Wählen

Die Abstimmung über unseren Präsidenten und das Europaparlament sind Auftakt zu einem einmaligen Wahlmarathon.

Ich kenne einen, der macht sein Kreuz seit der ersten Bundestagswahl, an der er teilnehmen durfte, bei den Grünen. Vor zwanzig Jahren, am Ende der Schulzeit, stand hinter dieser Wahl vielleicht sogar echte Überzeugung; die Grünen waren die Einzigen im politischen Betrieb, deren Haltung und Auftreten ihm etwas zu sagen hatten. Doch diese Zustimmung ließ sehr bald nach: Das ganze Menschen- und Weltbild der Partei, die emphatische Feier der Natur, die verkürzte Kultur- und Technikkritik kamen ihm immer naiver vor; außerdem beschäftigte ihn mehr und mehr das Verhältnis von Ästhetik und Politik, die Frage, ob die richtigen Standpunkte wirklich in Sackleinen und mit hennarot gefärbten Haaren vertreten werden konnten.

Es hätte also in den letzten beiden Jahrzehnten Dutzende von Gelegenheiten gegeben – Bundestags-, Landtags-, Kommunal- und Europawahlen –, bei denen er seine damalige Entscheidung hätte korrigieren können. Und war in der politischen Praxis nicht ohnehin vollkommen deutlich geworden, dass es auf feste Positionen am allerwenigsten ankam, dass sich die Standpunkte im Wechsel von Oppositions- zu Regierungspartei und zurück beliebig ändern konnten? Die Kreuze auf dem Zettel einmal probehalber an anderer Stelle zu machen – es wäre kaum eine weitreichendere Entscheidung als die eines Lottospielers. Und doch wird man in der Turnhalle der Grundschule, in der das Wahllokal untergebracht ist, jedes Mal wieder von einer seltsamen Ernsthaftigkeit und Feierlichkeit ergriffen. Als würde der Akt des Wählens an den Kern des eigenen Wesens rühren, als müsste in dem Moment, in dem man die Kabine betritt, jene abgeklärte, distanzierte Haltung, die man der Parteipolitik gewöhnlich entgegenbringt, für einen Augenblick aufhören.

Es hat daher etwas Passendes, dass die Wahllokale in Deutschland fast immer in Schulen errichtet werden. Die Gänge auf dem Weg in den zuständigen Klassenraum, die Erinnerungen, die von den Kinderzeichnungen über den Kleiderhaken, von den Gerüchen nach Schulspeisung, Turnbeuteln und Bohnerwachs hervorgerufen werden: Sie werfen den Wähler auf seine eigene Biografie zurück, konfrontieren ihn mit seiner Vergangenheit.

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Beim Ausfüllen der Wahlzettel sitzt man dann auf einem der niedrigen Holzstühle, wie schon vor Jahrzehnten, und das Kreuz an der falschen Stelle zu machen würde sich gerade in dieser Umgebung wie eine folgenschwere Übertretung anfühlen, wie ein Verrat an der eigenen Lebensgeschichte. So logisch es wäre, einer Partei endlich die Stimme zu verweigern, deren ganzes Auftreten längst nichts mehr mit der eigenen Lebenswelt zu tun hat: Im Akt des Wählens scheinen sich
diese Gedankenspiele zu verbieten. Das, was ansonsten in Gesprächen über Politik immer wieder zum Ausdruck kommt – das Kokettieren mit entgegengesetzten Standpunkten, das provokante Ausprobieren von Anschauungen im vertrauten Milieu –, weicht plötzlich einer Befragung der innersten Überzeugungen.

Genau in dieser Hinsicht ist vermutlich auch die Einrichtung der »Wahlkabine« zu verstehen, die Abgeschiedenheit des Einzelnen, auf die von den Wahlhelfern nach wie vor mit aller Sorgfalt geachtet wird. Ihre Funktion hängt weniger mit der Geheimhaltung des Vorgangs zusammen, mit der Uneinsehbarkeit von außen, als vielmehr mit jenem inneren Zustand, in den sie den Wähler bringt: Allein in dem engen, von Stellwänden umschlossenen Raum soll er sein Gewissen offenbaren und ein politisches Bekenntnis ablegen. Die Wahlkabine ist eine Art Beichtstuhl des demokratischen Systems.

Noch immer entfaltet dieser Ort seine Macht – auch wenn vor allem jene, die erst kurz vor Schließung der Wahllokale ihre Kreuze machen, große Zweifel haben mögen, ob es auf ihre Stimme wirklich noch ankommt. Man sucht noch seinen Personalausweis um viertel vor sechs, während im Fernsehen bereits die ersten Prognosen diskutiert werden. Im Hinblick auf das Wahlergebnis bleibt das Ausfüllen des Stimmzettels also eher vermittelt und abstrakt. Für die eigene Biografie aber hat jede politische Wahl die unmittelbare Bedeutung der Selbstbefragung.

Foto: Niko Schmid-Burgk