Und er war eben anders als die anderen. Mehr kann ich nicht sagen. Und natürlich habe ich mich auch in ihn verliebt.

Was wäre gewesen, wenn Sie sich hätten scheiden lassen?
Daran denkt man doch gar nicht. Aber ich nehme an, er hätte weitergemacht. Und ich glaube, ich hätte irgendwie auch weitergemacht.

Hätten Sie zusammen weitergemacht?
Wenn es irgendwie gegangen wäre, ja.

So groß war die Neugierde auf die gemeinsame Arbeit?
Am Ende nicht mehr. In dem Jahr, als er starb, musste ich ihn noch mal richtig antreiben, damit wir nach Frankreich fuhren, um unser Buch über Getreidesilos zu Ende zu bringen. Er hatte keine große Lust mehr. Die Energie war weg.

War Ihr Mann ein melancholischer Mensch?
Eher witzig und humorvoll. Bernd konnte ziemlich deutlich werden, wenn er wollte. Einmal, das ist gar nicht lange her, haben wir in der Zeche Zollern II einen Mann getroffen, der kam auf uns zu und sagte: »Sie sind doch die Bechers – komisch, ich war mir sicher, einer von Ihnen wäre tot.« Da sagte Bernd wie aus der Pistole geschossen: »Nee, bestimmt nicht! Das wäre mir aufgefallen!«

Empfinden Sie Ihr Werk als romantisch?
Unsere Einstellung war romantisch, die Bilder sind es nicht. Wir haben ja versucht, dieses Gefühl wieder aus den Bildern rauszukriegen, das sollte keiner merken.

Anders gefragt: Sehen Sie in Ihren Bildern typische deutsche Wesenszüge? Überhaupt nicht.

Obwohl Sie beide den Krieg erlebt haben?
Das stimmt, wir sind beide vom Krieg sehr verrüttelt worden. Ich weiß noch, wie ich nach dem Krieg gedacht habe: Mein Gott, was haben meine Eltern für ein sentimentales Ideal von Landschaft, Schönheit, Musik. Ich fand deren Vorstellungen lächerlich, ja blödsinnig. Ich fand es auch komisch, nach 1945 wieder in die Schule zu gehen und im Handarbeitsunterricht Taschentücher zu umhäkeln. Das fand ich seltsam.

Also hat die Kriegserfahrung Ihr ästhetisches Verständnis schon geprägt?
Das ist ja was anderes, deswegen muss unsere Arbeit ja nicht typisch deutsch sein. Die Vorstellung vom bürgerlichen Leben war einfach dahin, ich habe das alles nicht mehr so ernst genommen. Dadurch war ich frei für eine unabhängige Betrachtungsweise.

Hat das Ihre Fotos so melancholisch gemacht?
Unsere Bilder und melancholisch? Tut mir leid, das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen.

Aber die Fotos zeigen eine Welt, die es nicht mehr gibt, ein vergangenes Deutschland, das kann einen Betrachter doch traurig stimmen.
Ja ja, die alten Zeiten, die nie wiederkommen, ich weiß schon, was Sie meinen. Eine Dampflok ruft bei vielen Menschen ja auch melancholische Gefühle hervor. Man nennt das wohl Nostalgie. Kein schönes Wort, finde ich, aber manchmal passt es. Weil von diesen Anlagen nichts bleibt als die Erinnerung. Der Stahl wird verschrottet, das bringt Geld. Und obwohl die Schwerindustrie damals noch in vollem Gange war, konnte man den Wandel schon ahnen.

Ihr Werk zieht sich wie eine ruhige konsequente Linie durch die Zeitgeschichte. Ihre Bilder spiegeln keinerlei Aktualität wider, kein Kalter Krieg, keine 68er-Bewegung, keine Wiedervereinigung.
Das haben wir ganz bewusst so gemacht. Wir haben immer gesagt: Wir können nicht Stellung nehmen. Wir haben auch nie bei einem Streik Partei ergriffen. Man kann nicht etwas kritisieren, wenn man es gleichzeitig auch fotografisch konstatieren will. Wir waren nicht auf der Seite der Kapitalisten und nicht auf der Seite der Ausgebeuteten. Diese Vokabeln stimmen so doch nicht, es ist alles viel komplizierter.

Ist es Ihnen schwer gefallen, als politische und reflektierte Menschen keinen Kommentar zu diesen Fragen abzugeben?
Wir haben schon mit Freunden und anderen Künstlern debattiert, aber wir konnten doch nicht in einer Hütte im Ruhrpott herumstehen und sagen: Hier, dieser Hochofen ist schuld an allem Elend. Es hätte ja auch nicht gestimmt. Es ist doch entscheidend, ob der Hochofen Krankenhausbetten oder Eisen für Bomben fabriziert.

Wurden Ihnen diese Vorwürfe gemacht?
Natürlich! Dass wir etwas ästhetisieren, was im Zweifelsfall …

… dem Töten diente.
Genau.

Wie haben Sie reagiert?
Wir haben uns nicht beirren lassen. Wir haben bei der Arbeit doch stundenlang mit den Menschen gesprochen, die vor diesen Hochöfen standen, die seit Jahren an ihnen arbeiteten. Die haben unser Anliegen gut verstanden. Und wir haben sie gut verstanden. Wir fanden es nicht verwunderlich, dass die sich total mit ihrem Werk identifizierten. Die haben sogar um ihren Hochofen getrauert, wenn er abgerissen wurde. Die hätten sich nicht von zwei Studenten beibringen lassen, dass sie Sklaven des Kapitalismus sind. Die hätten uns ausgelacht. Die hatten alle ihr Häuschen und fuhren einmal im Jahr in Urlaub. Die waren zufrieden.

Star-Fotografen wie Andreas Gursky, Thomas Ruff, Thomas Struth oder Candida Höfer haben bei Ihnen an der Akademie gelernt. Was macht die Becher-Schule aus?
Das ist die Schule von Bernd. Er hatte diese Anstellung an der Akademie.

Jetzt stapeln Sie tief. Die Becher-Schule wäre ohne Sie nicht denkbar gewesen.
Ich habe diese Leute natürlich auch alle kennengelernt, die waren ja auch oft bei uns zu Hause und wir haben geredet, aber in erster Linie war das Bernds Angelegenheit.

Was versteckt sich hinter dem Phänomen?
Eine Haltung, und zwar sowohl der Kunst als auch dem Leben gegenüber. Die waren jung und haben gesehen, wie wir leben, wie wir vor uns hin arbeiten, ohne viel zu fragen. Das war sicher ermutigend am Anfang, schließlich wusste keiner von denen, wohin die Reise mal gehen würde. Bernd hat sie ermutigt und gestützt, ihr eigenes Ding zu machen. Aber er hat keine Künstler kreiert. Wo nichts war, da ist auch nichts draus geworden. Es ging eher um die Art, wie man ein Thema durcharbeitet, vielleicht auch um Demut und Bescheidenheit.

Bescheiden wirken die Mega-Formate von Andreas Gursky nicht gerade.
Das ist Unsinn. Die Haltung ist entscheidend. Andreas Gursky wusste doch am Anfang auch nicht, dass er später mal erfolgreich werden würde mit seinen Arbeiten. Der ist auch Taxi gefahren, um Geld zu verdienen. Und dann hat er losgelegt, und zwar ohne Aussicht auf Erfolg, ohne Sicherheit.

Wie stand Ihr Mann zu dem Hype um die Becher-Schule?
Er hat sich darüber gewundert, aber ich glaube schon, dass er auch ein bisschen stolz war.

Auch Ihre eigenen Arbeiten wurden zu begehrten Sammlerobjekten, heute hängen sie in den wichtigsten Museen der Welt. Wie haben Sie reagiert, als Sie plötzlich gemerkt haben, dass Sie genau mit der Arbeit gefeiert werden, für die Sie sich so lange rechtfertigen mussten?
Wir haben weitergearbeitet. Bernd hat sich diesem Hype und den vielen Anfragen sogar richtig verweigert. Er hat immer gesagt: Nee, die kriegen nix! Wir sind doch kein Versandgeschäft. Ich musste ihn manchmal richtig daran erinnern, dass wir auch Geld verdienen und Miete zahlen müssen.

Aber eine Genugtuung war es schon auch, oder?
Klar war es am Schluss auch eine Genugtuung. Und die hat er auch ein bisschen genossen. Trotzdem ist er oft nicht mal zu unseren Eröffnungen gekommen. Zum Beispiel unsere Ausstellung im Centre Pompidou in Paris, die habe ich gehängt und dachte die ganze Zeit, zur Vernissage wird er schon vorbeischauen. Ist er aber nicht. Er hatte keine Lust.

Wen vermissen Sie mehr, den Lebensgefährten oder den Künstler Bernd Becher?
Da gibt es für mich keinen Unterschied, aber wenn ich mich entscheiden müsste, natürlich den Lebensgefährten. Für mich wäre es auch in Ordnung gewesen, etwas weniger zu arbeiten, das Archiv halbwegs in Ordnung zu bringen und noch ein bisschen Spaß zu haben, ein bisschen zu reisen. Aber ich glaube, er hätte das nicht akzeptiert, und jetzt ist es ohnehin zu spät, darüber nachzudenken.

Er wäre immer eher nach Nordengland gefahren als nach Kuba?
Ja, und es hätte ihm auch nicht gepasst, wenn ich es gemacht hätte. Er fand einfach, dass man da nichts zu suchen hat. Er hatte diese Neugierde nicht. Einmal riet mir der Arzt, ich solle wegen einer Bronchitis ein paar Tage nach Teneriffa fahren, wegen der gesunden Meeresluft, da hat er gesagt: Ach Hilla, was wollen wir denn auf Teneriffa? Da passen wir doch gar nicht hin.

Fotos: dpa, ap