Das Beste aus meinem Leben

Ich bin ein ehrlicher Mensch. Ich habe nie in meinem Leben etwas gestohlen. Neulich las ich in einem Interview mit Woody Allen, er habe als Junge zusammen mit Freunden kleinere Ladendiebstähle begangen, »Bonbons, manchmal auch Comic-Hefte.« Er habe das nicht getan, weil er sich die Gegenstände nicht hätte leisten können, sondern weil alle anderen es auch taten. Es habe ihm Spaß gemacht.

Ich beneide den Mann. Man muss im Leben seine Erfahrungen machen. Man muss vieles ausprobieren. Man darf nicht brav sein. Meine Ehrlichkeit ist zwanghaft. Ich empfinde sie als Einschränkung. Zu viel Ehrlichkeit ist ja auch beim Schreiben hinderlich. Sie beeinträchtigt die Fantasie, hindert einen am hemmungslosen Lügen, mindert die Qualität der hergestellten Produkte. Ich hasse meine Ehrlichkeit. Was hätte aus mir werden können ohne
sie?! Etwas Großes. Ein Verfasser dicker, von hinten bis vorne erlogener,
aber sehr spannender Bücher, basierend auf geschickt geklauten Ideen. Stattdessen rackere ich mich hier ab. Nun aber folgende Geschichte. Ich gehe neulich nach dem Büro noch bei Tengelmann vorbei, kaufe Milch, Joghurt, Batterien und Toilettenpapier. Meine Aktentasche lege ich in den Einkaufswagen, daneben die erwähnten Produkte. Ich komme zur Kasse. Lege die Produkte auf das Laufband. Und die Kassiererin sagt: »Heben Sie bitte Tasche hoch?!«

»Wie bitte?«, frage ich. »Heben Sie bitte Tasche hoch?!« »Ach sooo!«, sage ich. »Sie denken, ich habe etwas geklaut und verstecke es unter der Tasche.« »Neiiin«, summt sie. »Doch!«, sage ich beleidigt. »Das denken Sie!« »Haben Sie Kundenkarte?« »Nein.« »Sammeln Sie Herzen?« »Nein.« Ich trage meine Einkäufe heim und sage zu Paola: »Ich kaufe da nicht mehr ein. Man wird behandelt wie ein Dieb.«

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Sie sagt, ich solle da nicht empfindlich sein. Und diese armen Frauen an der Supermarktkasse, das sei der letzte Job, die hätten halt ihre Anweisungen. Und anscheinend komme da ja häufig so etwas vor, sonst gäbe es diese Anweisungen nicht. Und am Flug-hafen ließe ich mich auch widerstandslos von oben bis unten durchsuchen, als sei ich ein Terrorverdächtiger. Ja, sage ich, ja.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Übrigens bin ich vor Jahren einmal schwarzgefahren, in der Trambahn.)

Aber es ärgert mich. In was für einer verkommenen Gesellschaft leben wir, dass jeder Kunde potenziell als Dieb gilt! In welch herabgesunkenem Viertel wohne ich, dass ich in dem Laden, in dem ich jeden zweiten Tag einkaufe, als jemand gelte, der möglicherweise stiehlt! Und es ärgert mich auch, dass mich das ärgert. Warum bin ich nicht gleichgültiger? Abgestumpfter?

Warum beschäftige ich mich mit solchen Dingen? Warum nicht ausschließlich mit den großen Fragen? Liebe und Tod, kombiniert mit mehr Unehrlichkeit ­ach, ich wäre groß. Albern, diese Kränkbarkeit! Dieses riesenhafte Über-Ich, wenn es um Ehrlichkeit geht. Übrigens bin ich vor Jahren einmal schwarzgefahren, in der Trambahn. Ich war in den Anhänger eingestiegen, hatte dann erst gemerkt, dass ich kein Kleingeld dabeihatte, und war trotzdem nicht ausgestiegen.

Ein Bekannter, der mich zufällig beobachtet hatte, sagte mir später, ich habe so ostentativ nach Münzen gesucht, dass jedem im Waggon klar gewesen sei: Der Mann zahlt nicht. Immerhin. Wenigstens. Da ist doch ein bisschen was auf meinem Kerbholz. Mensch, Tengelmann! Tengelfrau an der Kasse. Warum nicht auch mal in meine Aktentasche hineinschauen? Bonbons? Comic-Hefte? Ich bin zu manchem fähig.

Illustration: Dirk Schmidt