Schönheit reicht nicht

In der klassischen Musik wird heute niemand mehr ein Star, der nicht mindestens aussieht wie ein Supermodel. Aber mal ehrlich - das ganze Gelärme um die Schönheit nervt. Denn unerhört sollte vor allem eines sein: das, was wir da zu hören kriegen.

Bei der Verleihung der Klassik-Echos 2008 muss mich Götz Alsmann in einen Halbschlaf hineinmoderiert haben, denn als ich aufwachte, herrschte knisternde Erregung im Saal: Ein paar grauhaarige Männer glotzten auf die Bühne, die meisten taten absichtlich uninteressiert, konnten ihre Anspannung aber nicht vor ihren Ehefrauen verbergen. Ich fühlte mich wie in einem Loriot-Sketch. Jeder war auf seine Art nervös, weil alle wussten, dass es definitiv nicht die Händel-Arie war, die dem Gala-Abend für vier Minuten echte Aufmerksamkeit bescherte.

Auf der Bühne sang eine Frau, die von meinem Platz in Block J aus betrachtet wie ein Showgirl aussah. Mit der Art, wie sie ihre Arme und Hüften bewegte, wäre sie auf keiner Beachparty negativ aufgefallen. Sie hatte nougatfarbene Haut, trug ein smaragdgrünes, tief dekolletiertes Kleid und viel Silberschmuck. Wenn sie uns nicht gerade eine Ahnung ihres durchtrainierten Rückens gewährte, zeigte sie uns ihr rassiges Gesicht, und weil Da Tempeste aus Händels Giulio Cesare nur aus seufzenden Koloraturen besteht, stand ihr Mund vier Minuten lang daueroffen. Ich war doch gekommen, um klassische Musik zu hören, und jetzt war ich aus Versehen erregt worden – von Danielle de Niese, die nach ihrem Auftritt den »Echo Klassik« als beste Nachwuchskünstlerin überreicht bekam. Ein paar Wochen später begegnete ich ihr wieder, in der Klassikabteilung eines Münchner Kaufhauses. Auf dem CD-Cover sah sie genauso ungehemmt aus wie auf der Bühne, hatte aber Konkurrenz bekommen: Ich stand vor dem Stapel mit den Neuerscheinungen, die aussahen, als hätte jemand Setcards von Models in die CD-Hüllen geschoben: Anna Netrebko mit aufgerissenen Augen und leicht geöffnetem Mund, so fotografiert, dass man denkt, sie schaue einen ziemlich unmissverständlich von unten an. Anna Netrebko, in den Armen der Mezzosopranistin Elina Garanča, die eine brünett, die andere blond, die eine mit sanftem, die andere mit strengem Blick; ich bin fast sicher, dass es Männer gibt, die beim Anblick dieses Covers nicht nur an Bellini denken. Daneben, schulterfrei, die englische Sopranistin Kate Royal, die aussieht wie Carla Bruni vor zehn Jahren, nur noch hübscher. Die argentinische Cellistin Sol Gabetta – ein Traum in Blond, die Geigerinnen Janine Jansen, Lisa Batiashvili, Julia Fischer – alle laufstegtauglich; die deutsche Sängerin Annette Dasch – Puppenaugen, makelloses Gesicht, flehender Blick.

Bei den Männern das Gleiche: Der Pianist Martin Stadtfeld spielt Bach und ist ständig in Gefahr, für die nächste Jil-Sander-Kampagne gebucht zu werden; der Tenor Rolando Villazón – feurig und ungestüm, ein Dirigent hat ihn mal als »spermatös« beschrieben. Der Tenor Jonas Kaufmann, wie er im Kaschmirpulli so romantisch dreinschaut, dass Frauen ihn nicht nur für einen herausragenden Sänger, sondern sicher auch für einen guten Zuhörer halten. Und schließlich der Geiger David Garrett, der auf seiner CD das Hemd so weit offen trägt, dass er es eigentlich weglassen könnte. Ich fühlte mich so manipuliert, so überschwemmt von Schönheit, dass mir die Lust verging, eine CD zu kaufen. Es kann doch nicht sein, dass die besten Musiker der Welt gleichzeitig die schönsten sind.

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Ich bin keiner, der Schellackplatten sammelt, ich finde auch nicht, dass früher alles besser war. Ich weiß, die Alten sterben weg, die Jungen müssen begeistert werden, aber doch nicht mit den falschen Argumenten – und nicht um jeden Preis. Gisele Bündchen ist ja auch kein Supermodel, weil sie gut rechnen kann. Ein Konzert ist für mich eines der letzten aufrichtigen Ereignisse, ein Zufluchtsort für Empfindungen. Musik kann trösten und erlösen, zumindest für die Dauer einer Sinfonie, einer Sonate. Den Moment, in dem sich in der Oper der Vorhang hebt, empfinde ich als magisch, ich bekomme eine Gänsehaut, jedes Mal wieder. Deshalb bin ich so empfindlich, wenn die Wangenknochen der Interpreten wichtiger werden als die Musik und als ihr Können. Dann verdirbt mir der offensichtliche Kaufanreiz den Zauber der Musik, dann will ich nicht mehr entdecken, sondern fühle ich mich bedrängt, komme ich mir verschaukelt, unterschätzt, nicht ernst genommen vor. Und noch schlimmer, die Musik und die Musiker kommen mir nicht ernst genommen vor, sondern instrumentalisiert. Die Freude an klassischer Musik muss man sich verdienen, die stellt sich nicht mal eben ein, nur weil ein lecker aussehender Sänger auf der Bühne steht, das ist die gute und die schlechte Nachricht für Menschen, die enttäuscht sind, dass sich beim zweiten Konzertbesuch nicht gleich der Himmel auftut.

Herbert von Karajan war ein Jahrhundertdirigent, aber auch ein unverbesserlicher Dandy. Maria Callas die größte Sängerin des 20. Jahrhunderts, aber auch eine besonders aussehende Frau mit den sinnlichsten Lippen der Welt. Der Gedanke, dass Künstler keine Genies sein können, weil sie schön sind, ist falsch und dumm. Und diese attraktiven jungen Klassikstars des 21. Jahrhunderts sind ja alle talentiert, manche sind bemerkenswert, ein paar wenige Weltklasse – vor allem die jungen Geigerinnen –, trotzdem ist der Erfolg nicht in allen Fällen gedeckt: Als Anna Netrebko vor ein paar Jahren an der Bayerischen Staatsoper La Traviata probierte, soll der Intendant Sir Peter Jonas gesagt haben: »Die ist schon hübsch, aber das kann die Traviata aus meinem Ensemble mindestens genauso gut.« Martin Stadtfeld, der in viel zu kurzer Zeit vier CDs eingespielt hat, spielt Bach schon ziemlich beeindruckend, verstört die Experten aber immer wieder mit Manierismen und zeitweiliger Seelenlosigkeit. Jonas Kaufmann wird in diesem Jahr zum Megastar, sagt ein Mitarbeiter seines Labels. Seine Stimme, sagen Kritiker, geht phasenweise zu sehr nach innen, statt nach außen zu strahlen. Lang Lang spielt technisch außergewöhnlich, dafür fehlen ihm oft geistige Reife, das innere Hören auf die Bedeutung der Musik. Der Chinese ist ein Popstar, der in jeder Fußgängerzone der Welt erkannt wird, Jewgeni Kissin, der besser spielt, aber schlechter aussieht, würden alle für einen Bustouristen aus Kiew halten.

»Klassikstars müssen mindestens so gut aussehen wie die Desperate Housewives«, gestand die Chefin eines großen Plattenlabels kürzlich einem Journalisten. Die bulgarische Mezzosopranistin Vesselina Kasarova – und, nein, sie ist nicht unattraktiv – erklärte in einem Interview, dass sie nie mehr Opernsängerin werden würde, weil in der Oper heute Schönheit mehr zähle als Können. »Und weil Plattenfirmen ständig Bilder von mir machen wollen, auf denen ich mich selbst nicht mehr erkenne.« Als vor zwei Jahren in Salzburg Pergolesis Stabat Mater aufgeführt wurde, sprang die deutsche Sopranistin Christine Schäfer für Anna Netrebko ein, die fest gebucht war, doch kurzfristig absagen musste. In der FAZ-Kritik des nächsten Tages suchte man die kurzhaarige, etwas spröde Christine Schäfer auf dem Bild vergeblich. Die Zeitung hatte sich für ein Foto der Netrebko entschieden. Ein weiteres Beispiel erzählt Sabine Frank von der renommierten Künstleragentur HarrisonParrott: »Neulich wollte das ZDF für eine Fernsehübertragung einen Dirigenten buchen«, sagt sie, »alles lief glatt, bis die Verantwortlichen ein Foto des Mannes zu Gesicht bekamen.« Dieser Künstler sei nicht vermittelbar und außerdem zu alt, hieß es dann plötzlich – der Mann war 40.

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Vor zehn Jahren kannte man die drei Tenöre, Anne-Sophie Mutter, den blinden Andrea Bocelli und vielleicht noch den Geigen-Punk Nigel Kennedy, der übrigens wirklich eine anarchische Gesinnung und deswegen bald keine Lust mehr auf diese alberne Inszenierung hatte. Der Rest fand außerhalb der Klassikzirkel nicht statt. Als wegen des Internets die CD-Verkäufe wegbrachen, setzten die Plattenfirmen auf äußere Reize: Seitdem hat Anna Netrebko allein in Deutschland eine Million CDs verkauft. Die Aufnahmen von Villazón oder Mutter erreichen regelmäßig Gold- und Platinstatus, David Garrett verkauft an einem Tag 1000 Konzertkarten und 8000 CDs. Ein System ist entstanden, von dem scheinbar alle profitieren: die Plattenfirmen, weil sie mehr CDs verkaufen, die Künstler, weil sie für entbehrungsreiche Jahre belohnt werden; die Magazine freuen sich über neue Gesichter, die Werbeindustrie auch und die Menschen da draußen, weil sie mitreden können, wenn sie Paul Potts im Open Air gehört haben, den sie für einen großartigen Tenor halten.

Anna Netrebko wird von Escada ausgestattet, Jonas Kaufmann von Strenesse, der Geiger David Garrett trägt ständig ein ziemlich großes Kreuz um den Hals, weil er einen Vertrag mit einem Schmucklabel unterschrieben hat. Es geht um Unverwechselbarkeit. Der Künstler muss eine Marke werden, die sich abhebt, die wiedererkannt wird: Anneliese Rothenberger, eine der bedeutendsten Sopranistinnen des 20. Jahrhunderts und auch schon 82 Jahre alt, riet einer jungen Sängerin, dass es sicher kein Nachteil sei, wenn sie bei Liederabenden kurze Röcke statt Abendkleid trage. Dem Weltklasse-Cellisten Johannes Moser, einem der Besten seines Fachs, einem Mann, der sein halbes Leben mit Cellospielen verbrachte, wurde jüngst erklärt, er wäre noch einen Tick erfolgreicher, wenn er bei jedem Auftritt rote Strümpfe anzöge. Er hat abgelehnt: »Wenn das Publikum nur noch auf Primärreize reagiert«, sagt er, »hat die Musik ein Problem.« Und wenn zu viele Künstler auf solche Angebote eingehen, haben sie selbst ein Problem. Markenzeichen sind austauschbar. Heute rote Socken, morgen kommt einer mit grünen Schuhen daher. Johannes Moser ist überzeugt, dass die Strategien der Plattenfirmen die CD-Verkäufe nicht ankurbeln, sondern ausbremsen. Auch die Geigerin Julia Fischer hat lange versucht, sich zu wehren. Ein Playboy-Angebot für Nacktfotos konnte sie parieren; mit dem Wunsch, nicht auf den Covern ihrer CDs zu erscheinen, scheiterte sie. Inzwischen hat sie eingesehen, dass mehr CDs verkauft werden, wenn sie im Kleidchen und nicht Bach mit gepuderter Perücke auf dem Cover zu sehen ist.

Der Musikkritiker Joachim Kaiser sagt: »Wir haben keine Geduld, wir wollen jeden Tag einen neuen Star, ein neues Jahrhundertgenie präsentiert bekommen. Doch so viele Genies gibt es nicht.« Trotzdem wollen uns Plattenfirmen das weismachen: »Sopranistin der Stunde«, »Vokaler Stern«, »Heldin des Abends« – jeder wird in den Himmel gehoben. »Denen gehen bald die Superlative aus«, sagt Kaiser, »jeder ist atemberaubend, jeder superb, jeder gehört zu den Besten. Ja, weiß denn keiner mehr, dass das Wesen des Superlativs darin besteht, dass er sich nur auf einen beziehen kann?« Was perfekt, immer verfügbar oder, noch schlimmer, im Überfluss vorhanden ist, verliert seinen Reiz. Das merken auch die Kulturredakteure. Früher haben sie in ihren Porträts geschrieben, der oder die mache auch abseits der Bühne bella figura. Heute schreiben sie über die Gleichen, der oder sie wolle unter keinen Umständen auf Äußerlichkeiten angesprochen werden, da reagierten sie allergisch, das hassten sie. Ergebnis: Es geht wieder ums Aussehen.

Goethe hat gesagt: »Die Wirklichkeit hat gegen die Schönheit keine Chance.« Aber Schönheit allein reicht eben auch nicht. Was wir – aber auch diese Musiker – brauchen, sind Geduld und Genauigkeit. Diese jungen Stars sind keine Genies, auch keine Jahrhundertmusiker und noch lange keine Legenden. Das waren Arrau, Gulda, Gould, Horowitz. Ihre Karrieren haben Jahrzehnte überdauert, sie selbst haben ein ganzes Jahrhundert geprägt. Lang Lang, Kaufmann, Netrebko, Stadtfeld können dahin kommen, können aber auch in ein paar Jahren ausgetauscht sein. Noch fehlt ihnen die letzte Hingabe an das Werk, noch wirken sie zu wenig unvergesslich, zu oft wie Handlungsreisende mit einer Stimme, einer Geige im Gepäck. Der Markt giert nach schnellem Wechsel, neuen Namen und Gesichtern. Musik giert nach überhaupt nichts.

Neulich verschickte eine PR-Agentur eine E-Mail, in der sie auf Konzerte der Pianistin Olga Scheps hinwies: »Liebe Journalisten«, stand da, »dass sie sehr hübsch ist und tatsächlich auch hervorragend Klavier spielen kann, hat Olga Scheps auf eindrucksvolle Weise bewiesen.« Ein Satz, der nur noch von dem übertroffen wurde, der danach kam: »Olga Scheps’ Credo ist es, langfristig über Können und Leistung zu punkten, statt auf Äußeres reduziert zu werden.« Die Wahrscheinlichkeit, dass ich ein Konzert von Olga Scheps besuchen werde, hat sich durch diese E-Mail nicht erhöht.