Rezession

Täuscht das eigentlich oder ist der Mann, der da in dem Mülleimer nach Pfandflaschen wühlt, nicht auffallend gut angezogen? Täuscht das eigentlich oder haben die Grohes von nebenan in diesem Jahr tatsächlich auf ihren Sommerurlaub verzichtet? Und sind die Hemden, die der Kollege trägt, an den Ärmeln und am Kragen nicht schon ganz abgestoßen? Fast beschwörend suchen wir sie jetzt wieder: die Vorboten der Rezession.

Das Durchatmen war nur kurz, seit dem letzten Abschwung 2001 und der langsamen Erholung danach. Nun hat uns die Angst wieder. Es straucheln nicht nur die Banken, sondern auch Siemens, BMW und natürlich die Kaufhäuser, die es direkt spüren, wenn die Leute ihrem Geld nicht trauen. Hertie pleite, Sinn Leffers pleite: Dieses unheimliche Zittern ist wieder da, wenn jeden Abend kurz vor der Tagesschau die Börsennachrichten kommen und der Moderator ganz traurig und hundeäugig guckt und schon wieder ein paar Milliarden verschwunden sind. Die Mittelklasse wankt, heißt es, der Wohlstand bröckelt, ein irrationaler Schauder ergreift das Land. Denn die Wirtschaft ist in Deutschland nicht einfach die Wirtschaft, sondern eine metaphysisch aufgeladene gesellschaftliche Heilslehre. Die Wirtschaft, so der Glaube, hat uns ins Unglück gestürzt, als die Inflation von 1923 und die Weltwirtschaftskrise von 1929 die erste deutsche Demokratie auffraßen; die Wirtschaft, so der Schluss, hat uns aus dem Unglück errettet, als die Währungsreform von 1948 und der Wachstumsschub der Fünfzigerjahre die zweite deutsche Demokratie stabilisierten. Die Wirtschaft erlöst uns von unseren Sünden. Nicht Hitler oder wir, das wäre die Konsequenz dieses Denkens, das etwa Götz Aly in seinem Buch Hitlers Volksstaat vertritt: Die Reichsmark ist schuld an Auschwitz.

Und die D-Mark hat uns endgültig zu besseren Menschen gemacht. Das war eines der Gedankenfundamente der alten Bundesrepublik. Wirtschaft also ist Zivilisation, schwache Wirtschaft ist kurz vor der Barbarei. Es ist ein dünner Firnis, der uns vor uns selbst beschützt – und mit jedem Konjunktureinbruch und vor allem mit jeder Rezession wächst die Angst, dass wir wieder zu dem Wolf werden, der in uns steckt. Von einer Rezession reden Ökonomen dann, wenn die Wirtschaft in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen nicht wächst oder sogar schrumpft; fünf Rezessionen hat das Land seit 1945 erlebt, zwei davon, 1966 und in den Jahren 1981 und 82, waren immerhin mehr oder weniger direkt mit Regierungswechseln verbunden; unsere sechste Rezession steht uns, glaubt man den Zahlen, unmittelbar bevor. Und die Frage dabei ist weniger: Geht es uns gut oder geht es uns schlecht? Die Frage ist eher: Sind wir gut oder sind wir schlecht?

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Eine Rezession ist nun mal Orakel, Zahlenpsychologie, ist eine Niederlage im sportlichen Wettbewerb der Nationen. Auch Länder wie USA, Spanien, Irland oder Großbritannien stecken bereits mittendrin im Abschwung – der Unterschied ist nur, dass die Wirtschaft dort eher eine persönliche Geschichte von Erfolg oder Misserfolg ist und keine kollektive Erfahrung, die über Wohl und Wehe einer Nation entscheidet. Gerade in angelsächsischen Ländern, wo man ja glaubt, dass ökonomisches Gelingen eine Folge individueller Leistung ist, heißt es dann eben: damn, Pech gehabt, aufstehen, weitermachen. Es sind keine höheren Mächte im Spiel, sondern sehr irdische Kräfte. In Deutschland sagt man Schicksal, in Amerika sagt man shit.

Aus der Tradition des Idealismus heraus überhöhen wir eben gern alles Mögliche, unser Leben, die Nation, den Aufschwung, die WM, den Abschwung. Anderen geht es um Zins, um Zahlen, uns geht es um Sinn. Wir kommen nicht los von diesem Denken, das uns Immanuel Kant eingebrockt hat. Es ist ein philosophisches Jo-Jo, an dem dieses Land seit bald 250 Jahren hängt; und die heimliche Lust an der Katastrophe, am Untergang, in diesem Fall an der Rezession, ist die andere, die dunkle Seite dieses beliebten deutschen Gesellschaftsspiels.

Foto: ddp