Gehen lernen

Enge Schuhe, dicke Sohlen: Der Mensch der Gegenwart behandelt seine Füße, als hätte er längst den Boden unter ihnen verloren. Es hilft nur eins: wir müssen das Gehen wieder lernen. Eine Anleitung.

Eine halbe Stunde vielleicht, höchstens eine, bei Frauen noch kürzer. Dann setzen die Schmerzen ein. Vorn, wo die Zehen keinen Platz haben. Am Ballen, auf dem zu viel Druck lastet. Oder an der Ferse, wo die Haut weggeschmirgelt wird. Irgendwann kann man sowieso nicht mehr auseinanderhalten, wo es wehtut. Die Füße eben.

Bloß weil man beschlossen hat, am ersten richtig glorreichen Sommertag einen Stadtspaziergang in den neuen Schuhen zu machen. Das sollte man schaffen, denkt man. Bis man im Restaurant sitzt, mit Schmerzen bis in die Knie, als wäre man aus dem ersten Stock ungefedert auf die Straße gesprungen. Statt sich aufs Gespräch zu konzentrieren, wünscht man sich nach Hause, wo man endlich die Schuhe in die Ecke feuern und sich auf Socken bewegen darf. Nicht nur die eigene Stubenhocker-Unsportlichkeit ist daran schuld, dass man sich, zum aufrechten Gang geschaffen, mit dem Gehen schwertut. Es sind auch die Schuhe. Ganz normale Schuhe, die Ware, die man im Fachhandel bekommt. Falls man darüber jammert, erhält man die Antwort, dass man neue Schuhe eben einlaufen muss: das Leder geschmeidig gehen, die Hinterkappen dehnen, bis sie die Haut nicht mehr blutig schrabbeln. Frauen gucken einen ohnehin nur mitleidig an, sobald man übers Schuhwerk jammert. Sie sind es gewohnt, mit Pflastern, Gelpads, Einlegesohlen loszuziehen, Erfindungen mit dem einzigen Zweck, das Gehen nicht nach ein paar Schritten wieder abbrechen zu müssen.

Wenn Frauen tanzen wollen, kaufen sie sich vorher im Drogeriemarkt Ballen- und Riemchenpolster, die Party Feet heißen, damit die Männer, die sie antanzen, nicht das Gefühl bekommen, Erste Hilfe leisten zu müssen. Nun hab dich nicht so, ist doch alles ganz normal. Ungefähr so normal, als ließe man sich Pullover einreden, die höllisch kratzen, aber nur in den ersten zwei Wochen. Oder Mützen, die den Kopf in einen Migränering zwingen. Mag schon sein, dass sie vor Kälte schützen, aber jeder Laden, der so etwas im Sortiment hätte, bliebe darauf sitzen.

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Bei Schuhen dagegen drücken wir alle Augen zu, auch wenn sie schon auf dem Probierhocker wehtun. Die werden noch weicher, versichert die Verkäuferin, und man glaubt ihr, obwohl die Clarks viel gemütlicher aussehen. In Bequemschuhen, das hat man schon in der Kindheit gelernt, wird man mit einem Schlurf verwechselt statt für jemanden gehalten, der sich das Recht herausnimmt, keine Schmerzen ertragen zu wollen. Die Menschen schauen einem immerzu auf die Schuhe. Wer sich die falschen gönnt, hat schnell einen Ruf weg, der schmerzhafter ist als eine Schiefstellung der Großzehe.

Wie schön das Gehen sein kann, erfährt man nur noch im Garten oder in den Ferien am Strand. Da stört es niemanden, wenn man barfuß bleibt, jeder Schritt ist ein Genuss, der die Seele in frühkindliche Glückserfahrungen zurückversetzt. Das liegt daran, dass Füße ein so perfektes Werkzeug zur Fortbewegung, eine so fein kalibrierte Bio-Mechanik sind, dass jeder Maschinenbauer augenblicklich zum Fußfetischisten werden müsste.

Wer unten ohne unterwegs ist, dessen Zehen können sich am Boden festhalten oder in den nächsten Schritt katapultieren. Die Sohle ist beweglich genug, um auch auf unebenem Boden festen Stand zu ermöglichen, das Fußgewölbe absorbiert Aufprallenergie. Ein Viertel aller menschlichen Knochen ist im Fuß verbaut, dessen Sohle mit so vielen Nervenantennen ausgestattet, dass man jeden Kiesel, jeden Grashalm spürt, als würde die Erde Botschaften senden.

Das alles findet ein Ende, sobald man sich in Schuhe zwängt. Sie verurteilen den Fuß zu Dunkelheit und sensorischer Deprivation. Er steht nur noch auf einer starren Platte aus Leder oder Kunststoff, hat keinen direkten Kontakt mehr zum Boden. Verglichen mit der federnden Eleganz, die sich beim Barfußgehen meist von selbst einstellt, ist die beschuhte Fortbewegung unelastisch. Normalerweise geben die Zehen am Ende jedes Schrittes dem Fuß noch einen Extrakick mit, in den nächsten Schritt hinein; so wird die Arbeit des Vorankommens auf viele Muskeln verteilt. In Zehengefängnissen ermüdet man eher.

Die Vorteile des Barfußgehens werden von vielen Untersuchungen bestätigt: Eine südafrikanische Studie kam zum Resultat, dass Nacktfüßler immer gesündere Füße haben als Schuhträger; Sportmediziner fanden heraus, dass sich Läufer mit gepolsterten Schuhen häufiger und unangenehmere Verletzungen zuziehen als Konkurrenten ohne High-Tech-Schuhwerk – wohl weil die als Schutz beabsichtigte Federung dazu verleitet, dass man zu fest auf die Erde einstampft.

(Lesen sie auf der nächsten Seite: In "nude shoes" loszuziehen ist anfangs ein wenig seltsam. Man fühlt sich, als wäre man nackt.)

Eine andere Studie ergab, dass Patienten, die an Knierheumatismus leiden, mit ungedämpftem Schuhwerk weniger Beschwerden haben als in den orthopädischen Anfertigungen, die ihre Qualen lindern sollen. Je näher am Barfußzustand man also geht, läuft, hinkt, desto besser tut es den Füßen.Daher existiert seit einigen Jahren die Bewegung der Barfußläufer, sanfte, ein wenig sture Menschen, die ihre Habitate ohne Schuhe durchqueren und sogar im Büro blank antreten.

Man ahnt: Weit werden sie damit nicht kommen. Der Glaube, dass nackte Füße so gut zu Anzügen und Cocktailkleidern passen wie Budapester und High Heels, wird sich auch in zwanzig Jahren nicht durchgesetzt haben. Die Angst vor Glasscherben wird man auch nicht los, wenn einem glaubhaft versichert wird, dass Barfußgeher sorgsamer darauf achten, wohin sie treten, und die nackte Sohle viel strapazierfähiger ist, als der bimssteingepflegte Schuhträger denkt.

Erfolgversprechender scheinen die Barfußschuhe, die es seit einiger Zeit zu kaufen gibt – Schuhe mit sehr dünnen und sehr elastischen Sohlen und genügend Stauraum für die Zehen, im Grunde Etuis, die die Füße gerade so umschließen, dass sie heil ankommen. So klebt man nicht an Kaugummi fest, sticht sich nicht an Splittern, und beim Nachhausekommen muss man nicht gleich ein Fußbad nehmen. Galahad Clark, ein Nachfahre der bekannten britischen Schuh-Dynastie, stellt solche »nude shoes« her, und auch Nike hat mit der »Free«-Linie seit einiger Zeit Modelle im Sortiment, die Joggern die Vorteile des Barfußlaufens ermöglichen sollen.

In solchen Schuhen loszuziehen ist anfangs ein wenig seltsam. Man fühlt sich, als wäre man nackt. Unter lauter Angezogenen macht das unsicher. Man hat sogar, wie bei jedem neuen Schuh, nach einiger Zeit Schmerzen. Was allerdings daran liegt, dass man als Stadtmensch das Barfußlaufen nicht gewohnt ist und in Nackt-Schuhen plötzlich auch die sonst unterbeschäftigten Zehenmuskeln etwas zu tun bekommen. Wenn man lange eingesperrt war, sind die ersten Schritte in Freiheit immer ein wenig mühsam. Hat man wirklich so große Flossen, wie es sich anfühlt?

Nach einiger Zeit wird es besser. So sehr, dass man bald nicht mehr zu gehen aufhören will. Nicht nur, weil man wieder so viel Spann- und Schnellkraft in den Beinen hat wie zuletzt mit sechs auf Sommerwiesen. Sondern vor allem, weil man endlich wieder merkt, wie glücklich es machen kann, lange und ziellos zu gehen, anstatt immer nur die kürzesten Wege zwischen A, B und C zu nehmen. Man hat sich ja längst angewöhnt, jede Strecke im Auto zu absolvieren, und wenn man doch einmal darauf verzichtet, nach spätestens einer Stunde Einkaufsbummel
in einem Café eine Pause einzulegen. Jetzt könnte man stundenlang gehen, immer weiter. Bis einem auffällt, dass unsere Städte fürs stundenlange Gehen nicht allzu viel taugen.

Der zeitgenössische Mensch ist ein Sitzmensch geworden. Je höher er steht, desto mehr sitzt er herum, die Einzigen, die wirklich noch bequeme Schuhe brauchen, sind unterbezahlte Modernisierungsverlierer wie Verkäuferinnen, Krankenschwestern und Wachmänner.

Fortschritt besteht auch darin, den Menschen das Gehen zu ersparen. Das merkt man den Städten oft an: von Umgehungsstraßen umzingelte Fußgängerzonen, in denen man ein wenig Auslauf findet, von Schuhladen zu Schuhladen. Gut streunen kann man nur in den großen Städten, aber wer es einmal zu lieben begonnen hat, mag nie wieder aufhören damit, bloß den Impul-sen folgend, die von Gerüchen, Entdeckungsneugierde, Voyeurismus ausgelöst werden. Wer so durch die Städte zieht, lernt auch das Glück kennen, sich zu verirren, verloren zu gehen.

Man muss nicht einmal im Jahr einen Sandstrand oder einmal im Leben den Jakobsweg entlangpilgern, um ein neues Verhältnis zur Welt zu finden, das schafft man auch in der eigenen Um-gebung. Etwa indem man die Psychogeografie-Experimente der Situationisten aus den Sechzigern wiederholt, bei denen man sich Regeln von der Art »jede zweite Straße links abbiegen, egal wohin man damit kommt« verschreibt.

Man könnte aber auch ganz ohne Plan, Kopfhörer und Mobiltelefon losziehen, ohne die Angst also, aus der Zeit zu fallen, weil man sie durch unproduktives Gehen vergeudet. Gehen ist sehr produktiv. Nach einiger Zeit gerät man in einen seltsamen Geisteszustand, zwischen Wachheit und Trance, Kontemplation und Entdeckertum angesiedelt; die Bewusstseinsströme, die so entstehen, fließen wirklich zwischen Ich und Außenwelt hin und her.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Wer bloß herumgeht, gerät schnell in den Verdacht: Er könnte Einbruchsgelegenheiten auskundschaften, nach Streit Ausschau halten oder sexuellen Gelegenheiten.)

Beim Gehen in der Natur bleibt man allein, weil man sich von den Menschen entfernt hat. Deswegen lässt es sich moralisch so leicht veredeln – als Suche nach dem Reinen, Unberührten. Bleibt man auf Asphalt, geht man in Gesellschaft allein. Das lässt einen hin und wieder melancholisch werden, wirkt aber meistens milde euphorisierend. Man ist den Menschen immer ganz nahe und bleibt dennoch anonym – einer der Gründe, warum man einst in die Stadt gezogen ist.

Dass das Gehen in den Städten wenige Anhänger hat, liegt nicht nur an ihrer Unwirtlichkeit und daran, dass nur die Unbeschäftigten, mit denen man nicht verwechselt werden will, Zeit dazu haben. Es erinnert auch an untergegangene Existenzformen, an das Jagen und Sammeln, ehe wir sesshaft wurden. Wer bloß herumgeht, gerät schnell in den Verdacht, dass er mehr will, als nur ziellos zu Fuß unterwegs zu sein: Er könnte Einbruchsgelegenheiten auskundschaften, nach Streit Ausschau halten oder sexuellen Gelegenheiten.

Unter lauter Fremden, von denen der eine oder andere sicher bösartig ist, wittert man schnell Gefahr in jedem, dem man nachvollziehbare Ziele nicht ansieht. Deswegen haben Frauen nur vor wenigen Dingen mehr Angst, als bei Dunkelheit allein durch Straßen zu gehen. Man könnte Straßen bauen, die ihnen solche Ängste nehmen, aber daran denken Stadtplaner selten. Für sie, wie auch für uns selbst, sind Straßen Wüsten zwischen privaten Oasen, keine Oasen, in denen man sich vom Leben in geschlossenen Räumen erholt.

In alten italienischen Städten funktioniert das noch. Sie sind für Fußgänger gebaut, für Menschen, die es sich zur Gewohnheit gemacht haben, vor dem Essen noch zu einer Runde aufzubrechen. Die anderen sehen, von anderen gesehen werden, während man die Piazza umkreist, nur auf einen kurzen Gruß stehen bleibend oder wenn die politische Lage diskutiert werden muss: wo es angenehme Plätze für sie gibt, bildet sich wie von selbst Öffentlichkeit, reden, streiten die Leute.

Hierzulande sind öffentliche Plätze ein von Videokameras überwachtes Sicherheitsrisiko, die öffentlichen Debatten finden in geschlossenen Räumen statt, vor denen Wachpersonal postiert wird. Und in den Fußgängerzonen, wasserwaagenplangegossener Beton, der die Sommerhitze zurückwirft, flöten einem die letzten El-Condor-Pasa-Truppen die Ohren taub. Weiter also, von den Einkaufsstraßen und Eventzonen weg in die Nebenstraßen hinein, in denen nicht viel verdient wird und nichts repräsentiert.

Hier gibt es noch Wirtshäuser, in denen man gute Geschichten zu hören bekäme, Läden, von denen man nicht genau weiß, was sie eigentlich verkaufen und wie sie überleben, Hinterhöfe, in denen die letzten Vertreter eigentlich längst ausgestorbener Handwerke residieren, Pudel-Salons, Maßschneider für füllige Damen, einen Laden für Dartspieler, stimmt, denkt man, es muss auch für Dartpfeile einen Markt geben. An den Fassaden Emailleschilder längst aufgegebener Geschäfte, für die sich niemand zuständig fühlt, am Trottoir Himmel-und-Hölle-Diagramme.

Vom Auto aus und beim Wochenend-Einkaufsbummel bekommt man das alles nie zu sehen, bis man irgendwann den Eindruck hat, es gäbe tatsächlich nur noch Flagship-Stores und Handyshops, die überall auf der Welt gleich aussehen. Wer geht, lernt endlich wieder, wie viel Reichtum in den Städten ist, jede dritte Hausnummer eine Möglichkeit. Man muss sie gar nicht nutzen. Um glücklich zu werden, genügt es zu wissen, dass sie da sind.

Wie die Berge sind, kann man sich wahrscheinlich auch auf einer Postkarte ansehen. Um herauszufinden, wie eine Stadt ist, muss man sich ihr so gründlich nähern wie der Bibliothekar Caleb Smith: Aus einer Laune heraus hatte er sich im Sommer 2002 vorgenommen, jede einzelne Straße Manhattans zu begehen. Am 19. Dezember 2005, zweieinhalb Jahre und vier Paar Schuhe später, hatte er es geschafft. Seitdem weiß er, wo in Hamilton Heights das alte Baseballstadion der New York Giants lag und wo der »Salvation Club«, in dem Keith Moon Jimmy Page prophezeite, dessen neue Band würde untergehen wie ein »bleierner Zeppelin«. Er kennt auch die subtilen Unterschiede zwischen den mexikanischen Restaurants unterhalb der 96. Straße, die von Chinesen betrieben werden, und den chinesischen Restaurants oberhalb der 96., in denen Mexikaner Reis braten.

Ähnliche Offenbarungen könnte man sicher auch in München, Hamburg, Berlin erleben und hätte mehr davon als von jedem Aufenthalt im Wellnesshotel. Falls man einfach losginge, zu Fuß. Voraussetzung dafür wären allerdings Schuhe, an die man auch nach zwei Stunden keinen Gedanken verschwenden muss. Sie dürften ruhig Style haben und sexy wirken. Aber man müsste in ihnen mehr tun können, als hinterm Schreibtisch und beim Mittags-Italiener zu sitzen, weiter in ihnen kommen als vom Büro in den Besprechungsraum und vom Taxi auf den Barhocker. Doch leider denken Schuhhersteller über Schuhe für gehende Menschen mittlerweile recht selten nach. Wie alle, die es weit gebracht haben, gehören sie selbst zur sitzenden Klasse. Die hat gelernt, alles auszusitzen. Auch den Schmerz.

Fotos: Tom Schierlitz