"Nervosität ist nicht Teil meines Gemüts"

Kit Armstrong hat eine Sinfonie geschrieben, ist in der Carnegie Hall in New York aufgetreten und mit Alfred Brendel, 78, befreundet. Das Besondere: Er ist erst 16 Jahre alt. Experten sind sicher: Der Junge ist nicht nur ein Wunderkind, er wird auch der größte Pianist des 21. Jahrhunderts. Hier können Sie das gesamte Interview mit Kit Armstrong lesen.

SZ-Magazin: Ihre Mutter meinte, Sie sprehen nicht so viel. Geben Sie nicht gern Interviews?
Kit Armstrong:
Das hängt von den Fragen ab. Wenn die mich interessieren, gebe ich gern Interviews.

Lang Lang kam über die "Hungarian Rhapsody" von "Tom & Jerry" zum Klavierspiel. Gab es bei Ihnen auch eine Art Schlüsselerlebnis?
Nein, ich fing ja erst mit dem Komponieren an. Und dann zeigte mir meine Mutter unser Klavier. Und ich habe es nie nicht gemocht. Wann haben Sie denn mit dem Komponieren begonnen?
1997. Ich war damals 5 Jahre alt.

Wie komponiert man als Fünfjähriger? Indem man Noten niederschreibt oder mit dem Computer?
Beides ist möglich.

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Können Sie das bitte genauer erklären? Irgendwie muss die Musik ja in Sie hineinkommen.
Ja, ich stelle mir die Musik vor, ich imaginiere sie.

Also setzen Sie sich hin und sagen sich: Jetzt will ich komponieren. Oder passiert es Ihnen, wenn Sie im Bett liegen oder durch die Straßen laufen?
Um zu komponieren hilft es für gewöhnlich, komponieren zu wollen.

Es kommt also nicht einfach zu Ihnen?
Nein, ich muss mich schon hinsetzen, aber sobald ich darüber nachdenke, kommt sie zu mir.

Wann haben Sie mit dem Klavierspielen angefangen?
Ein paar Monate, nachdem ich mit dem Komponieren begonnen hatte.

Wann haben Sie bemerkt, dass Sie außergewöhnlich talentiert sind, mehr als die meisten anderen?
Ich habe es nicht bemerkt. Denn darauf habe ich nie geachtet, darum geht es mir nicht.

Aber Sie müssen doch merken, dass Sie ein Ausnahmetalent sind.
Zumindest behaupten das die Leute um mich herum.

Und Sie denken nicht darüber nach?
Nein.

Worüber denken Sie denn nach?
Wenn ich komponieren, denke ich über meine Kompositionen nach.

Und wenn Sie nicht komponieren?
Denke ich nicht über meine Kompositionen nach.

Sondern?
Darüber, was ich gerade mache.

Sie sind auch sehr an Mathematik, Physik und Chemie interessiert. Haben Sie noch andere Leidenschaften?

Ich habe viele Interessen.

Welche denn zum Beispiel?
Ich liebe es, Konzepte zu entwerfen. Ich mag es auch sehr gern, Dinge zu entwerfen. Zum Beispiel Origami.

Lesen Sie?
Manchmal lese ich auch.

Eher Romane oder wissenschaftliche Bücher?
Meistens lese ich Bücher, die auf Fakten beruhen.

Was im Moment?
Zwei von Professor Pinker. Eines über Evolutionspsychologie, das andere über Spracherwerb.

Wie haben Sie gemerkt, dass Sie an Naturwissenschaften interessiert sind?

Ich interessiere mich für Dinge, die Nachdenken erfordern.

Und hängen Ihre beiden Leidenschaften, Musik und Naturwissenschaften zusammen?
Ja, die beiden Sachen haben miteinander zu tun. In der Musik hat alles hat eine Basis, die man erklären kann. In den Naturwissenschaften ist es auch so.

Wie lange spielen Sie Klavier am Tag?
3 Stunden.

Aus Spaß oder um zu üben? Der Pianist Jewgenij Kissin hat mal gesagt, er spiele nie aus Spaß.
Klavierspielen ist Spaß für mich. Ich spiele immer, wonach mir gerade ist. Ich nehme ja nicht an den Olympischen Spielen teil.

Sie werden als Wunderkind bezeichnet. Was halten Sie von den Menschen, die Sie so nennen?

Ich denke mir, dass diese Personen Journalisten sein müssen.

Weil die immer übertreiben?
Sie haben ihre eigenen Weg, Konzepte und Ideen auszudrücken.

Mögen Sie keine Journalisten?
Das habe ich nicht gesagt. Ich sage nur: Was sie meinen, ist selten das, was ich meine.

Lesen Sie Zeitungen oder Magazine?
Manchmal.

Was für welche?
Ich lese sie nur, um meine Zeit totzuschlagen. Ich erinnere mich später kaum daran.

Sehen Sie eine Gefahr darin, dass Sie noch so jung sind und trotzdem stark in der Öffentlichkeit stehen und als Wunderkind gefeiert werden?
Ja, da ist eine Gefahr. Ich glaube aber, die Gefahr ist vor allem in mir und deshalb habe ich eine Angst. Ich bin sehr stark und wenn ich mich gar nicht um eine mögliche Gefahr kümmere, dann ist da auch keine Gefahr.

Ist es hart für Sie, dieses Interview zu führen?
Nicht dieses.

Warum?
Ihre Fragen gefallen mir eigentlich ganz gut. (lacht)

Wann missfällt ihnen ein Interview oder eine Frage?
Persönliche Fragen finde ich langweilig, Fragen über mich. Wenn die Fragen nichts mit dem zu tun haben, was ich mache und was ich mag.

Was sind Ihre Lieblingskomponisten? Oder anders gefragt: Gibt es welche, die Sie ablehnen?
Ich kann keinen Komponisten bewerten, wenn ich nur ein paar Werke von ihm kenne, da bin ich vorsichtig. Ich versuche immer offen für Komponisten zu sein, natürlich gibt es Stücke, die ich nicht mag, aber das impliziert nicht den Komponisten.

Aber Sie haben Favoriten...

Es gibt viele Komponisten, denen ich mich verbunden fühle.

Welche denn?
In der letzten Zeit habe ich viel Bach gespielt, das hat mir gefallen. Auch Mozart. Überhaupt war mir Mozart immer sehr nahe.

Warum Bach? Warum Mozart?
Bei Mozart kommt es mir vor, als hätte ich seine Musik immer irgendwie gekannt. Seine Musik ist die platonische Idee von Musik in meinem Geist. Und was Bach angeht: Ich schätze ihn mehr und mehr, weil sie eine besondere Tiefe hat, die ich gern entdecke und die Bedeutung hat.

Lesen Sie Biografien von Komponisten?
Früher.

Hören Sie ab und an Popmusik?
Nein. Ich lehne Pop nicht ab, ich habe Pop nur nie gehört.

Warum?

Ich habe es nie versucht.

Aber Sie leben in London. Dort hört man in jeder Straße, in jedem Geschäft Popmusik.
Ich bin zu abwesend, zu sehr mit anderem beschäftigt, als dass ich zuhören würde. Wirklich, es fällt mir gar nicht auf. Popmusik ist für mich ein Hintergrundgeräusch, es irritiert mich nicht mehr als Autogeräusche.

Wie sieht bei Ihnen ein normaler Tag in London aus? Was tun Sie nach dem Aufstehen?
Ich esse.

Und dann?
Bin ich an der Uni und studiere Mathematik. Ich spiele Klavier und komponiere. Die Royal Academy of Music habe ich gerade abgechlossen.

Haben Sie Freunde in Ihrem Alter?
Alter ist mir egal.

Aber haben Sie welche?
Schon möglich. Ich habe nie gefragt, wie alt sie sind.

Sie sind mit einem der größten Pianisten der Gegenwart befreundet: Alfred Brendel. Wie haben Sie sich kennen gelernt?
Ich habe ihn zum ersten Mal im Jahr 2004 gesehen. Damals habe ich ihm vorgespielt. Er hat mich ispiriert, in Musik und in anderen Dingen.

Was haben Sie von ihm genau gelernt?
Zuletzt hat er mir empfohlen, Wein zu trinken.

Sie trinken schon Wein?
Nein.

Aber später mal?
Ja.

Und was Musik angeht?
Darüber will und kann ich nicht sprechen. Ich will es nicht trivialisieren.
Aber Sie müssen es nicht trivialisieren, Sie können es doch erklären.

Offensichtlich verstehen Sie sich, mögen Sie sich.

Das stimmt. Gerade wird ein Film gedreht über unsere Beziehung und unsere Sessions.

Wie oft sehen Sie sich?
Ich habe es nicht gezählt. Vielleicht einmal im Monat.

Brendel wird gegen Ende des Jahres seine Konzerttätigkeit einstellen. Was verliert die klassische Musik, wenn er nicht mehr spielt?
Was mich betrifft, werde ich ihn als Pianisten vermissen, dem ich gern zuhöre

Aber Sie können ihn ja weiterhin spielen hören.
Das stimmt. Ich gehe überhaupt selten zu Konzerten anderer Pianisten, weil ich nicht enttäuscht werden will. Mich interessiert das gar nicht so.

Was ist für einen Pianisten wichtiger: perfekte Technik oder großes Herz?
Diese Kategorien sind zu vage.

Haben Sie ein Ritual vor oder nach einem Konzert?
Ich esse zu Mittag und esse zu Abend.

Memorieren Sie das Stück?
Natürlich memoriere ich es, weil ich immer ohne Noten spiele.

Spielen Sie für das Publikum oder für sich?
Ich bin Teil des Publikums.

Nervös?
Nein.

Niemals?
Nein, es ist nicht Teil meines Gemüts.

Sie scheinen wirklich schnell darin zu sein, Dinge aufzunehmen. Lernen Sie auch Sprachen so leicht?

Ich lerne gern Sprachen, aber ich achte nicht darauf, wie schnell ich sie lerne. Für mich ist nur wichtig, dass ich etwas lerne, was mich anzieht, was mich interessiert.

Was für Sprachen sprechen Sie?
Englisch, Chinesisch, Taiwanesisch, Französisch. Ich lese auch Latein.

Gibt es überhaupt irgendetwas, womit Sie sich richtig schwer tun? Vielleicht sogar schwerer als andere Menschen in Ihrem Alter?
Geduld. Wenn mich etwas nicht interessiert, habe ich Schwierigkeiten damit. Ich will immer über etwas nachdenken.

Langweilen Sie sich manchmal?
Ja.

Wann?

Wenn ich nichts zu tun habe. Wenn ich nichts tun muss.

Aber Sie können ja immer damit beginnen, etwas zu tun oder über etwas nachzudenken.
Das ist der Grund, warum ich mich nie sehr lange langweile.

Wie verhält sich Ihrer Meinung nach ein typischer 16-jähriger Junge?

Nach dem, was ich so höre, spielt er 20 stunden am Tag Videospiele und läuft mit einem Messer durch die Straßen.

Was ist typisch für Sie?

Ich zerstöre gern Dinge.

Was für Dinge?
Dinge, die leicht und spekatulär zu zerstören sind.

Zum Beispiel?
Ich lasse im Chemielabor gern Sachen explodieren.

Haben Sie einen besten Freund, einen richtigen Kumpel?
Ich habe bessere Dinge zu tun.

Aber Sie haben Freunde?
Ja, Leute, mit denen ich Musik mache, von der Uni.

Es gibt da diesen Spruch: Mozart ist zu einfach für Kinder und zu schwer für Pianisten.
Ich bin mir nicht sicher, ob Mozart zu einfach für Kinder ist, aber sicherlich sehr schwer für Pianisten.

Sie sind 16 Jahre alt. Gibt es Stücke, die man nicht spielen sollte, bevor man ein bestimmtes Alter erreicht hat? Stücke, die Sie bewusst noch nicht in Angriff nehmen?
Wenn ein Stück zu schwierig ist für den Geist eines 16jährigen, ist der der 16jährige sicherlich der Letzte, der das bemerkt.

Das ist wahr.
Ich glaube, es gibt Stücke, die ich nicht mag oder die ich nicht ganz verstehe.

Welche zum Beispiel?
Ein paar Scherzi von Chopin. Die sind zwar populär, ich sehe aber im Moment keine Möglichkeit, Gefallen an ihnen zu finden.

Wie bewerten Sie Ihre früheren Kompositionen?
Sie repräsentieren nicht das, was Komponieren heute für mich bedeutet. Trotzdem halte ich sie nicht alle für schlecht, manche sind ganz solide komponiert, aber sie treffen eben nicht meine momentane Idee von Komposition.

Können Sie mir diese Idee vielleicht erklären?
Nicht mit Worten, nur durch Kompositionen.

Sind Ihre Kompositionen komplexer geworden?
Ich glaube nicht, dass meine Kompositzionen heute komplexer sind als früher. Ich glaube nicht einmal, dass man sagen kann, dass eine Sache komplexer ist als eine andere, egal wovon man spricht. Komplexität lässt sich nicht messen.

Sie haben schon eine komplette Sinfonie komponiert.
Ja. Celebration.

Wie alt waren Sie damals?
Ich war sieben Jahre alt. Sie soll aber nie wieder gespielt werden.

Warum?
Ich mag sie nicht mehr

Sie haben die Aufführung verboten?
Ja.

Warum mögen Sie sie nicht mehr?
Als ich sie schrieb, wusste ich nichts darüber, was ein Orchester alles leisten kann.

Empfinden Sie sie heute als eitel?
Nein.

Als zu offensichtlich?
Natürlich erscheint sie mir als offensichtlich. Immerhin habe ich sie geschrieben.

Wie lange haben Sie gebraucht?
Einen Monat.

Und wie viele Stunden pro Tag haben Sie daran gearbeitet?
Das weiß ich nicht mehr.

Ungefähr?
Zwei.

Wo sehen Sie sich in zehn Jahren? Werden Sie Mathematiker, Pianist oder Komponist sein? Welches Ziel verfolgen Sie?
Ich würde immer gern das machen, was mich am meisten interessiert.Im Moment ist es genau das, was ich tue. Ob ich in zehn Jahren noch an den gleichen Sachen gefallen finde, kann ich heute noch nicht sagen.

Aber es scheint doch auf den Konzertpianisten hinauszulaufen, oder?
Ich bin ziemlicher sicher, dass ich weiterhin an Musik interessiert sein werde.

Foto: afp