Ein Gespräch über das Wesentliche

Die Schriftsteller Wilhelm Genazino und Annette Mingels unterhalten sich über Liebe, Sex und Älterwerden.

SZ-Magazin: »Ich liebe dich« – darf man das überhaupt noch sagen oder hat der millionenfache Gebrauch dieser drei Worte ihren Zauber kaputt gemacht?
Annette Mingels: Privat können mich diese drei Wörtchen nach wie vor sehr glücklich machen. »Ich liebe dich«, das hat schon eine Bedeutung. Ich nehme das durchaus ernst.
Wilhelm Genazino: Haben Sie nicht sofort den Verdacht, dass da jemand kalkuliert spricht, wenn Sie diesen Satz hören?
Mingels: Kommt natürlich darauf an, wer ihn sagt. Und in welcher Situation.
Genazino: Also mich würde dieser Verdacht sofort befallen. »Ich liebe dich« – das klingt so überschwänglich, so angestrengt.
Mingels: Trotzdem kann man total überwältigt sein, wenn der Satz in einer alltäglichen, uneuphorischen Situation fällt, wenn er ganz unbeabsichtigt aus jemandem herausplatzt.
Genazino: Für mich hat diese Formel einen bedrohlichen Verwurstungsgrad erreicht. In Texten kommt sie bei mir gar nicht vor. Ich umschiffe diesen Satz, weil ich nicht in die Klischeefalle tappen will.
Mingels: Beim Schreiben bin ich damit auch vorsichtig. Ich glaube, er kommt bei mir nur einmal vor, in Der aufrechte Gang, da sagt ihn ein Mann zu einer Frau, während sie miteinander Sex haben. Sehr konventionell. Aber die Frau entkräftet ihn sofort und antwortet: »Um Liebe geht es nicht.«
Genazino: Es gibt übrigens eine Ausnahme. Wenn ich eine Frau liebe, die keine Schriftstellerin, Geisteswissenschaftlerin oder Philosophin ist, sondern aus dem wirklichen Leben kommt, eine Frau, die den Klischeevorbehalt dieser Formel gar nicht kennt und unsere Debatte hier für überflüssig hält oder gar nicht versteht, dann kann ich diesen Satz ernst nehmen, dann kann ich mich freuen.

»Die Ereignisse des Liebeslebens sind so belanglos, dass man sie nur mit äußerster Anstrengung auf die Ebene des Schreibens hieven kann«, schreibt Roland Barthes in Fragmente einer Sprache der Liebe. Finden Sie das auch?
Genazino: Überhaupt nicht. Das Leben ist nicht dauernd relevant und die Liebe schon gar nicht. Im Gegenteil, bei der Liebe geht es doch gerade um das Belanglose. Zwei Menschen halten es heute nur noch miteinander aus, wenn sie die Alltäglichkeit ihrer Beziehung ertragen und für sich umdeuten können. Wenn sie es schaffen, sich die Belanglosigkeit wenigstens phasenweise einzugestehen. Gelingt ihnen das nicht, trudeln sie in eine Falle und werfen sich ständig gegenseitig vor, wie langweilig ihre Liebe verläuft. Diesen Kampf kann man sehr gut beschreiben.
Mingels: Liebe ist immer etwas Alltägliches, wenn man sie von außen betrachtet, aber für den Einzelnen ist sie trotzdem von enormer Wichtigkeit und immer etwas Exzeptionelles. Dass das Beschreiben von Liebe nicht trivial wird, dafür muss der Autor sorgen, indem er sie nicht vereinfachend darstellt.

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In Ihren Büchern verlieben sich die Figuren ständig und scheitern am Ende doch fast immer. Nie werden sie richtig glücklich, nie scheinen sie den Richtigen oder die Richtige zu finden. Warum?
Genazino: Weil wir beide einen konservativen Liebesbegriff vertreten. Bei uns schafft es die Liebe nicht, mit der Schnelligkeit der Welt Schritt zu halten. In meinem Roman Mittelmäßiges Heimweh malt sich der Erzähler das Gespräch mit einer Frau aus. Im Geiste sagt er zu ihr: »Wissen Sie, ich möchte schon eine dauerhafte Liebe.« Und die Frau antwortet ihm: »Aber trotzdem müssen Sie sich mit einer realen Frau abfinden.« Meine Figuren begreifen langsam, dass die Dauerhaftigkeit einer Beziehung fragil, vielleicht sogar unmöglich ist. Diesen Aspekt habe ich auch in Ihren Texten entdeckt. Ihre Figuren versuchen ständig, schnellen Sex und eine dauerhafte emotionale Verbindung miteinander zu verknüpfen. Das ist aber nicht möglich und deshalb scheitern sie.
Mingels: Stimmt. Bei mir haben die Figuren dauernd die Idee von der großen Liebe und schaffen es nicht, sie umzusetzen.

Stecken hinter diesem pessimistischen Liebesbild enttäuschte, vielleicht sogar verbitterte Autoren?
Genazino: Ich gebe zu, ich war mal verheiratet und bin es heute nicht mehr, aber das ist reiner Zufall. Ich könnte ebenso gut verheiratet sein und würde keine anderen Bücher schreiben. Als Schriftsteller hat man immer eine Schreibidentität, die mit der Lebensidentität nichts zu tun hat. Die läuft neben einem her und schaut und fühlt, während man selbst gerade stumm ist und nichts empfindet. Ob einer verheiratet ist oder nicht, spielt da überhaupt keine Rolle.
Mingels: Ich bin überhaupt nicht verbittert und auch meine Figuren sind es nicht alle. Ich stelle in meinen Texten doch oft nur einen kleinen Ausschnitt dar, hinter dem sich sehr wohl oft eine dauerhafte Beziehung verbergen kann. Und natürlich ist das Glück, das man durch die Liebe erreichen möchte, immer vergänglich. Man kann nicht ernsthaft anstreben, dreißig Jahre am Stück glücklich zu sein.
Genazino: Scheitern ist die Realität des Alltags, in der wir leben müssen. Das fängt schon mit dem Sprechen an. Es überwiegen die Sätze, die nicht gelingen. Ein gelingender Satz ist die absolute Ausnahme. Beim Schreiben merkt man das ganz deutlich. Und so ähnlich ist es auch mit den zwischenmenschlichen Beziehungen. Oft sind ja schon die eigenen Eltern geschieden und gescheitert. Wieso sollte man da glauben, als einzelner kleiner Liebender die Vehemenz des gesellschaftlichen Unglücks durchbrechen zu können? Da müsste man doch größenwahnsinnig sein. Oder sehr jung.
Mingels: Trotzdem wäre es schrecklich, wenn man keine Erwartungen mehr an die Liebe hätte, nach dem Motto: Lieber zu zweit als allein und mehr verlange ich gar nicht. Natürlich muss man in einer dauerhaften Beziehung Zugeständnisse machen, aber man erlebt auch positive Dinge, die man vorher überhaupt nicht erwartet hat.
Genazino: Trotzdem verhalten wir uns schizophren. Auf der einen Seite sehnen wir uns nach einer dauerhaften Beziehung, auf der anderen Seite wollen wir, dass eine dritte Person uns daraus befreit, und werfen dieser Person sogar ständig Rettungsringe vor die Füße. Dauernd tun wir das eine und erwarten das andere – und umgekehrt.
Mingels: Also, ich bin verheiratet, und das soll auch noch eine Weile so bleiben. Ich weiß, dass mein Mann und ich statistisch gesehen keine guten Chancen haben, aber wir bemühen uns und begreifen die Situation als verbindlich. Ich mag diese Verbindlichkeit. Meine Eltern feiern in diesem Jahr Goldene Hochzeit. Wahrscheinlich hat mich das geprägt.
Genazino: Das klingt nach einer Lebensaufgabe, die einem von den Eltern gestellt wird. Nach dem Motto: Wir haben es vorgemacht und jetzt macht ihr es, bitte schön, auch so. Die Erwartung, dass die Liebe über ihre eigene Eintagsfliegenhaftigkeit hinausreicht, wurde uns nun mal eingeimpft. Wäre das nicht so, müssten sich die Menschen ja endgültig als riesiger Promiskuitätsverein verstehen, in dem jeder seinen persönlichen Prostitutionsclub hat, bestehend aus Bekannten und Freunden, die man der Reihe nach durchmacht – was für eine kränkende Vorstellung. Und vielleicht sind wir schon so weit. Aber wenn ja, dann wollen sich die Menschen das auf keinen Fall eingestehen. Sie träumen lieber bis zu ihrem Lebensende von der Dauerhaftigkeit der Liebe. Deshalb halten sie an der Idee von der romantischen Liebe fest, entgegen ihrer Erfahrung, entgegen der Wahrscheinlichkeit und entgegen ihrem persönlichen Erleben.
Mingels: Aber wenn man sich verliebt, ist man sich doch nicht ständig der Tatsache bewusst, dass man vielleicht scheitert. Das geht doch gar nicht: sich verlieben und gleichzeitig das mittelmäßige Ende mitdenken.
Genazino: Aber wenn man älter ist, kann man immer weniger ignorieren, dass auch der Zustand der Verliebtheit eine zwischenmenschliche Konvention ist. Früher war das noch anders, aber heute bin ich mir in jeder Sekunde des Moments der Wiederholung bewusst. Ich habe immer das Verlaufsmuster der Liebe vor Augen, das Mechanistische, das Biologische daran. Ich verliebe mich schon noch, aber das Glücksempfinden ist gemildert. Ich bewege mich selbst inmitten der ewigen Klischees der Verliebtheit und sehe gleichzeitig den Staub, der auf ihnen liegt.
Mingels: Also, wenn ich mich verliebe, ist dieses Wissen komplett ausgeschaltet. Das ist doch immer wieder ein Ausnahmezustand, der einen von der Rationalität erlöst.
Genazino: Das ist ein Klischee. Älterwerden heißt doch, dass die Muster der Geläufigkeit wie alte Bekannte am Horizont aufzucken. Im Sinne von: Aha, jetzt ist also wieder mal Erregung an der Reihe. Dadurch, dass die Dinge sich wiederholen, kennt man sie und weiß, wie man auf sie reagiert.
Mingels: Trotzdem, bei mir ist diese rationale Einschätzung zumindest für Momente suspendiert. Ich kann mich schon noch in eine Art Blödheit hineinlieben, nur geschieht das immer seltener.
Genazino: Schön für Sie, aber dann befinden Sie sich eben noch jenseits der lebensgeschichtlichen Enthüllung, dass man Programme in sich hat, wie Neurologen das nennen. Natürlich ist die Liebe auch ein solches Programm. Und das Programm lernt man kennen, indem man lebt, und man kann nicht so tun, als gäbe es das nicht. Einmal etwas beobachtet zu haben heißt, man hat es für immer beobachtet. Gerade die Medien verbreiten ja massiv das Klischee, dass Senioren noch einmal wie Teenager aufeinander zugehen und sich lieben können. Das ist ein elender Beschiss.

Haben Ihre Bücher deshalb einen so desillusionierenden Ton? Weil Sie die Menschen warnen und auf ihr Scheitern vorbereiten wollen?
Genazino: Bei Lesungen merke ich oft, wie stark die Besucher mich mit meinen Figuren identifiziert haben. Die erwarten immer einen mageren, graugesichtigen und melancholischen Typen, und dann komme ich daher und bin das Gegenteil. Ich kann nämlich schon sehr lustig sein. Die sind ja nur zu meiner Lesung gekommen, weil sie gehört haben: Mensch, der Genazino, der schreibt hübsche und ironische Bücher, da muss man zwischendurch sogar mal lachen. Ich sehe denen in den Gesichtern an, wie zerschmettert sie sind. Die haben genau das Unglück erlebt, das ich beschreibe, und denken sich: Schau dir mal den an. Der ist auch durch diese fürchterliche Hölle gewandert. Wie ist es ihm möglich, so ironisch damit umzugehen? Warum geht er nicht unter? Warum tritt er überhaupt auf? Darin liegt ein Auftrag. Ich werde den Teufel tun und diese armen Leute enttäuschen. Die sehen ein lebendes Gegenbeispiel und nehmen sich vor, sich ebenfalls nicht unterkriegen zu lassen. Die meinen sogar, ich könnte ihnen Ratschläge geben.
Mingels: Dabei legen Ihre Bücher nun wirklich nicht nahe, dass Sie Ratschläge parat haben. Aber was Sie beschreiben, kenne ich auch. Während einer Lesung vergrößert sich die Distanz der Leute zu ihrem Unglück. Am Ende können sie ihr persönliches Schicksal tragikomisch betrachten.
Genazino: Die wollen teilhaben an einer Transzendenz, die in einem solchen Abend liegt, wenn er gelingt. Manchmal entsteht zwischen mir und den Zuhörern eine Heiterkeit, die über das persönliche Scheitern hinausgeht. Am Ende sind die Leute oft so guter Stimmung, dass ich nicht den Mut habe, sie herabzustimmen und damit zu konfrontieren, dass dieser Abend, so schön er auch war, nichts an ihrem Unglück ändern wird.
Mingels: Mir wurde nach einer Lesung mal vorgeworfen, dass die Liebe in meinen Geschichten nicht funktioniert, dass die Leute nicht zusammenbleiben, dass sie sich ständig betrügen. Da habe ich erst gemerkt, dass die Leute von mir erwarten, dass ich ihnen was Gutes tue durch Geschichten, in denen die Liebe reibungslos funktioniert. Dabei gibt es davon doch wirklich genug an jedem Bahnhofskiosk.
Genazino: Mir wird regelmäßig vorgeworfen, dass ich so krasse Details beschreibe, vor allem wenn es um Liebe und Sex geht. Aber die konventionelle Liebessprache ist nun mal total verschlissen, da muss man sich einen Ausweg suchen. Ich flüchte mich in Details, auch in drastische. Es gibt nun mal keine sanften Details. Je länger man etwas ansieht, desto mehr lädt sich die Krassheit auf. Ich nenne das den gedehnten Blick. Aber die Leute wollen allen Ernstes, dass der Mann zu der Frau sagt: Du siehst aus wie die Rose, die sich am Morgen öffnet.
Mingels: Ich muss gerade an die Szene in Ihrem letzten Roman denken, in der die Frau ewig die Fellatio fortsetzt. Sie meint es ja nur gut, aber dem Mann tut es weh. Das beschreiben Sie schon sehr explizit, aber nicht unbedingt negativ, eher realistisch. Wenn man einen Sexualakt genau beschreibt, ist das Ergebnis immer unappetitlich. Die Geschlechtsteile sind nun mal nicht das Schönste am menschlichen Körper. Aber trotzdem, wenn ich über Sex schreibe, dann deutlich. Für pornografische Szenen lehne ich ein Stück weit die Verantwortung ab. Die Figuren benehmen sich eben so und ich als Autorin beobachte sie dabei. Ich sehe sie dann wie in einem Film vor mir und beschreibe, was ich sehe.
Genazino: Beim Sex hört für Momente die Sprachtätigkeit auf, das versuche ich stellenweise auch im Text wiederzugeben. Das ist ja das Schöne, dass während des Beischlafs der Reflexionszwang vorübergehend ausgeblendet wird, dass für einen Augenblick eine kurze Wiederkehr der uterinen Glückseligkeit eintritt. Man muss sich keine Gedanken darüber machen, wo man ist, man fragt nicht mal nach dem anderen. Dieser Moment hält aber nur ganz kurz an. Gleich danach geht wieder die Fragerei los: Wie war es für dich? Hat es dir gefallen? War ich zu grob? Dann sind der Sprach- und Reflexionszwang zurück. Dabei bestand das Glück gerade darin, dass sie ausgeschaltet waren.

Im Duden stehen unzählige Bezeichnungen für die menschlichen Geschlechtsteile. Welche bevorzugen Sie?
Mingels: Das hängt davon ab, welche Figur gerade spricht. Bei der einen muss es »Schwanz« und »Möse« heißen, bei der anderen »Geschlecht« oder »Schritt«. Ich muss mich nur auf meine Figuren einlassen und herausfinden, welcher Ausdruck passt.
Genazino: Schwierige Frage, weil mit jedem Ausdruck immer schon eine Wertung verknüpft ist, selbst mit scheinbar neutralen Ausdrücken wie »Geschlecht« oder »Penis«. Neutralität im Ausdruck gibt es nicht. Verwendet man »Möse«, ist die Frau beim Leser doch praktisch schon unten durch. Schreibt man »Geschlecht«, fragen sich die Leute, ob eine Frau oder ein Pferd gemeint ist.
Mingels: Deshalb lasse ich Sexszenen oft einfach weg. Ich muss nicht auf Teufel komm raus etwas Pornografisches beschreiben. Wenn sich auf der Titelseite einer Zeitschrift eine halbnackte Frau räkelt, obwohl es um Darmkrebsvorsorge geht, ärgere ich mich ja auch. In der Literatur ist es genauso. Wenn eine Szene zur Logik der Geschichte passt, kommt sie rein. Wenn nicht, dann nicht.

Die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek sagte ein Mal, sie sei daran gescheitert, eine »weibliche Sprache des Obszönen« zu finden. Haben Frauen es schwerer als Männer, über Sexualität zu schreiben?
Mingels: Ich weiß gar nicht, was das sein soll: eine weibliche Obszönität. Allein die Idee, eine spezifisch weibliche Ausdrucksweise zu finden, ist mir viel zu programmatisch, das klingt nach Feminismus und Siebzigerjahren. Ich muss eine Sprache finden, die für mich spezifisch ist, ob die am Ende weiblich oder männlich ist, tut nichts zur Sache. Was ich bei Elfriede Jelinek immer etwas anstrengend finde, ist diese ewige Opferrolle der Frau in einer patriarchalischen Gesellschaft. Das empfindet meine Generation nicht mehr so. Wir sind alle Opfer und Täter zugleich, Männer wie Frauen.
Genazino: Männer und Frauen sind doch beide unauflöslich in den Verblendungszusammenhang eingestrickt. Beide sehen Liebe und Sex als die großen Glücksversprechen an und versuchen so viel wie möglich davon abzubekommen. Aber was man zu ihrer Entschuldigung auch mal sagen muss: Es gibt ja nichts anderes. Bei einem Haus oder einem neuen Auto währt die Freude doch nur kurz. Glaubt man aber, die Frau oder den Mann seines Lebens gefunden zu haben, dauert es doch oft sehr lange, bis das Gegenteil klar ist. Und solange dieser Prozess anhält, hält auch dieses Glück an. Es kommt gar nicht darauf an, ob sich der Versuch nach drei, sieben oder erst nach zehn Jahren als Irrtum herausstellt. Das Glück besteht darin, das Glück drei oder sieben oder zehn Jahre lang im Auge gehabt zu haben.
Mingels: Martin Walser hat das mal Gefühlsidiotie genannt. Das passt. Oft weiß man ja, dass sich eine Sache nicht lohnt, und macht trotzdem weiter. Weil man sich durch nichts so exklusiv fühlen kann, als wenn man liebt oder geliebt wird.
Genazino: Wenn man als Autor aber nur andeutet, dass eine Beziehung mit Schwierigkeiten verknüpft ist, haben die Leser das Gefühl, dass da gar keine gelungene Liebe geschildert wird. Die stellen sich Glück vor wie in der Margarine-Reklame: Die Frau deckt lachend den Tisch, ein Kind kommt gutgelaunt aus dem Bad, der Mann tritt in die Küche, küsst erst die Frau, dann das Kind. Alle umarmen sich, alle lachen ununterbrochen. Die Wahrheit ist anders: Erst heute Morgen haben ich ein älteres Paar im Frühstücksraum des Hotels beobachtet. Die Frau hat geschwiegen und der Mann von der ersten bis zur letzten Minute in die Zeitung geschaut.
Mingels: Ich habe den Gesichtsausdruck der Frau vor Augen. Sicher hat sie zufrieden dreingeschaut, um den Leuten im Raum zu suggerieren, dass sie das auch so will, dass sie sich gar nicht missachtet fühlt.
Genazino: Ja, sie hat ihn mit ihrem Blick in Schutz genommen und wollte, dass die Leute nicht merken, mit was für einem Rüpel sie am Tisch sitzt. Seltsam, aber Menschen empfinden Liebe nur als schön, wenn sie widerspruchsfrei verläuft. Wenn ein Mann jedes Jahr mit seiner Frau nach Tirol in Urlaub fährt, obwohl er gar keine richtige Lust hat, ihr diese Freude aber nicht nehmen will, dann sagen sie: Der Mann macht ja nur, was die Frau will – wie verlogen. Dabei konstruiert sich der Mann ein Hintertürchenglück, indem er seiner Frau zeigt: Ich mache das, was du möchtest, und erwarte von dir, dass ich in einer anderen Situation etwas von dir zurückbekomme. Wenn ein Paar so aufeinander eingespielt ist, wenn jeder die Vorlieben und Abneigungen des anderen kennt, dann ist das doch gelungene Liebe.

Die Schriftstellerin Annette Mingels, 35, ist promovierte Germanistin und lebt in Zürich. Nach drei viel gelobten Romanen, unter anderem »Der aufrechte Gang« (2006), hat sie vor wenigen Wochen ihren ersten Band mit Erzählungen publiziert: »Romantiker: Geschichten von der Liebe«.

Wilhelm Genazino, 64, wurde 1977 durch die Trilogie »Abschaffel« bekannt. Seitdem zählt er zu den renommiertesten deutschsprachigen Gegenwartsautoren. 2004 hat er den Georg-Büchner-Preis erhalten.