»Sex ist natürlich weiterhin politisch«

Alex Comforts Buch »The Joy of Sex« war in den Siebzigerjahren das Manifest der sexuellen Befreiung. Heute ist zwar Pornografie allgegenwärtig, aber wir haben viele neue (und immer noch ein paar alte) Probleme. Deshalb hat die Autorin Susan Quilliam den Klassiker gegenwartstauglich gemacht. Ein Gespräch.

Im Lauf des Jahres wird die deutsche Übersetzung von »The New Joy of Sex« im Südwest-Verlag erscheinen.


SZ-Magazin: Susan Quilliam, eine amerikanische Zeitung zählte The Joy of Sex, das Sie nun komplett überarbeitet haben, kürzlich zu den einflussreichsten Büchern des 20. Jahrhunderts. Was kann an einem Sex-Ratgeber so bedeutend sein?
Susan Quilliam:
Alex Comforts Buch, 1972 erschienen, hatte großen Anteil an der sexuellen Revolution, die unser Leben in den vergangenen Jahrzehnten verändert hat. Es war das erste Sex-Buch, das keine Ängste schürte, sondern Freude, Spaß und Wohlbefinden betonte. Seine Botschaft war, dass es etwas Gutes ist, Sex zu genießen, mehr darüber zu lernen und Neues auszuprobieren. Das war damals revolutionär.

Und heute?
Die Botschaft ist weiterhin aktuell, denn in gewisser Weise haben wir uns im Kreis gedreht. Zehn Jahre nachdem das Buch erschienen war, wurde Aids entdeckt. Die sexuelle Befreiung hat viele Probleme mit sich gebracht: Pornografie, Kindesmissbrauch, sexuellen Leistungsdruck, emotionalen Stress. All das hat die Menschen in den letzten Jahren vorsichtiger werden lassen. Deshalb ist jetzt ein guter Zeitpunkt, um wieder für mehr Spaß am Sex einzutreten – ohne die Probleme zu ignorieren.

Im Vorwort zu seinem Buch schrieb Alex Comfort, dass sich das sexuelle Verhalten der Menschen im Lauf der Zeit kaum verändere. Stimmt das?
Auf den reinen Akt bezogen, ja; ich habe zum Beispiel nur vier neue Stellungen in das Buch aufgenommen. Andere Teile musste ich hingegen wesentlich stärker überarbeiten. Paare gehen heute ganz anders miteinander um als damals. Viele Tabus sind gefallen, und der gesamte gesellschaftliche Rahmen der Sexualität hat sich verändert. Außerdem wissen wir heute sehr viel mehr über die biologischen Vorgänge beim Sex.

Meistgelesen diese Woche:

Zum Beispiel?
Der wichtigste wissenschaftliche Durchbruch betrifft die Klitoris. Früher war noch nicht klar, wie wichtig sie fürs sexuelle Empfinden der Frau ist. Shere Hite hat zwar schon Ende der Siebziger die Bedeutung der Klitoris betont, ohne aber einen biologischen Beweis zu haben. Erst vor wenigen Jahren wurde entdeckt, dass die Klitoris nicht nur aus der kleinen, sichtbaren Spitze besteht, sondern ein viel größeres Organ ist, dessen Gewebe an der Vagina vorbei in Richtung Becken führt. Frauen, die nicht durch Penetration, sondern nur durch Stimulation der Klitoris zum Orgasmus kommen, mussten sich lange anhören, nicht richtig zu funktionieren. Heute wissen wir, dass das total normal ist und der weiblichen Anatomie entspricht.

Was war eigentlich noch mal der ominöse G-Punkt?
Eine erogene Zone, die kurz hinter dem Scheideneingang liegt.

Und gibt es ihn nun oder nicht?
Der neueste Forschungsstand besagt, dass die meisten Frauen – nicht alle – einen G-Punkt haben. Manche Frauen haben weiter innen noch den sogenannten A-Punkt, außerdem gibt es den U-Punkt zwischen Klitoris und Scheideneingang; auch das sind potenzielle erogene Zonen.

Wenn man nach den Ereignissen sucht, die unserem Sexleben in den letzten Jahrzehnten eine neue Richtung gegeben haben, kommt man zuerst auf HIV/Aids. War mit der Entdeckung dieser Krankheit die sexuelle Revolution schon wieder vorbei?
In den Achtzigern ist mit Aids die Angst zurückgekommen, aber die Revolution wurde nicht gestoppt. Wir sind heute trotzdem viel freier, was Sex angeht, als 1972. Wir sind vielleicht etwas ängstlicher, aber wir haben weiterhin mehr Sex mit mehr Partnern als früher, wir reden mehr über Sex, in den Medien steht mehr über Sex. Wir leben heute in einer sexualisierten Gesellschaft. Das bringt neue Probleme mit sich. Aber trotzdem wünsche ich mir ganz bestimmt nicht die Zeiten zurück, in denen Sex etwas Schmutziges, Heimliches war, für das man sich zu schämen hatte.

Ein weiterer Einschnitt war die Einführung von Viagra im Jahr 1998.
Viagra und ähnliche Medikamente haben das Sexleben vieler Männer revolutioniert. Es ist jedoch wichtig zu wissen, dass Erektionsstörungen meist auf eine latente Krankheit zurückzuführen sind. Wenn ein Mann anhaltende Erektionsprobleme hat, sollte er also keinesfalls einfach Viagra nehmen, sondern zum Arzt gehen und sich auf Diabetes oder Herzprobleme untersuchen lassen. Eine andere Sache, die wir herausgefunden haben: Nicht jede Frau freut sich darüber, dass ihr Mann wieder eine Erektion bekommt. Nach den Wechseljahren hat sie vielleicht gar kein Interesse mehr an Sex mit Penetration. Viagra kann also auch zu neuen Problemen führen.

Sie sagten vorhin, dass sich die Art geändert hat, wie Paare miteinander umgehen. Inwiefern?
Am wichtigsten ist hier die neue Rolle der Frau. In der Gesellschaft oder am Arbeitsplatz sind Frauen weiterhin nicht gleichberechtigt, aber sie sind, wie viele Studien belegen, inzwischen gleichberechtigte Partner im Bett. Die Zeiten, in denen die Frau beim Sex dem Mann zu Diensten war und nicht selbst befriedigt wurde, sind vorbei. Die Menschen reden heute auch viel mehr über Sex als früher. Sie verhandeln Wünsche und Fantasien, ihre Vorstellungen von Treue, Verhütung und Safe Sex, den Gebrauch von Pornografie, um nur ein paar Beispiele zu nennen.

Kann das viele Gerede über Sex nicht auch die Lust schmälern?
Die Annahme, Sex müsste etwas Unerklärliches, Geheimnisvolles haben, ist meiner Meinung nach altmodisch. Auch in unserer sexualisierten Gesellschaft wissen die Menschen noch immer nicht genug über Sex. Sie lieben sich und glauben, automatisch ein gutes Sexleben zu haben. Aber das stimmt nicht! Deshalb ist es niemals verkehrt, dem Partner zu sagen, was man mag, was einen erregt oder wo man berührt werden möchte.

Was heute an der Original-Version von The Joy of Sex überrascht, ist die positive Meinung, die Alex Comfort über Pornografie hatte.
Für ihn war es eine Form der sexuellen Fortbildung, gut gemachte Pornografie anzuschauen. Menschen beim Sex zu zeigen galt damals außerdem als Aufbegehren gegen eine repressive Moral.

Inzwischen ist es kaum mehr vorstellbar, dass Pornos einmal als etwas Progressives galten.
In den Siebzigern umgab diese Dinge eine Unschuld, die schon lange verloren ist. Damals glaubten viele, alles sei erlaubt: Man könne mit jedem oder jeder schlafen, ohne emotional verletzt zu werden; man könne mit Hunderten von Partnern ins Bett gehen, ohne je eine Geschlechtskrankheit zu bekommen. Wer all das nicht tat, stand schnell im Verdacht, verklemmt zu sein. Wir wissen heute, dass es im Gegenteil besonders reif ist, die Sexualität ernst zu nehmen und sich auch der Probleme bewusst zu sein, die Sex mit sich bringen kann.

Steigt mit zunehmender Freiheit auch der sexuelle Leistungsdruck?
Ja, das ist ein großes Problem. Früher war es normal für eine Frau, in ihrem Leben nur einen einzigen Partner zu haben. Heute möchte jeder ein aufregendes Sexleben mit vielen Partnern und jeder Menge Spaß am Sex, so wie in den Medien, wo die Leute die ganze Nacht lang die wunderbarsten Orgasmen bekommen. Dieser Druck führt zu viel Frust und Unzufriedenheit. Ich habe in einer englischen Zeitschrift eine Ratgeber-Kolumne und bekomme viele Briefe von Leuten, deren sexuelle Probleme damit zu tun haben, dass ihr Sexleben nicht den von Medien und Pornofilmen geweckten Erwartungen entspricht.

Was ist Ihr Rat?
Die Einzelfälle können sehr unterschiedlich sein, aber generell versichere ich den Leuten, dass es völlig normal ist, nicht Tausende von Partnern zu haben oder sieben Mal Sex pro Nacht. Die Sexualisierung der Gesellschaft beeinflusst auch unser Schönheitsideal. Seit Alex Comforts Zeiten hat der Druck, mit seinem Aussehen einem Ideal zu entsprechen, immens zugenommen. Wir sind heute gefangen in einer Kultur der Jugend und Schönheit. Es geht darum, dünner zu sein, größere Brüste und weniger Falten zu haben. Eine fatale Entwicklung, die nicht nur zum Boom der Schönheitschirurgie geführt hat, sondern auch zu einem dramatischen Anstieg der Essstörungen, bei Männern, Frauen und Kindern. Wir müssen den Menschen wieder beibringen, sich in ihrer eigenen Haut wohl zu fühlen.

Der neueste Trend: Schönheitsoperationen an der Vagina und den Schamlippen.
Oh ja – fürchterlich!

Im Buch ziehen Sie eine Parallele zur Genitalverstümmelung in Afrika.
Das kann man nicht wirklich vergleichen; ich kritisiere eben beides. Sich aus kosmetischen Gründen an den Schamlippen oder an der Vagina operieren zu lassen ist nicht klug; es hat etwas von freiwilliger Verstümmelung.

Warum rasieren sich heute so viele Frauen – und auch zahlreiche Männer – die Schamhaare ab?
Zum einen ist es hygienischer, sich zu rasieren. Dadurch vermeidet man Filzläuse oder Infektionen. Wichtiger ist meines Erachtens aber der Wert, den jugendliches Aussehen in unserer Gesellschaft hat. Ein glatter, haarloser Körper wirkt jugendlicher als ein behaarter, deshalb rasieren sich die Leute – besonders übrigens in Deutschland und Holland, dort sind die Prozentanteile sehr hoch. Alex Comfort wäre darüber bestimmt erschüttert, er war nämlich ein großer Verfechter des natürlichen Looks. Er fand, dass Frauen nicht mal ihre Achselhöhlen rasieren sollten, vom Schamhaar ganz zu schweigen.

Sind Sie trotz aller Probleme optimistisch für die Zukunft unserer Sexualität?
Ja, vor allem weil heute so viele gute, zuverlässige Informationen verfügbar sind. Bei einer Studie, die ich kürzlich unter europäischen Frauen durchgeführt habe, kam heraus, dass klare Werte zur Sexualität weit verbreitet zu sein scheinen: Sex ist etwas Gutes, Natürliches, mit dem man sorgfältig umgehen sollte, und Sex macht man am besten mit jemandem, den man mag. Unser Umgang mit Sex, davon bin ich überzeugt, ist generell reifer geworden.

Kann Sex je wieder so eine politische Dimension haben wie in den Siebzigern?
Heute geht es nicht mehr darum, eine freiere Sexualmoral zu erkämpfen, aber Sex ist natürlich weiterhin politisch. Die beiden wichtigsten Debatten drehen sich um die komplette Akzeptanz von Homosexualität, die noch immer nicht erreicht wurde, und um Fruchtbarkeit. Der ethische Rahmen der künstlichen Befruchtung wird gerade intensiv diskutiert. Das wird uns noch lange beschäftigen.

Verraten Sie uns zum Schluss bitte noch Ihr Lieblingskapitel in The New Joy of Sex.
Vom professionellen Standpunkt gefallen mir die Kapitel am besten, die ich stark überarbeitet habe. Persönlich mag ich aber ein ganz kurzes namens »The Venus Butterfly« am liebsten. Da geht es um eine Sextechnik, bei der gleichzeitig Vagina, Klitoris und Anus einer Frau stimuliert werden. Ich empfehle jeder Frau, diese Technik einmal auszuprobieren! Die ist ganz erstaunlich!

Susan Quilliam geboren 1950, ist eine der bekanntesten englischen Sex-Expertinnen. Sie hat 19 Bücher geschrieben und zuletzt Alex Comforts Klassiker »The Joy of Sex« komplett überarbeitet. Die deutsche Übersetzung von »The New Joy of Sex« erscheint im Lauf des Jahres im Südwest-Verlag.