Unter Beobachtung

Wo schauen Frauen noch genauer hin als bei Schuhauslagen und italienischen Männerhintern? Bei den Diäten, die andere Frauen machen.

Es gibt Menschen, die jede Sekunde ihres Lebens an das denken, was sie alles nicht essen dürfen: Auf Bratensoße schimpfen sie wie auf Teufelszeug, zu Torten halten sie Sicherheitsabstand, und ihren Feinden wünschen sie Weißbrot an den Hals. Ihr Leben dreht sich um wenige, aber alles entscheidende Fragen: Fasten in Lans bei Innsbruck oder bei Buchinger am Bodensee? Low Fat oder Low Carb? Kommt Zucker aus der Hölle? Können Salatsoßen ohne Öl schmecken?

Unter diesen Menschen – zugegeben: Es handelt sich meistens um Frauen – hat sich in letzter Zeit ein Phänotyp herausgebildet, der eine auffallende Verhaltensweise an den Tag legt. Es dreht sich hierbei um Frauen, die mit Adleraugen beobachten, was andere essen, und jenes Essen wie ein Orakel zu deuten versuchen. Nennen wir diesen Typ Frau: die Diät-Stalkerin. Diät-Stalkerinnen vermuten, dass es doch noch das ungelüftete, aber ultimative Diät-Geheimnis gibt. In ihrer Welt, in der Schlanksein das größte Pfund bedeutet, machen sie sich wie Geheimagenten auf die Pirsch. Von der Schwemme der Diäten, die es bereits gibt, kennen sie die meisten: Teller-Voyeurismus setzt Spezialwissen voraus. Sitzen sie in einem Restaurant, zählen sie im Geiste nicht nur die Kalorien auf anderer Leute Teller, sondern versuchen, Bestellungen wie mathematische Textaufgaben zu entziffern: Lebt die andere etwa nach der South-Beach-Diät wie Beyoncé Knowles (gute und schlechte Fette trennen)? Ist sie eine Verfechterin von Veronica Ferres’ Trennkost nach Dr. Hay (Trennung von Eiweiß und Kohlenhydraten)? Vertraut sie auf die Pyramiden-Diät wie Sandra Bullock (40% Kohlenhydrate, 30% Eiweiß, 30% Fett)? Oder schwört sie wie Kylie Minogue auf die Diät von Montignac (enthält Elemente aus Glyx-Diät, Trennkost und Low Carb). Lebt sie vegan? Ayurvedisch? Vollwertig? Wie nur lautet ihr Geheimnis? Und: Ist ihr Konzept besser als meins?

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Heute scheint das Wissen, wie man Essen am besten vermeiden kann, am wichtigsten zu sein.

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Wenn Diät-Stalkerinnen hören: »Einen Salat mit Huhn ohne Parmesan und Karotten, aber mit Goji-Beeren«, denken sie: Aha! Huhn und Käse getrennt! Könnte metabolische Ernährung sein! Keine Karotten? Mädchen, du kennst dich aus mit glykämischen Indizes, richtig? Und Beeren? Wegen der Antioxidantien, stimmt’s? Manche Stalkerinnen versuchen jetzt mit bohrenden Fragen weiterzukommen: »Goji-Beeren wirken ja Wunder… aber zusammen mit Huhn? Hab ich noch nie gehört!«

Wenn in früheren Zeiten der Menschheit das Wissen, wo es Essbares zu finden gibt, das Überleben sicherte, scheint es heute das Wissen zu sein, wie man Essen am besten vermeiden kann. In der Multioptions-Gesellschaft ist auch der Körper zur Option geworden: Abgesehen von Religion und Sex gibt es keine andere Disziplin, in der so viele Mythen und Versprechen existieren wie im Bereich der Ernährung. Für Diät-Stalkerinnen ist Ernährung Extremsport, bei dem sie versuchen, mit technischer Finesse ans Ziel zu gelangen – nicht mit Gewalt, wie es Essensverweigerer tun.

Schlanksein, Ernährungstricks, Diäten sind heute aber auch zu einem Mittel der sozialen Positionierung geworden: Die, die das Spezialwissen haben, zeigen wie Elitegruppen ihre Kompetenz in Fragen der Lebensführung. Deswegen achten besonders häufig Menschen auf ihre Ernährung, die als soziale Aufsteiger gelten. Die Soziologin Eva Barlösius vermutet sogar, dass neben einem unterschiedlichen Körperbewusstsein auch darin ein Grund zu finden ist, warum mehr Frauen als Männer nach Diäten leben: Frauen haben erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts ihren gesellschaftlichen Aufstieg durchgesetzt und sind seitdem auf der Suche nach einem selbstbestimmten, kulturell geachteten Lebensstil.

Der letzte Trend kommt aus den USA. »Food Porn«, Lebensmittel-Pornografie, nennt sich die Bewegung, bei der sich Menschen Bilder von Gerichten auf Internetseiten ansehen. Eine Userin bekennt: »Ich liebe es, Fotos von Essen anzuschauen. So kann ich mich daran erfreuen, obwohl ich weiß, dass es mich unglücklich machen würden, es zu essen.« Auf der Eingangsseite zu »foodporn.com« steht als Warnung zu lesen: »Alle Ihre verbotenen Fantasien werden hier erfüllt!«

Illustration: Marc Herold