Verschollen

Ende der Siebzigerjahre verschwand diese Segelyacht in der Karibik. Ein Verbrechen? Unser Autor machte sich auf die Suche nach seinem Vater, der damals an Bord war.

Vom Wasser aus gesehen sind die Inseln Westindiens schroffe, dunkle Brocken. Vulkane in Wolken. Nebel über Talschneisen. Die Wälder voll bleierner Nässe, die selbst aus der Entfernung schwer und drückend scheint. Cocosepp hisst das Genuasegel. Wir wollen Antigua, eine Insel im Norden der Kleinen Antillen, noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen. Cocosepp ist ein österreichischer Einhandsegler, er nimmt mich mit, weil ich nach Spuren der deutschen Segelyacht Nordstern IV suchen will, die dort 1977 verschwand. An Bord der Yacht war auch mein Vater.

Die Zinnen von English Harbour, dem Hafen von Antigua, kommen in Sicht. Plötzlich kracht es. »Der Wind!«, brüllt Cocosepp. Ein Flugzeug fliegt direkt über uns hinweg, aber man hört es nicht einmal. »Vor Antigua prallen die Winde ineinander und schlucken den Schall!«, brüllt Cocosepp. Der Wiener Pensionist hat sich von seinem Ersparten einen Katamaran gekauft. Er ist ein »Yachtie«, einer der heruntergekommenen Abenteurer, die nicht viel mehr haben als ihre Boote. Montags, wenn in den Seglerkneipen von Martinique, St. Lucia, Grenada und Antigua Happy Hour ist und es Rum zum halben Preis gibt, legen all die alten Einhandsegler an. Männer, die mal Söldner waren, Steuerflüchtige, Makler und Mörder. Und Pensionisten aus Wien. Sie heißen Cocosepp und Kaktus-Günther, Keule oder Knieschuss-Siggi.

Manche von ihnen kommen irgendwann nicht mehr über die Runden und fangen an, Heroin oder Gras von Kolumbien nach Florida zu bringen. Manchmal gehen die Touren auch schief. So kam Siggi, der ehemalige Maschinist, in Caracas zu seinem Knieschuss, und Wölfi, der Afrika-Söldner aus Hamburg, wanderte in den Knast. Andere Abenteuer gehen sogar tödlich aus. Die Yachties erinnern sich noch gut an das mysteriöse Verschwinden des roten Schiffs aus Düsseldorf.

Meistgelesen diese Woche:

Am 19. März 1977 verlässt die 18-Meter-Yacht Nordstern IV English Harbour. An Bord: der Eigner und Skipper Manfred Lehnen, 42, Metzger aus Düsseldorf. Seine Freundin, die Chemikerin Dr. Christine Kump, 39, zwei Wochen zuvor angereist aus dem schweizerischen Biel-Benken. Die vier Chartergäste kennen sich noch nicht, es sind die Medizinstudentin Ulrike Müller, 22, der Kölner Arbeitsrichter Jürgen Groß, 35, der Nürnberger Ingenieur Hugo Rösel, 44, und Helmut Kuhn, damals 34 und Chirurg in Kassel – mein Vater.

Es soll eine große Urlaubsreise werden, eine Atlantiküberquerung nach Europa. Ziel ist Lissabon, mit Zwischenstopp auf den Azoren. Sechs bis acht Wochen haben der Skipper und seine Gäste dafür eingeplant. Jürgen Groß und Ulrike Müller wohnen schon seit einer Woche in den angenehmen Kabinen der Nordstern, Hugo Rösel ist zwei Tage vor dem Auslaufen angekommen. Mein Vater trifft am 18. März als Letzter ein.

Wie alles begann, das lässt sich ziemlich genau rekonstruieren. Am Tag vor der Abfahrt herrschen 35 Grad im Schatten, eine milde Luft liegt über dem Hafen. Nachdem mein Vater seinen Seesack ausgepackt hat, fährt er zusammen mit Jürgen Groß noch rüber zu dem lang gestreckten Hafenbau in der Freeman’s Bay. Sie setzen sich auf die Terrasse einer Bar und bestellen Bourbon, das werde ich viele Jahre später auf derselben Terrasse von demselben Kellner erfahren, der die beiden damals bedient hat. »Mannschaft und Schiff machen einen guten Eindruck«, schreibt Vater auf eine Postkarte.

Einen Tag später, am Abend des 19. März, legt das Schiff ab, ohne offizielle Abmeldung. Es ist kurz vor Anbruch der Dunkelheit, erinnert sich der Schweizer Einhandsegler Ruedi Wagner, der die Nordstern als Letzter vom Bastionswall aus sieht.

Der geplante Ankunftstermin verstrich. Das Schiff traf nicht in Portugal ein. Es vergingen Tage. Es vergingen Wochen. Niemand hatte auch nur das Geringste gehört. Die Yacht hatte keinen Funk an Bord. Ich war damals 14 Jahre alt und voller Angst. Ich klammerte mich an winzige Hoffnungen: War das Schiff irgendwo gestrandet? Waren sie alle als »Spione« in Kuba verhaftet worden? Die Radios brachten unablässig Suchmeldungen. Sie blieben ebenso ohne Ergebnis wie ein Aufklärungsflug der amerikanischen Luftwaffe. Laut Wettermeldungen hatten sich in der fraglichen Zeit und auf der geplanten Route keine Stürme ereignet, die so ein Schiff zum Kentern hätten bringen können. Was dann? Waren sie Opfer von Piraten geworden?

Antje Kuhn, die zweite Frau meines Vaters, und Brigitte Hadert, die Lebensgefährtin von Jürgen Groß, reisten kurzerhand auf die Antillen, um selbst nach ihren Männern zu suchen. Sie waren drei Monate unterwegs und fanden Segler, Hafenmeister und Hoteliers, die das Schiff zweifelsfrei identifizieren konnten und es noch nach dem 19. März in den Häfen gesehen hatten – Kurs Richtung Kolumbien. An Bord waren nur noch zwei Personen gesehen worden: der Skipper Manfred Lehnen und seine Freundin Christine Kump.

Als sie wieder in Deutschland waren, wandten sich Kuhn und Hadert an die Kripo Düsseldorf. Die fand heraus: Manfred Lehnen hatte seine Metzgerei kurz vor dem Segeltörn verkauft. Und er war hoch verschuldet. In Düsseldorf gab es noch eine Frau und zwei Söhne, aber die hatte er verlassen, seitdem versuchte er sich mit Charterfahrten in der Karibik über Wasser zu halten. Die Bank hatte seine Konten gesperrt und gedroht, das Schiff an die Kette zu legen. Frühere Mitsegler des fröhlichen »Manni« sagten aus, er habe zuletzt deprimiert gewirkt und davon gesprochen, »einfach zu verschwinden«.

Von da an lautete der Verdacht: Mord. Hatten der Skipper und seine Freundin die Chartergäste umgebracht, um dann irgendwo in der Karibik unterzutauchen und das Ganze wie einen Unfall auf hoher See aussehen zu lassen? Die Kripo Düsseldorf ging dem Verdacht nach, aber die Ermittlungen kamen bald zum Erliegen. Eine Dienstreise in die Karibik verweigerte die Staatsanwaltschaft den Beamten. Die Behörden auf den Antillen vergaßen den Fall, 1980 stellte die Kripo Düsseldorf die Nachforschungen schließlich ein. Der ermittelnde Kommissar hielt in einem 30-seitigen Bericht fest: »Skipper Manfred Lehnen und seine Geliebte Dr. Christine Kump müssen die Tat gemeinsam begangen haben, um den eigenen Tod glaubhaft zu machen.« Er vermutete, die beiden hätten zudem eine Drogenfahrt geplant, um sich Geld für den Neuanfang zu beschaffen.

Noch heute ist der Fall mit dem Aktenzeichen 111/5 Js 300/77 offen. Die mehr als tausend Seiten dicke Akte liegt bei der Düsseldorfer Kripo im »Giftschrank«, so nennen die Beamten die Sammlung der ungeklärten Fälle.

Ich bin mit dieser Geschichte groß geworden. Eigentlich hätte ich auf der Reise dabei sein sollen, mein Vater hatte eine Schulfreistellung beantragt. Aber meine Mutter verbot es im letzten Augenblick.

Wäre mein Vater bei einem Verkehrsunfall gestorben, dann hätte es ein Grab gegeben, einen Abschied – so blieb für mich vieles unerledigt. Es klingt makaber, aber ausgerechnet ein Anatomieschädel, den mein Vater zu Studienzwecken benutzt hatte, wurde für mich zum Erinnerungsstück, zum Symbol. Später arbeitete ich als Journalist und lebte lange im Ausland, diesen Schädel nahm ich immer mit. Und eines Tages, sagte ich mir, würde ich der Sache nachgehen.

Es dauerte viele Jahre, bis ich die Kraft dazu hatte. Erst Ende der Neunzigerjahre machte ich mich auf die Suche nach den anderen Angehörigen der Segelgruppe. Leni Lehnen traf ich 1998 in Düsseldorf-Heerd. Die Frau, die der Metzger damals verlassen hatte, lebte in einer winzigen Souterrain-Wohnung, völlig verwahrlost und geistig umnachtet. Die meiste Zeit lag sie im Dunkeln auf ihrem Bett und tagträumte. »Von dem Schiff«, wie sie sagte. Manchmal hörte sie ihren Mann Trompete spielen, »Mitternachtsblues«. Ihr Sohn Ingo* hütet bis heute ein Album mit den Zeitungsausschnitten von damals. »Tod in der Karibik«, »Skipper der Mörder« hießen die Schlagzeilen. »Und die Kinder des Mörders, das waren wir«, sagte Ingo.

Sein Bruder, der den Spitznamen Lemmy* trägt, ist seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Er war sternhagelvoll, als ich ihn traf, ein Düsseldorfer Hooligan, der lallend mit seinem Vater prahlte: »Der hat se alle gekillt und lebt jetzt unter Palmen. Richtich so.«

Später sprach ich mit den Kinder von Christine Kump. Iris*, die älteste Tochter, studierte Biologie, ich traf sie in Zürich. »Wenn du glaubst, dass meine Mutter mit dem Lehnen auf und davon ist, dann bist du ein Arschloch«, sagte sie sofort. »Und selbst wenn es so wäre – kannst du dir vorstellen, was das für uns bedeuten würde? Wie soll man um jemanden trauern, der vier Menschen getötet hat?«

Sie sei sehr oft nach Cozumel geflogen, erzählte sie, eine Insel vor Mexiko. »Ich wollte die karibische Welt kennenlernen, die meine Mutter so geliebt hat.« Ich fragte sie, ob sie glaube, dass ihre Mutter noch lebt. »Nein. Die ist tot«, sagte sie, »aber sie hat schon noch gelebt…« – »Was?« fragte ich, »woher weißt du das?« Iris sah mich erschrocken an. »Ich weiß nicht… ich glaube, sie ist erst später gestorben.« Stellte sie es sich so vor? Oder hatte sich ihre Mutter bei ihr gemeldet? Lebte sie vielleicht noch – auf Cozumel?

Dann lernte ich den Viersener Kommissar Karl-Heinz Gerlach kennen. Ein Hobbysegler, der bis dahin mit dem Fall nichts zu tun gehabt hatte – er war im Giftschrank darauf gestoßen und hatte sich festgebissen. Gemeinsam recherchierten wir weiter, wir schickten Artikel und Steckbriefe an Seglerzeitschriften. Wir machten uns sogar zusammen auf den Weg in die Karibik, nach Martinique, und verfolgten verschiedene Spuren, die aber zu nichts führten.

Von Martinique aus segelte ich mit Cocosepp nach Antigua, dann flog ich nach Cozumel. Irgendwas an der Art, wie Iris über die Insel gesprochen hatte, machte mich neugierig. Gab es dort vielleicht eine Spur, die zu Christine Kump führte?

Auf Cozumel geschah etwas Merkwürdiges: Ich machte mich mit ein paar alten Fotos auf den Weg und überall stieß ich auf Menschen, die schworen, diese Frau gesehen zu haben. Sie lebe »ganz sicher« auf der Insel. Man gab mir Tipps, ich irrte durch die Straßen und Avenidas der Hauptstadt, einem Hinweis nach dem anderen folgend.

Bis ich diese Frau fand.

Sie saß auf einem Pier im Hafen. Ihre grauen Haare waren kurz und wirr, sie trug ein weißes Kleid. Ich setzte mich zu ihr. Sie sah mich an, als wüsste sie Bescheid. Ihre Augen, ja, das konnten die Augen von Christine Kump sein.

Wir sprachen miteinander. Auf Englisch. Sie lebe schon lange hier, sag-te die Frau. Ja, sie sei so alt wie die Frau auf den Fotos. Aber nein, sie sei es nicht. Sie komme aus Florida. Ich nahm meinen Mut zusammen und fragte sie, was geschehen sei an Bord der Nordstern IV, damals. Sie lächelte, als hätte sie mich nicht gehört. Ich fragte, ob sie wisse, was aus den Töchtern der Frau auf diesem Foto geworden ist. Sie sagte, ihre eigene Tochter habe Biologie studiert und lebe in Miami. Sie würden sich nicht mehr sehen. Dann stand sie auf, um zu gehen. Plötzlich drehte sie sich noch einmal zu mir um und sagte: »Du kannst die Tür zumachen. Aber sie wird niemals verschlossen sein.« Dann lachte sie eigenartig und ging.

Vor zwei Monaten traf ich Kommissar Gerlach, er ist inzwischen pensioniert. Er berichtete von einem Kollegen, der 1990 vor der Küste Namibias mit einem Manfred Charter gefahren sei, und das könne durchaus der Düsseldorfer Metzger gewesen sein. Wir werden versuchen, dem Hinweis nachzugehen. Vielleicht kommt die Wahrheit eines Tages wirklich noch ans Licht.

Denn es ist, wie die alte Frau am Pier von Cozumel sagte: Du kannst die Tür zumachen – sie wird niemals verschlossen sein.

Fotos: privat. Autor Kuhn hat die Geschichte zu einem Roman verarbeitet, "Nordstern", Marebuchverlag.
*Name von der Redaktion geändert