Unheimlich still

Im Osten Deutschlands töten Mütter ihre Neugeborenen häufiger als im Westen. Über die Gründe darf öffentlich nicht diskutiert werden. Eine Spurensuche.

Hinter der Abzweigung nach Bernsbach wird es dunkel. Dichter Wald, durch den sich die Straße in steilen Kurven den Berg hochwindet. Die Kriminalpolizei Chemnitz hat es im Mai hier hinaufgeführt. Im Recyclinghof von Wiesa, 25 Kilometer entfernt, war ein totes Neugeborenes gefunden worden. Der Müllwagen, der es mitbrachte, kam aus Bernsbach. Ein lang gezogenes Dorf an einem kahlen Hang, ein hübsch renoviertes Rathaus in der Ortsmitte. Bürgermeister Frank Panhans hat kaum Haare, einen grauen Bart. Er sitzt unter einem Foto von Horst Köhler und einem von seiner Motorradsammlung. Die Polizei, erzählt er, habe ihn damals angerufen, wie sie es immer tut, wenn sie eine Hausdurchsuchung in Bernsbach plant. Die Gemeinde muss dann zwei Zeugen stellen. Diesmal fragte der Polizist, ob Panhans nicht persönlich vorbeikommen könne.
Und so lief er schnell die paar hundert Meter die Lauterer Straße hinunter zu den G.s, die er nicht kannte, dabei hat Bernsbach nur 4600 Einwohner.

Ein DNA-Test hatte Jenny, die 17-jährige Tochter der G.s, als Mutter des auf dem Recyclinghof gefundenen Babys identifiziert. Sie war schon abgeführt worden. Nur die Großmutter stand in der Tür, neben zwei Kommissaren und den Männern von der Spurensicherung. »Das war so ein liebevoll eingerichtetes Haus«, sagt Panhans gleich mehrfach, und er klingt zugleich verwundert und traurig. Die Nachbarn hätten die Spurensicherer mit ihren Overalls und dem Mundschutz für Kammerjäger gehalten. Ein anderer Gedanke sei bei einer »intakten Familie« wie den G.s nicht möglich gewesen.

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Der Bürgermeister will die G.s in Schutz nehmen, führt dabei eine Erklärung an, die bei Kindstötungen stets angeführt wird, selbst wenn sie neunmal hintereinander passieren wie bei den in Blumenkübeln vergrabenen Babys in Frankfurt an der Oder: C

Kindstötungen ereignen sich immer unerwartet. Würde sie jemand erwarten, bräuchte er ja nur die werdende Mutter dazu zu bringen, ihre Schwangerschaft einzugestehen. Das Kind wäre gerettet. Vielleicht ist das schon die einzige Regel, die sich aufstellen lässt für die Taten, die heute so unerklärlich sind. Früher waren Neugeborenentötungen die einzig sichere Methode der Familienplanung, bei den Römern deshalb straffrei.

Doch längst sind Abtreibungen erlaubt, es gibt die Pille und sogar Babyklappen. Trotzdem töten Mütter ihre Säuglinge, ungefähr zwanzig in jedem Jahr. Geschieht es aus tiefster Verzweiflung oder Gefühlskälte? Es gibt nur diese beiden polarisierenden Deutungen, nichts dazwischen.

Manchmal häufen sich die Fälle, wie im Februar in Brandenburg, als binnen zwei Wochen drei tote Babys gefunden wurden. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer brachte die Taten mit dem liberalen Abtreibungsrecht in der DDR in Verbindung – und traf die Empfindlichkeit der Ostdeutschen. Er entschuldigte sich.
Die Rücktrittsforderung war kaum verhallt, da wurde eine Babyleiche im sächsischen Elsterberg entdeckt und zwei Tage später Jenny G.s Kind in Wiesa.

Tatsächlich gibt es ein seltsames Ost-West-Gefälle: In den neuen Ländern werden Neugeborene mindestens doppelt so häufig getötet wie in den alten. Allein in Sachsen ermittelte die Polizei in den vergangenen zwölf Monaten in acht Fällen. Deshalb sind wir aufgebrochen nach Sachsen, um nach Gründen zu suchen – und in dieser Amtsstube im Erzgebirge gelandet mit ihren Akten und staubigen Wimpeln. Gegenüber von diesem netten, ratlosen Bürgermeister, den die hohe Zahl der Kindstötungen erstaunt, der sich noch nicht mal den Fall vor seiner Haustür erklären kann. »Irgendein Problem muss es gegeben haben«, sagt er schließlich. »Sonst wäre das ja nicht passiert.«

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Deshalb drückten die Mütter ihre Hand auf Mund und Nase, bis es still ist.)

Die Jugendlichen, die sich im Gemeindehaus gegenüber dem Rathaus treffen, wissen auch nicht mehr. Jenny G. hat sich keinem von ihnen anvertraut. Ein Mädchen war mal bei ihr in der Klasse, ein anderes häufiger bei ihr zu Hause und ein Junge mit ihr am Badesee, im Frühjahr erst, nach dem Tod ihres Neugeborenen. Der Junge bemerkte rote Streifen auf ihrem Bauch, hat sich aber nichts dabei gedacht. Was die Jugendlichen erzählen, sind nur Schlaglichter auf ein Mädchen, das den Halt verloren hatte: Jenny G. hat sich nichts sagen lassen, hat sich selbst Piercings um den Mund gestochen, viel getrunken, angeblich Crystal genommen, zeitweise im Heim gelebt.

Spezifisch ostdeutsch ist daran nur, dass das südliche Sachsen aufgrund seiner Nähe zu Tschechien zum Drogenschwerpunkt geworden ist. Eine große Heimlichkeit umgibt das Verbrechen der Kindstötung, die es auch schwer macht, etwas über die Mütter und ihre Motive zu erfahren. Sie verbergen erst ihre Schwangerschaft und dann das tote Kind, manchmal über Jahre, bis es jemand findet. Dana Ulbricht, Hauptkommissarin des sächsischen Landeskriminalamtes, sagt, dass die Frauen, die sie verhörte, von sich aus nur erzählten, was vor und was nach der Geburt passierte.

Den Totschlag sparten sie aus. Ulbricht muss dann insistieren: Und warum hat das Kind aufgehört zu schreien? Eine Geburt, das wisse jeder, sei eine »krasse Erfahrung«, für die Frauen ein Ausnahmezustand, in den sie im Verhör wieder zurückverfielen: Schwer erschüttert, schluchzend schilderten sie Details der Tat, die oft eine Kurzschlusshandlung ist. Denn das Neugeborene droht mit seinen Schreien die Heimlichkeit zu stören: Die Nachbarn könnten es hören. Deshalb drückten die Mütter ihre Hand auf Mund und Nase, bis es still ist. Kindstötung ist das einzige Gewaltverbrechen, für das keine Gewalt nötig ist.

Dresden, Villa Marie: Malerischer Blick auf das mit Schlössern und Villen gesäumte Elbtal. Hier beschließt Stephan Sutarski, psychiatrischer Gutachter für die Bezirke Dresden, Zwickau, Bautzen, Pirna und Görlitz, einen langen Tag vor Gericht mit einem Teller Vitello Tonnato. Zu Sutarski werden die Frauen ein paar Wochen nach der Polizeivernehmung gebracht. In seinem Büro an der Dresdner Uniklinik untersucht er sie auf ihre Schuldfähigkeit, denn wenn sie auch bei der Geburt außer sich waren – schuldfähig sind sie doch, mit Ausnahme der ganz wenigen, die in einer schweren Wochenbettdepression handelten.

»So ein Gutachten ist ein kreativer Akt«, sagt Sutarski. »Ich versuche mir ein Bild zu machen: Was ist das für eine?« Eine Frau sei überfordert gewesen, gerade ausgezogen, außerdem in einer Art Mutterrolle für ihren Bruder. Einer anderen schien ihre Beziehung noch zu frisch. Es sind beispielhafte, biografische Schnipsel, von denen Stephan Sutarski berichtet.
Er scheut sich vor Verallgemeinerungen, Kindstötung sei ein vielgesichtiges Verbrechen. Ostdeutsch? »Höchstens, weil es durch die vielen Umbrüche mehr Menschen gibt, die sich verloren fühlen, verloren sind, sich nicht wahrgenommen fühlen.«

C. Sonst würde doch jemand ihren schwangeren Bauch bemerken. Die Frauen, sagt Sutarski, zögen sich zurück, manche versteckten den Bauch sogar vor sich selbst: Sie mieden Spiegel, gäben viel Schaum in die Badewanne. »Das klassische Verhaltensmuster ist: Ich löse das Problem, indem ich es ignoriere. Bis zum Schluss hoffen sie, dass sich noch irgendeine Lösung auftut.«

Man würde gern selbst eine Frau treffen, die, als letzte Lösung, ihr Neugeborenes getötet hat, das nicht in ihr Leben passte. Sie fragen, warum sie es getan hat, was sie sich selbst damit angetan hat. Sein Kind umzubringen heißt doch: sich um sein Kind zu bringen. Hier in Dresden sitzt zurzeit eine Frau dafür in Untersuchungshaft: Pia C., 20, Gymnasiastin, sie darf keine Interviews geben.

Und Franziska G., 22, die vor zwei Jahren ihr totes Neugeborenes in einem Karton vor der Dresdner Babyklappe abgestellt hatte, lässt über ihre Anwältin ausrichten, dass sie noch nicht so weit sei, über ihre Tat zu sprechen. Absagen, die zu erwarten waren: Denn während jemand, der einen Mord oder einen Einbruch begangen hat, mitunter um Verständnis werben kann, kann eine Kindsmörderin höchstens um mildernde Umstände bitten.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Die Mütter verbergen erst ihre Schwangerschaft und dann das tote Kind, manchmal über Jahre)

So brechen wir wieder auf, diesmal von Dresden durch die hügelige Landschaft der Sächsischen Schweiz bis nach Polenz. Ein kleines Dorf ohne Kirche und Rathaus. Ein ockerfarbenes Haus an seinem Rand. Hier soll Pia C. im Hochsommer ihr Kind getötet und im Keller versteckt haben – der jüngste sächsische Fall. Im Garten schneidet ein muskulöser Mann mit grauen kurzen Haaren die Büsche. Es ist Pia C.s Großvater. Er hat das tote Baby gefunden und die Polizei verständigt. »Fragen Sie doch die, die es getan hat. Ich habe nichts getan«, sagt er. Dann geht er nach drinnen.

Unangenehmes Recherchieren: Gartentore mit Hundefotos, darunter »Betreten auf eigene Gefahr« geschrieben oder einfach nur ein Schild mit der Aufschrift »Vorsicht, pflichtbewusster Hund«. Türen, die sich nur einen Spaltbreit öffnen, für einen kurzen Satz wie: »Pia hat immer nett gegrüßt.« War nicht zu spüren, dass Pia C. schwanger und verzweifelt war? Hatte sie keine Freunde hier? »Wenn man morgens zur Arbeit geht, kümmert man sich nicht um andere Leute«, sagt eine Frau, was extrem gleichgültig klingt. Oder aber als kleine Angeberei gemeint sein könnte, es geschafft zu haben im neuen Land.

Der österreichische Philosoph Franz Schuh versuchte einmal zu erklären, wie es sein kann, dass niemand den Inzestfall von Amstetten bemerkte. Es geht um das Problem der öffentlichen Aufmerksamkeit: Wer in seiner Umgebung genau hinschaut, sagt Schuh, wird als indiskret bezeichnet; wer aber wegschaut, dem wird im Nachhinein Gleichgültigkeit vorgeworfen. Vielleicht ist es ja auch so: Dass das »Sich-nicht-Kümmern«, das die Nachbarin in Polenz fast stolz vor sich herträgt, eine Gegenreaktion ist auf den SED-Staat und sein allgegenwärtiges Bespitzeln. Ein überdehnter Begriff der Privatsphäre als neues Freiheitsverständnis?

Wolfgang Böhmer sitzt in einem schweren Sessel in seiner Magdeburger Staatskanzlei und schaut skeptisch. Herr Böhmer, Unsinn?
Böhmer arbeitete in der DDR als Gynäkologe. Als er im Frühjahr in einem Interview das Ost-West-Gefälle »mit einer leichtfertigeren Einstellung zu werdendem Leben« in den neuen Ländern zu begründen versuchte, stützte er sich auf diese Erfahrungen. »Vor meiner Zeit in einem evangelischen Krankenhaus habe ich selbst nicht wenige Schwangerschaftsabbrüche vornehmen müssen«, sagt er. »Ich fand es bestürzend, wie selbstverständlich manche Frauen mit dem Eingriff umgingen.«

Weiter will er seinen Gedanken heute nicht fortführen. Er will nur noch sagen, was sich nicht widerlegen lässt. Es klingt resigniert: »Jeder neue Fall trifft mich tief. Doch sehe ich keinen Ansatz, wie das Verbrechen zu verhindern ist. Die Schwangerschaften sind ja nicht bekannt.«
Ihm ist anzumerken, wie schwer es ist in der Politik, in der es immer um Macht geht, einmal einzugestehen, machtlos zu sein.

Kindstötungen sind private Tragödien. Ein Versagen der Mutter und ihrer Vertrauten, die sie aber nicht ins Vertrauen gezogen hat: Ehemänner, Eltern, Freunde. Nach der Tat schotten sie sich ab wie die Täterin selbst – aus Loyalität oder aus Selbstschutz. Erst zum Prozess müssen sie dann erscheinen. So auch im Fall von Susann F. aus Plauen. Sie ist vor dem Landgericht Zwickau angeklagt, zwischen 2002 und 2005 drei Neugeborene getötet zu haben.

Ein schweres Gebäude aus der Gründerzeit, der große Sitzungssaal. Susann F. bespricht sich mit ihrem Anwalt, eine blasse Frau mit grünen Augen im Cordjackett. Auf einer geschnitzten Bank vor der Tür des Zeugeneingangs warten aufgereiht ihre Freundinnen.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Die Frauen verstecken die Leiche oft in ihrer Nähe, angeblich, um sie bei sich zu haben.)

Im Foyer läuft Jörn G. auf und ab, der seit 13 Jahren mit Susann F. zusammen ist. Kurze Haare, Nickelbrille. Er ist Vater der drei toten Kinder und zwei weiterer, die leben: davor und danach geboren. Jörn G. sieht sympathisch aus. Doch aus seiner Aussage, zu der er sich jetzt in den Zeugenstand setzt, ist wieder nichts über die Psychologie einer Frau zu erfahren, die ihre Kinder getötet haben soll, dafür über die Lieblosigkeit, in der sie lebte.Richter: »Wie würden Sie Susann F. charakterisieren?«
G.: »Ich konnte nichts aussetzen.«
Richter: »Vielleicht mit ein paar Adjektiven. Wie war sie denn so?«
G.: Schweigt.
Richter: »Adjektive, Eigenschaftswörter…«
Psychiatrischer Gutachter: »Sensibel, verlässlich, verletzlich, kalt…«G.: »Sie war nicht gefühlskalt, ein ganz normaler Mensch. Alles war okay.«
Richter: »War sie sensibel?«
G.: »Frauen sind doch immer sensibler als Männer.«
Richter, entschieden: »Nee! War sie verlässlich?«
G.: »Tipptopp.«
Richter: »Verletzlich?«
G.: »Ist möglich.«

Susann F. schlägt die Hände vors Gesicht.
Einmal, erzählt Jörn G., habe Susann F. ihm gesagt, dass sie schwanger sei. Sie habe das Kind zur Adoption freigeben wollen, beide haben nicht weiter darüber gesprochen. »Ich war froh, dass das Problem weg war«, sagt er, und bemerkt seinen Lapsus. »Was heißt ›Problem‹?« Die Ausrede mit der Adoption verwendete Susann F. im Jahr darauf noch mal, als eine Freundin sie auf ihren runden Bauch ansprach. »Damit war die Sache für mich erledigt, ich hab’s nicht verurteilt«, sagt die Freundin.Warum hat Susann F. ihre Kinder nicht zur Adoption freigegeben? Das große Rätsel, das letztlich hinter jeder Kindstötung steckt, kann in dem Prozess wieder nicht geklärt werden. Nicht einmal für diesen Einzelfall. Susann F. schweigt.

Die Wissenschaft will es nicht dabei belassen. Um die Motive der Mütter vielleicht doch noch zu ergründen, hat Christian Pfeiffers Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen gerade damit begonnen, alle Neugeborenentötungen der vergangenen zehn Jahre auszuwerten. Außerdem sollen ausführliche Interviews mit den Müttern geführt werden, die doch so schwer zu verstehen sind. Offensichtlich stellt sich bei ihnen während der Schwangerschaft keine Bindung zum Kind ein. Dafür nach seinem Tod auf seltsame Weise. Die Frauen verstecken die Leiche oft in ihrer Nähe, angeblich, um sie bei sich zu haben. Susann F. verstaute eines ihrer Kinder in einem Müllsack auf ihrem Balkon, das andere in ihrer Tiefkühltruhe, die sie bei drei Umzügen mitschleppte. Ein makabres Detail dieses langen Prozesstages.

Ratlos fahren wir zurück Richtung Westen. Durch Elsterberg hindurch, wo im Frühjahr eine angehende Studentin ein totes Neugeborenes auf dem Dachstuhl ihres Elternhauses ablegte. Noch so ein Fall. Ein unheimlicher Gedanke kommt auf: Und wenn es andersherum wäre? Wenn nur die Mütter auffliegen, die ihre toten Kinder in ihrer Nähe behalten? Aber nie die, die ihre Kinder tief im Wald, fern von sich verstecken?

Fotos: Eva Leitolf