"Das Ende ist an der Zeit"

Der spanische Schriftsteller Jorge Semprún hat die Geschichte Kubas von Castros Machtübernahme bis heute so genau beobachtet wie wenige andere Intellektuelle.

SZ-Magazin: Herr Semprún, bedauern Sie, dass auf Kuba die Ära Castro zu Ende geht?
Jorge Semprún:
Nein. Das Ende ist an der Zeit. Und Castros antidemokratisches Regime hat es aber immerhin geschafft, dass die Kubaner im Vergleich zu den meisten anderen lateinamerikanischen Ländern ziemlich gut ausgebildet sind. Von dem vergleichsweise exzellenten Gesundheitssystem gar nicht zu reden.

Besteht nicht die Gefahr, dass das Land zum Protektorat der USA wird? Unter den Exil-Kubanern sind die Revanchisten, die nach einer gewaltsamen Abrechnung trachten, in der Minderheit. Und Kuba selbst verfügt über ausreichend fähige Leute, die das Land gut durch die Phase des Übergangs führen könnten – ohne dass es eine Disneyland-Kolonie der Vereinigten Staaten wird. Als die Revolution in Kuba 1959 gesiegt hatte, waren Sie Kommunist und haben im Untergrund in Spanien gegen das Franco-Regime gearbeitet. Wie empfanden Sie und die Genossen damals die kubanische Revolution? Wir waren begeistert, nur in einer Hinsicht fühlten wir uns unwohl. Es war – einerseits – genau die Revolution, die wir uns auch für Spanien wünschten: Sie war vom Volk getragen, war demokratisch und freiheitlich. Andererseits hatten wir nicht die Absicht, die Revolution in Spanien gewaltsam durchzusetzen. Unser Weg sollte friedlich sein. Wir fürchteten, Kuba werde ein schlechtes Vorbild für junge Aktivisten in Spanien sein.

Seither ist Kuba von vielen westeuropäischen Linken auf oft geradezu naive Weise idealisiert worden. Das ergab sich teils aus Unkenntnis, teils aus dem Bedürfnis, endlich einen guten Kommunismus zu erleben, und teils aus dem Vergleich mit den Zuständen in den Ostblockländern: Bis in die zweite Hälfte der Sechzigerjahre war die Herrschaft in Kuba noch nicht verknöchert. Die Kulturseiten der Zeitung Revolución zum Beispiel waren offen für alles Neue. Sie wurden in ganz Latein-amerika gelesen.

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1967 waren Sie in Kuba zu Gast und haben mit Castro selbst gesprochen. Sagen wir lieber: Ich habe ihn sprechen hören. Er hatte ein paar Intellektuelle eingeladen. Wir durften ihm stundenlang zusehen, wie er Basketball spielte. Anschließend, spät in der Nacht, hielt er uns einen Vortrag über die Notwendigkeit, Zitrusfrüchte auf Kuba zu züchten. Dann erschien sein Arzt und erklärte, nach dem anstrengenden Spiel müsse er nun ins Bett. Das war’s. Die Leute, mit denen er da Basketball spielte, kann man übrigens nicht einmal als Parteileute bezeichnen. Es war mehr seine Clique, eine Bande Gleichgesinnter, die mit ihm Sport trieben und mit ihm zusammen Politik machten. Was mir in der Nacht auch auffiel: Die Frauen waren ausgeschlossen, die saßen ganz weit entfernt. Das Ganze war ein Männerspiel.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: "1968 hat Castro die Niederschlagung des Prager Frühlings gutgeheißen: Da erst hat er sich ganz der Sowjetunion in die Arme geworfen.")

Dabei heißt es, Castro könne sehr charmant sein. Er konnte es sicher sein. Aber uns hat er von oben herab behandelt. In seinen Augen waren wir dämliche Europäer, denen er erklären musste, was das ist: eine Revolution. Zweifellos hatte er seine Stärken: Er war ein großer Anführer, ein Mann der Tat, mutig, eine moralische Autorität. Aber ich fand: Ein echter Revolutionär war er nicht!

Wie bitte? Seine Redeweise war nicht danach. Er sprach wie ein spanischer Bourgeois. Als ich ihm zuhörte, kam es mir vor, als rede da irgendein bürgerlicher oder falangistischer Politiker aus den Dreißigerjahren. Castro sprach nicht für das Volk und nicht mit der Stimme des Volkes. Karl Marx war auch ein Bürgerssohn, er hat sich trotzdem eine andere Rhetorik zugelegt.

Marx hat sehr komplizierte Sätze konstruiert. Darum geht es nicht. Marx hat auf jeden Fall nicht so gesprochen und geschrieben wie die Angehörigen seiner Klasse. Castro schon. Ich sagte mir damals: Das kenne ich, das interessiert mich nicht. Entsprechend war dann auch Castros Politik: Die kubanische Kommunistische Partei ist ein künstliches Konstrukt. Erst als Castro an der Macht war und sich dem Kommunismus verschrieben hatte, baute er die KP zu einem politischen Instrument aus. Er wurde Kommunist, um sich an der Macht zu halten, nicht um sie zu erringen. Das ist einzigartig. Alle anderen Revolutionen des 20. Jahrhunderts, die im Kommunismus endeten, waren von einer KP angeführt. In Kuba war das nicht so.

Haben Sie das schon 1967 so gesehen? Damals war noch nichts entschieden. Erst etwas später hat sich in Kuba durchgesetzt, was wir aus allen kommunistisch regierten Ländern kennen: die Einparteienherrschaft und die Unterdrückung Andersdenkender. 1968 hat Castro die Niederschlagung des Prager Frühlings gutgeheißen: Da erst hat er sich ganz der Sowjetunion in die Arme geworfen. Er hätte es anders machen können.

Wie denn? Kuba hatte mit dem Embargo der USA zu kämpfen. Aber Castro hätte trotzdem versuchen können, mit ein paar Ländern Lateinamerikas gute Beziehungen aufzubauen.

Er hat zumindest versucht, seine Revolution dorthin zu exportieren. Und was hat das Kuba genutzt? Gar nichts. Enge diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen wären besser gewesen. Er brauchte Alliierte, das stimmt. Aber warum nur die Sowjetunion? Das amerikanische Embargo war eine ungeheuerliche Dummheit, nicht bloß moralisch, sondern …

(Lesen Sie auf der nächsten Seite "Die Meinungen und Erfahrungen der Bauern waren nicht gefragt. Die Planwirtschaft nach sowjetischem Vorbild hat Kuba schlecht getan.")

Es war, um mit Talleyrand zu sprechen, nicht nur ein Verbrechen, es war ein Fehler. Ja, es war und ist ein großer politischer Fehler. Die damaligen Lateinamerika-Experten im Weißen Haus waren sehr blöd, ihrem Präsidenten diese Politik zu empfehlen. Das führte nur dazu, dass nun wirklich das ganze Land hinter Castros Regierung stand. Castro brauchte internationalen Beistand. Aber dass er sich einzig auf die Sowjetunion gestützt hat, liegt meiner Ansicht nach daran, dass ihm das auch innenpolitisch passte: Die Einparteien-Herrschaft nach dem Modell der Sowjetunion gefiel ihm, weil er so auch seine Macht zu festigen trachtete.

Was ihm ja auch gelungen ist. Es ist ihm nicht gelungen, die kubanische Revolution demokratisch zu Ende zu bringen. Also ist er auf das klassische Modell zurückgefallen: Einparteienherrschaft, Unterbindung der Meinungsfreiheit, Pressezensur.

Welches waren Castros größte Fehler? Die Übernahme des Stalinismus auf ganzer Linie – bis hin zur Landwirtschaft. Castro wollte Zitrusfrüchte und Kaffee in Kuba anbauen lassen, obwohl die Bedingungen dafür dort nicht gegeben sind. Dann setzte er auf eine Monokultur – den Anbau von Zuckerrohr. Die Meinungen und Erfahrungen der Bauern waren nicht gefragt. Die Planwirtschaft nach sowjetischem Vorbild hat Kuba schlecht getan.

Wo auf dem großen Tableau der Diktaturen des 20. Jahrhunderts würden Sie Kuba einsortieren? Die Revolution in Kuba ist etwas ganz Eigenes, Castros Regime ist eben nicht das Produkt des militärischen Einflusses der Sowjetunion. Die Revolution 1959 war demokratisch, das Ergebnis eines Volkskrieges. Es hat lange gedauert, bis Castros Diktatur sich als solche entwickelt hat. Und obgleich sich seine Herrschaft dem sowjetischen System anglich, ist seine Diktatur nicht totalitär. Castro war kein typischer Parteichef, wie man sie aus dem Ostblock kennt. Er ist eigentlich ein Caudillo. Außerdem ist der Einfluss der Religion in Kuba sehr groß: Die Santería, der afroamerikanische Glaube, ist ein starker Konkurrent aller politischen Interessen.

Lula da Silva in Brasilien, Hugo Chávez in Venezuela und Evo Morales in Bolivien repräsentieren die neue Linke in Lateinamerika. Welche Bedeutung haben sie? Alle drei sind aus starken Volksbewegungen hervorgegangen, ansonsten aber sehr unterschiedlich: Morales vertritt in Bolivien die Interessen der indianischen Ureinwohner. Chávez’ Regierung ist erratisch, er lebt vom Petrodollar: Ohne Öl könnte er nichts machen.

Viele halten ihn im Kern für einen Diktator, den legitimen Nachfolger Castros. Chávez hat eine rohe Art, er hat einzelne Fernsehsender oder Zeitungen unterdrückt, die ihm nicht passen. Er mobilisiert manchmal die Lumpen.

Sie meinen die sehr armen, völlig unpolitischen Menschen, die Karl Marx als »Lumpenproletariat« bezeichnet hat? Genau. Aber insgesamt hält Chávez sich an die demokratischen Spielregeln und achtet die Meinungsfreiheit. Als das Referendum, das ihm größere Machtbefugnisse zubilligen sollte, gegen ihn ausging, hat er das akzeptiert. Was Lula da Silva angeht: Der ist mit Chávez und Morales nicht zu vergleichen: Ich lernte ihn 1981 kennen, als er bloß ein Gewerkschaftsführer war, damals hatte er gerade seine Arbeiterpartei gegründet. Er ist kein Politiker, der den Leuten nach dem Munde redet. Das zeichnet ihn aus. Obwohl es auch unter ihm Probleme mit Korruption gibt, halte ich ihn für einen verantwortungsbewussten und klugen Mann.

Beim Verlag C. H. Beck erschien vor Kurzem Franziska Augsteins Buch »Von Treue und Verrat. Jorge Semprún und sein Jahrhundert«.


Foto: dpa