Fliegender Wechsel

Zwei deutsche Soldaten am Flughafen: Der eine bricht auf zum Einsatz nach Afghanistan, der andere kommt gerade von dort zurück. Ein kurzer Moment nur, Zeit für ein paar Worte. Über den Tod, über die Angst und über die Frage: Was haben wir da unten verloren?

Jörg Rathmann (inks), im Tropenfeldanzug, fliegt gleich nach Afghanistan. Marco Dahnke fährt zurück in die Kaserne nach Lüneburg.

SZ-Magazin: Herr Rathmann, in einer Stunde fliegen Sie nach Afghanistan. Welche Frage wollen Sie an Ihren Kameraden noch loswerden?
Jörg Rathmann: Wie ist die Telefonverbindung nach Deutschland? Wie oft kann ich mit meiner Familie und meinen Freunden sprechen?
Marco Dahnke: Man kann rund um die Uhr E-Mails schreiben, natürlich auch telefonieren. Ich würde dir aber raten, Briefe zu schreiben, dann bekommst du auch welche zurück, und so ein Brief mitten in der Wüste, das ist das Größte.
Rathmann: Wie lange braucht ein Brief nach Deutschland?
Dahnke: Drei bis fünf Tage. Ich habe zwei pro Woche geschrieben. Anrufen würde ich nicht zu oft, vielleicht zweimal die Woche, sonst denkt deine Freundin noch, du willst sie kontrollieren. In Afghanistan sind bisher 32 deutsche Soldaten zu Tode gekommen. Mit welchen Gefühlen treten Sie Ihren Auslandseinsatz an, Herr Rathmann? Rathmann: Ich fühle mich unsicher und verspüre einen Riesenrespekt. Alles, was ich weiß, ist: Ich fliege in einer Stunde nach Usbekistan, von dort geht es nach Afghanistan ins Lager nach Masar-i-Scharif, dann weiter nach Faisabad. Aber was erwartet mich dann? Welche Aufträge bekomme ich? Morgen werde ich in einem Land sein, in dem ich noch nie war, von dessen Sprache ich kein Wort verstehe.
Dahnke: Du wirst überrascht sein, wie chaotisch es da zugeht. Die meisten Menschen leben in Lehmhütten, und an die Temperaturen muss man sich auch erst gewöhnen. Ich war im Winter bei minus 28 Grad draußen, im Sommer wird es 50 Grad heiß. Und staubig ist es, unfassbar staubig.

Sehen die Afghanen die deutschen Soldaten als Befreier oder Besatzer?
Dahnke: Die sind unberechenbar und benehmen sich jeden Tag anders. Mal sind sie freundlich, am nächsten Tag ignorieren sie einen. Nur die Kinder sind neugierig und zutraulich. Die wollen alles ganz genau sehen, die Uniformen, die Waffen, die Fahrzeuge.

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Aber Kinder können doch auch Selbstmordattentate verüben.
Dahnke: Man muss wachsam sein, aber meistens sind die Kinder dünn und zierlich und haben so wenig an, dass man gut einschätzen kann, ob sie Sprengstoff bei sich tragen.

Und Sie? Haben Sie Angst?
Rathmann: Für viele Männer ist Angst ein Eingeständnis von Schwäche, das halte ich für falsch. Angst ist immer dabei und auch wichtig, weil sie wachsam hält.
Dahnke: Angst schließe ich aus. Wenn ich als Führer Angst zeige, werde ich unsicher, und wenn ich unsicher werde, mache ich Fehler und das kann ich mir im Einsatz nicht erlauben.

Einer Ihrer Kameraden hat in einem Interview gesagt: "Wer keine Angst hat, lügt."
Dahnke: Ich habe wirklich keine Angst, und das hat nichts mit Stärke zu tun. Das ist mein Beruf, den habe ich gewählt, in dem muss ich funktionieren. Ich könnte mir keinen anderen Job vorstellen, bei dem ich so viel erlebe und so viel Verantwortung habe.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie die beiden Soldaten mit dem Dauerstress eines Einsatzes in Afghanistan umgehen.

Hauptfeldwebel Dahnke, 34, ist Berufssoldat und war bereits viermal im Auslandseinsatz, zuletzt in Afghanistan. Er ist verheiratet und hat eine Tochter.

Jeder Passant ist ein potenzieller Selbstmordattentäter. Und allein im Jahr 2008 gab es 3295 sogenannte IEDs, »Improvised Explosive Devices«, am Wegrand vergrabene Sprengsätze. Wie schlimm ist dieser Dauerstress?
Dahnke:
Man muss sich auf seinen Instinkt verlassen und die Zeichen richtig deuten: Wenn an einer Autopanne nur einer beteiligt zu sein scheint, ist das auffällig. Oder wenn am Straßenrand plötzlich ein Fahrrad oder ein Steinhaufen liegen, die vorher nicht da waren. Trotzdem entsteht Stress, mein Gegenmittel sind Radfahren und Hanteltraining.
Rathmann: Ich bin eher der Typ für eine Zigarette und eine Tasse Kaffee. Außerdem gibt es ja Psychologen und Seelsorger.
Dahnke: Mit denen solltest du immer das Gespräch suchen, wenn irgendwas ist. Nie abkapseln oder isolieren, immer reden. Früher haben die Soldaten das vermieden, die haben sich geschämt, aber das hat sich geändert. Ich war in Kundus, als deutsche Soldaten Opfer eines Selbstmordanschlags wurden. Ich habe mitgeholfen, die Leichen zu bergen. Ich habe auch gesehen, wie die Särge aus dem Lager gefahren wurden. Klar habe ich danach mit dem Seelsorger gesprochen. Alle haben das gemacht. Wir saßen im Halbkreis zusammen und jeder hat seine Geschichte erzählt. Wer so was verarbeiten will, muss drüber reden.

Waren Sie Zeuge des Anschlags?
Dahnke: Nein, aber ich war 20 Minuten danach dort, habe die Verletzten versorgt und die Unfallstelle abgesichert. Das war kein schöner Anblick, es gab Tote und drei Schwerstverletzte. Aber aus der Bahn geworfen hat mich das nicht. Ich musste den Ärztetrupp unterstützen und den Hubschrauber einweisen, das war ja keine Übung mehr, da lagen Leichen, da musste ich anwenden, was ich gelernt hatte.
Rathmann: Ich glaube, man spult in so einem Moment einfach sein Programm ab. Hat der Vorfall andere Kameraden stärker mitgenommen?
Dahnke: Ja, einer hat geweint. Dem ging das sehr nahe, weil er die Verletzten betreut und ihre Lebensgeschichten erfahren hat. Mein Kraftfahrer kam auch mal zu mir und sagte: "Hauptfeldwebel, nehmen Sie mich bitte mal in den Arm."

In den deutschen Medien wird viel über posttraumatische Belastungsstörungen bei Soldaten berichtet. Ein Artikel war mit dem Zitat betitelt: "Mein Leben ist versaut".
Dahnke: Mein Leben hat sich nicht verändert. Es geht normal weiter.

Aber Sie müssen doch Fälle von traumatisierten Kameraden kennen.
Dahnke: Ich kenne keinen persönlich, der darunter leidet, aber ich habe davon gehört, ja, und es ist nun mal so, dass jeder anders mit solchen Erlebnissen umgeht. Bei einem Autounfall ist es doch genauso. Der eine steckt es besser weg, der andere schlechter.
Rathmann: Ich glaube auch nicht, dass sich bei mir großartig was ändern würde, aber ich kann das nicht wirklich beurteilen, glaube ich. Hattest du mal Angst um dein Leben?
Dahnke: Nie.

Haben Sie einen Schuss abgegeben?
Dahnke: Keinen einzigen.

Haben Sie gebetet?
Dahnke: Nein.
Rathmann: Ich glaube auch nicht, dass ich jetzt auf einmal das Beten anfange.

Wie viel Geld verdienen Sie während der vier Monate in Afghanistan?
Rathmann: Ich bekomme mein Grundgehalt, das sind 1800 Euro netto, dazu 110 Euro steuerfrei pro Tag.

Das sind für die vier Monate immerhin 13 000 Euro zusätzlich.
Rathmann: Wenn ich mit einem abgerissenen Bein zurückkomme, nützen mir ein paar tausend Euro wenig.

Spielt Abenteuerlust eine Rolle?
Rathmann: Wenn ich Abenteuer erleben will, buche ich mir einen Urlaub.
Dahnke: Ich spüre schon ein bisschen Abenteuerlust. Ich habe jahrelang geübt, aber erst im Einsatz weiß ich wirklich, ob ich funktioniere. Da kann ich mir keinen Fehler erlauben, sonst kann es den Tod bedeuten.

Welche persönlichen Dinge haben Sie im Gepäck?
Rathmann: Fotos, Computerspiele, Musik und Bücher. Eines heißt Ich bin o.k., du bist o.k. von einem Psychologie-Professor, da geht es um immer wiederkehrende Verhaltensmuster von Menschen. Ich bin manchmal zu geradlinig und direkt, deswegen interessiert mich das. Das andere ist von Napoleon Hill: Denke nach und werde reich.
Dahnke: Ich habe ziemlich viel Dr. Kawashimas Gehirn-Jogging auf einem kleinen Nintendo-Computer gespielt. Außerdem habe ich Englisch gelernt, auch mit einem Computerprogramm.

Haben Sie einen Glücksbringer dabei?
Rathmann: Einen kleinen Teddybären von meiner Freundin. Und einen Schutzengel, der kommt an den Spiegel in meinem Fahrzeug.
Dahnke: Ich hatte auch immer einen Engel in meiner Feldjacke.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie der Alltag der Soldaten am Hindukusch aussieht.

Oberfeldwebel Jörg Rathmann, 30, ist gerade vier Monate lang im Auslandseinsatz in Faisabad, Afghanistan. Seine Freundin ist ebenfalls dort, als Krankenschwester im Feldlazarett in Masar-i-Scharif.

Wie sieht ein typischer Tag eines deutschen Soldaten in Afghanistan aus?
Dahnke: Unterschiedlich, je nach Einheit und Aufgabe. Es gibt Dienst und es gibt Freizeit, aber kein Wochenende. Ich habe dort komplett das Gefühl für die Wochentage verloren. Wir sind Aufklärer, das heißt: Wir fahren nachts im Spähwagen durch die Gegend, sichern das Lager, schlafen dann bis mittags, frühstücken und machen anschließend Sport und haben Freizeit. Du bist Teil der Schutztruppe, das heißt, du bist oft mehrere Tage unterwegs, patrouillierst zu Fuß durch Ortschaften und hast unmittelbaren Kontakt zu den Menschen dort unten.

Kommt bei diesen Fahrten manchmal Langeweile auf?
Dahnke: Überhaupt nicht. Wir sind ja ständig in Bewegung, fahren von einem observation point zum anderen, funken ins Lager und müssen äußerst wachsam sein. Sie glauben gar nicht, was einem da nachts alles über den Weg läuft, Bauern, die wegen der Hitze nachts auf dem Feld arbeiten, Wüstenfüchse, Stachelschweine, Esel.

Klingt ehrlich gesagt nicht so aufregend.
Dahnke: Man hat seinen Auftrag, und wenn der Auftrag »beobachten« ist, dann beobachtet man eben. Da wird einem nicht langweilig, das können Sie mir schon glauben.

Und am Morgen gibt’s Frühstück?
Dahnke: Ja. Alles, was Sie sich denken können. Brötchen, Marmelade, Käse, Müsli, Früchte, Säfte, sogar Weißwürste gibt es manchmal. Es gibt auch einen Marketenderladen im Lager, da kannst du alles Mögliche kaufen, Plüschtiere oder Legosteine für die Kinder zu Hause, Snickers, Cola, Cola light. Eine DVD-Leihstation haben wir auch im Lager. Wenn Sie einen Film im deutschen Kino sehen, können wir ihn ein paar Wochen später in Afghanistan anschauen. Ich habe auch den Spiegel gelesen und sogar – mit einem Tag Verspätung – meine Lüneburger Heimatzeitung.

Wird Deutschland sicherer, weil Sie am Hindukusch präsent sind?
Dahnke: Das ist eine Grundsatzdebatte, die man wie einen Kaugummi zerkauen kann. Wir haben einen Auftrag, den erfüllen wir.

Haben Sie das Gefühl, dass Sie in Afghanistan Sinnvolles geleistet haben?
Dahnke: Ja, bei meinem ersten Einsatz war ich in Kabul. Vor ein paar Wochen war ich wieder da, und es hatte sich einiges getan: neue Firmen, Straßen und Schulen. Wenn ein Maurer eine Mauer zieht, kann er am Abend sagen: So, fertig, diese Mauer ist mein Beitrag. Ich mache Aufklärungsarbeit, die sieht man nicht, aber die ist wichtig.

Sie riskieren Ihr Leben, und die Mehrheit der Deutschen ist gegen diesen Einsatz.
Dahnke: Wenn das der Fall wäre, hätten wir kein Mandat. Ich denke mir also, dass die Mehrheit hinter uns steht. Inzwischen weiß ich, wie mit Soldaten umgegangen wird: Ist irgendwo Hochwasser, schreien sie nach uns, damit wir helfen; ist kein Hochwasser, sollen wir reduziert oder abgeschafft werden.
Rathmann: Schön ist das nicht, aber die Regierung wurde von der deutschen Bevölkerung gewählt, sie hat das beschlossen, und jetzt sind wir eben da.

Führen Sie Krieg oder leisten Sie Wiederaufbauhilfe?
Dahnke: Im Krieg sind wir jedenfalls nicht.

Und die toten deutschen Soldaten – sind die gefallen oder verunglückt?
Dahnke: Die sind gefallen.

Wie geht das zusammen?
Dahnke: Das ist eine Fangfrage. Dann sage ich es anders. Die sind nicht gefallen, die wurden feige getötet.

Wie haben Ihre Angehörigen reagiert, als Sie Ihnen erzählt haben, dass Sie nach Afghanistan gehen?
Dahnke: Bei mir ist das Routine.
Rathmann: Meine Freundin kommt in einer Woche nach, die ist Krankenschwester im Feldlazarett in Masar-i-Scharif, aber meine Mutter hat geweint.

Haben Sie auch geweint?
Rathmann: Mir stand schon das Wasser in den Augen. Den Abschied von meiner Freundin habe ich kurz gehalten. Wenn man so was rauszögert, wird’s ja nicht einfacher, gehen muss ich so oder so, ob ich jetzt stundenlang weine oder nicht.
Dahnke: Mache ich genauso. Kurz und schmerzlos. Wichtig ist, dass man die Familie gut vorbereitet. Ich habe mich mit meiner Frau damals hingesetzt und gesagt: Pass auf, ich gehe in den Einsatz. Was müssen wir zu Hause tun? Wie sagen wir es der Kleinen?
Rathmann: Wie alt ist deine Tochter denn?
Dahnke: Sie wird sieben. Ich habe ihr auf der Landkarte gezeigt, wo Afghanistan liegt, und ihr erzählt, dass Daddy da für ein paar Monate hin muss.

Gibt es Erlebnisse, die Sie zu Hause bewusst nicht erzählen?
Dahnke: Selbstverständlich. Ich würde gegenüber meiner Familie nie ausschmücken, dass ich Tote und Verletzte gesehen haben. Da hält man den Mund.

Haben Sie noch einen letzten Tipp für den Kameraden?
Dahnke: Immer wachsam bleiben, die Zeit nicht zu lang werden lassen und auf jeden Fall die Verbindung nach Hause halten! Mach’s gut. Komm heil wieder! Alles Gute! Pass auf deine Jungs auf!

Das war jetzt ein bewegender Moment.
Dahnke: Das ist immer so. Ich sag mal, das ist Routine. Man gibt Soldaten Glück mit auf den Weg. Dann war’s das.

Ein paar Zahlen zu dem Bundeswehreinsatz in Afghanistan:
Deutsche Soldaten in Afghanistan:3730
Deutsche Soldaten in Afghanistan seit 2002: 90 000
Gefallen: 32
Fälle von posttraumatischer Belastungsstörung: 600

Fotos: Franziska von Stenglin