Walkman

Der Walkman mache Menschen zu Autisten, hieß es früher; heute haben wir uns an selbstbezogene iPod-Hörer gewöhnt.

Der erste Walkman wurde von der Firma Sony am 1. Juli 1979 in Tokio verkauft. Ins Bewusstsein der Jugendlichen Europas gelangte er ein Jahr später, durch eine Szene in dem französischen Erfolgsfilm La Boum. Auf einer Party bekommt Vic von ihrem Ex-Freund Mathieu unbemerkt den Kopfhörer seines Walkmans aufgesetzt. Das Rock-’n’-Roll-Stück aus den Boxen der Stereoanlage wird von der Ballade Reality übertönt, dem Titelsong des Films. Eng umschlungen tanzen sie ein letztes Mal zu dem vertrauten Lied, inmitten der umherhüpfenden Partygäste. Alles, worum es beim Auftauchen des Walkmans vor dreißig Jahren ging, ist in dieser kurzen Szene enthalten: Plötzlich war da ein winziges Gerät, das den Benutzer abkapselte von den Eindrücken und Tönen der Umgebung. Und der Film feiert diese Abkapselung, den Triumph der selbstbezüglichen über die äußere Welt, indem die Tonspur Vics Wahrnehmung übernimmt; auch der Zuschauer hört nur noch das Stück aus dem Walkman.

An der freiwilligen Isolation seiner Benutzer hat sich noch viele Jahre nach dem Siegeszug des Apparates vehemente Kulturkritik entzündet. Immer tauchten dabei dieselben Schlagwörter von der »Vereinzelung« und dem »Autismus« der jungen Musikhörer auf. Woher genau rührte dieses hartnäckige Irritationspotenzial des Walkmans? Die Gründe dürften vor allem mit der spezifischen Sinneswahrnehmung des Hörens zu tun haben, das, wie es bei dem Kulturphilosophen Georg Simmel noch unumstößlich heißt, »seinem Wesen nach überindividualistisch« ist. Man kann sich Tönen in einem Raum nicht entziehen; zudem lässt sich das Ohr, anders als alle anderen Sinnesorgane, nicht schließen oder kurzzeitig außer Kraft setzen. Der Skandal des Geräts bestand genau darin, diese beiden Gesetze des Hörens, das Gemeinschaftliche und das Offene, zu übertreten. Heute ist der Walkman, von einem verzweifelten Wiederbelebungsversuch als Handy-Modell abgesehen, ein Relikt der Mediengeschichte. Endgültig verdrängt wurde er bekanntlich durch den iPod, dessen stille Etablierung – ohne jedes kulturkritische Störgeräusch – auch demonstriert, wie sehr man sich inzwischen an die Figur des selbstbezogenen Musikkonsumenten in der Öffentlichkeit gewöhnt hat. Die Plakate in Münchner U-Bahnen mit dem legendären Slogan »Aus dem Walkman tönt es grell – dem Nachbarn juckt’s im Trommelfell« sind seit Langem abgehängt; die optimierten Rauschfilter der Mp3-Player haben die Schwelle zur Außenwelt beruhigt. Und auch die Hörer selbst beherrschen die Kulturtechnik inzwischen perfekt: Würde es einem iPod-Benutzer noch passieren, sein Gegenüber versehentlich viel zu laut anzusprechen, wie es in frühen Walkman-Zeiten ständig geschah? Nein, der Übergang vom Kopfhörer zu zweigeteilten Ohrstöpseln hat längst dazu geführt, dass simultanes Reden und Musikhören keine Probleme mehr verursacht.

Zwanzig Jahre lang war der Walkman Gegenstand eines Urheberstreits: Ein deutscher Erfinder hatte sich kurz vor der Präsentation des Geräts in Japan eine Art »Musikgürtel« mit Kopfhörer patentieren lassen, der dem Sony-Apparat erstaunlich ähnelte. Erst im Jahr 2004 einigte man sich auf eine Entschädigungszahlung. In diesem Zusammenhang muss aber auch der schizophrene Sprachstudent Louis Wolfson erwähnt werden, dessen Lebensgeschichte durch den Philosophen Gilles Deleuze bekannt geworden ist. Wolfson wollte die englische Muttersprache in sich systematisch abtöten und entwickelte eine Apparatur, um sich in der Öffentlichkeit zu isolieren: ein »an ein tragbares Tonband angeschlossenes Stethoskop, dessen Bügel er entfernen oder wieder aufsetzen, dessen Klang er lauter oder leiser stellen« konnte. »Wenn es stimmt«, schreibt Deleuze, »dass er diese Vorrichtung von 1976 an entwickelt, weit vor dem Auftauchen des ›Walkmans‹, kann man annehmen, dass er – wie er sagt – dessen wahrhafter Erfinder ist.« Die offizielle Geschichte des Walkmans kennt diesen Namen nicht. Doch wirkt heute nicht jeder laut redende Passant, den erst die Kabel seiner Freisprechanlage vom Verdacht der Schizophrenie entlasten, wie ein Nachfahre Wolfsons?

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Foto: dpa