P wie Papier

Die Zeitung ist das Gefäß, in dem die Welt erst rund wird.

Papier ist geduldig, der Leser ist es nicht. Der Leser sucht und sucht oft vergebens, aber in der Zeitung findet er alles, was er zum täglichen Leben braucht. Die Welt auf 16, 32 oder auch 96 Seiten – was braucht er mehr?

Zeitung ist für ihn vor allem ein haptisches Erlebnis. Sie verleiht einem außerdem ein Gefühl allmächtigen Allwissens. Schließlich dient sie, das jedoch bestenfalls an dritter Stelle, der raschen Informationsvermittlung.
Aber langsam und der Reihe nach. Als Helmut Schmidt vor Jahrzehnten seinen ersten Ruhestand verließ und von Gerd Bucerius als Herausgeber engagiert wurde, beklagte er lange das Format der Zeitung, für die er arbeiten sollte: Die Zeit, meinte der legendäre Volkskanzler, die könne doch im Bus niemand lesen. Es ist nicht bezeugt, dass Helmut Schmidt je den Bus ins Büro nahm, und auch sonst werden nicht so arg viele Zeit-Leser mit dem Bus fahren. Selbst das erste vorsichtige Durchblättern der großformatigen Zeitung erfordert mehr zeitlichen Aufwand als eine ganze volksverdummende Tagesschau.

Die Zeitung braucht nicht nur den regelmäßigen Einschlag in finnischen Wäldern, sie braucht vor allem Platz, sonst liegt sie nicht in der Hand, sonst kann sie nicht wahrgenommen werden. Mag sein, dass die Zeit von vielen gar nicht gelesen, sondern nur adelnd in der Hand gehalten wird, aber ich erinnere mich an einen echten Leser, der mir, als er seine Wohnung vorführte, auch einen Tisch zeigte, der keinem anderen Zweck diente, als an ihm jeden Donnerstag ausgiebig die Zeit zu lesen. Selbst wenn die Größe manchen davon abhält, sie im öffentlichen Nahverkehr auszubreiten, welches Glücksgefühl kann allein dieses majestätische Format spenden!

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Die Welt, seit der Aufklärung hoffnungslos zerfallen, braucht ein Ordnungsprinzip, eine Hierarchie, die gegen die Säkularisierung besteht. Sie braucht einen allwissenden Autor, der die zerstückte Welt wenigstens einmal am Tag wieder zusammenfügt. Dieser anonyme und zugleich wohlbekannte Autor ist die Zeitung, die täglich einen ganzen Weltroman aufs Papier bringt.

Die Zeitung schlägt selbst den peinlich genauen Gustave Flaubert. Nicht oder doch selten stilistisch, aber durch ihre Gleichförmigkeit. Immer bringt sie alles, die ganze Welt auf wenigen Seiten. Muss der Leser ohne Gefährtin sein, so darbt er doch nicht, wenn ihm am Frühstückstisch das Gespräch über Angela Merkels Schwitzflecken oder die neue Reichensteuer verwehrt bleibt. Nie taucht er tiefer in die heterogene Materie ein, die ihm jeden Tag serviert wird, als wenn er gedankenverloren seine vielkörnige Schinkensemmel zum Munde führt und dabei keinen Blick von der Reportage auf Seite drei wenden muss. Die Welt, das weiß der dankbare Leser, die Welt ist alles, was in eine Zeitung passt.

Sie mag zerfleddert sein und im Café in einen vergammelten Zwicker geklemmt, sie kann in der S-Bahn liegen geblieben sein, sie darf ruhig als Dämmstoff aus einem Paket hervorkommen: Nachdem ich die kostbaren Reste entfaltet, geglättet und defragmentiert habe, lese ich auch die Nachrichten, die die Deister- und Weserzeitung oder die Mittelhaardter Rundschau bringt. Im Angeber-Rosa der Financial Times vermögen mich nicht einmal die winzigen Buchstaben abzuschrecken. Spanische, italienische, portugiesische, griechische Zeitungen buchstabiere ich mit einer Geduld, die ich nie an Bücher in diesen Sprachen aufwenden würde. Unvergessener Höhepunkt des hermeneutischen Rätselns war die Dechiffrierung eines Berichts über die Geologie auf dem Planeten Mars in einer isländischen Zeitung. Isländisch! Aber sie lag so unschuldig da in dem Kaffeehaus in Akureyri, sie schrie sosehr nach Aufmerksamkeit, wie hätte ich diesem Rufen nicht Folge leisten können? Und für kurze Zeit wusste ich alles über interstellare Basalte.

Diese tägliche Entzifferung der Welt hat natürlich ihren Preis. Die Fortsetzungslieferung macht den freiesten Menschen abhängig. Der echte Zeitungsleser kann sich nämlich nicht trennen von seinem Papier. Einmal weggefahren für zwei Wochen, und das Unglück ist nicht mehr gutzumachen. Das Unglück türmt sich mit jeder Reise höher. Kaum geordnet, aber ordentlich platziert, sammelt sich hinterm Vorhang, im Schrank, unter dem Tisch, unter einem zweiten und vor allem unterm Bett ein ungelesener Haufen aus Wissen, Aufklärung und reiner Kunst, meine Bibliothek von Babel oder wenigstens von Alexandria.

Ich möchte gar nicht wissen, welcher psychische Defekt sich in diesem Aufbewahrungszwang äußert. Statt zu verzweifeln, stehe ich ehrfürchtig vor den Papiermassen. Manchmal zupfe ich einen Bund, einen Tag, eine Woche heraus, wische den Staub von den eingegilbten, immer krumpeliger werdenden Seiten und lese gerührt von dem eifrigen Gestrampel, das zum Jahresende 1999 veranstaltet wurde, von der unschuldigen Welt vor dem 11. September oder von dem jungen Politiker, der 2004 auf dem Parteitag der Demokraten sein Glaubens-bekenntnis für Amerika ablegte. Niemand kannte Barack Obama damals; heute ist er Präsident.

Der Zeitungsberg ist kein Altpapier, sondern ein Schatzhaus. Wie also könnte ich mich je freiwillig von meinen ungelesenen Zeitungen trennen? Noch ist der Tag fern, aber er droht mir vom Horizont, der Tag der Apokalypse, der Tag, an dem meine Zeitungen vollends die Übermacht gewinnen und mich aus der eigenen Wohnung vertreiben werden. Es bleibt nur das geduldige Anlesen gegen dieses drohende Schicksal, Tag für Tag zurück in der Zeit. Papier ist geduldig und altes Papier wirkt Wunder. Denn in der Zeitung wird die Welt wieder ganz.

Willi Winkler, 51, war Redakteur bei der »Zeit« und beim »Spiegel«, heute schreibt er für die »Süddeutsche Zeitung«.

Illustration: Christoph Niemann