Hotel Intellektuell

Vor zwei Jahren brannte das traditionsreiche Schloss Elmau nahezu vollständig aus, dann wurde es komplett renoviert. Die Wiedereröffnung am 1. Juli wird beherrscht von der bangen Frage: Kehrt das Bildungsbürgertum zurück?

Die Wahrheit ist oft ungeheuer genug. Und doch kommt sie manchmal auf Stelzen, um noch gewaltiger zu wirken. Die Stelzen sind in diesem Fall die krakeligen Buchstaben einer Kinderschrift im Gästebuch, und die Wahrheit geht so: »Wir packen unsere Koffer, denn es brennt, wir vermissen Elmau jetzt schon. Es ist so schrecklich!!! Wir wünschen Elmau und Euch viel Glück, und hoffen, hier bald zurückzukehren. Alles Gute, Kulenkampffs aus Düsseldorf, Elmau, den 7. August 2005, 12.06 Uhr.«

Es ist bezeichnend, wie langsam sich hier das Ende einer Ära, das sich hinter diesen Kinderworten verbirgt, abspielt. Ein Hotel geht in Flammen auf, dennoch hat man die Muße für einen Eintrag ins Gästebuch mit exakter Zeitangabe. Fast scheint es so, als wollte auch das Schlusskapitel dieses bundesrepublikanischen Bildungsromans namens »Schloss Elmau« noch seine Symbolik unter Beweis stellen: Das Kulturbiotop ging, wie man heute weiß, an einer durchgeschmorten Wärmedecke zugrunde. Ausgerechnet eine Wärmedecke, dieses Instrument eines erkaltenden Alters, das sich nicht mehr selbst zu heizen versteht, ein trauriges Utensil der Senilität, führte zum Kollaps einer Institution, die wie kein anderer Ort im Land für eine spezifisch deutsche Form von romantisch verstandener Intellektualität stand: der des entrückten Denkens und Fühlens inmitten der Natur. Die Dichterin Hilde Domin, im Moment des Brandes ebenfalls vor Ort, vielleicht nur wenige Zimmer entfernt von den Kulenkampffs, beschrieb die gleiche Szenerie mit folgenden Worten: »Es war sehr aufregend zu sehen, wie ein Haus, das man sehr, sehr mag, von den Flammen ergriffen wird.« Elmau, das war in der Tat der sehr einzigartige Fall einer Einheit von klösterlichem Hotel und kulturellem Veranstaltungszentrum, in dem sich viele der Stammgäste so wohl fühlten, dass sie irgendwann dachten, das Schloss gehöre eigentlich ihnen selbst. Wer dorthin in Urlaub fuhr, bewies nicht nur Stil, wie Friedrich Gulda, sondern auch die richtige Gesinnung dazu, wie Johannes Rau. Schon die Einfahrt in das Tal am Fuß des Wettersteinmassivs, irgendwo zwischen Garmisch und Mittenwald, weitab der Bundesstraße, gleicht mit dem Auftauchen des Schlosses am Ende noch immer dem Übergang in eine andere, bessere Zeit.

Die Gesellschaft, die sich hier traf, hatte sich in einer Art gelebter protestantischer Studentenverbindung stillschweigend verständigt über die grundlegenden Fragen des Daseins. Man rümpfte die Nase, wenn nach dem Konzert applaudiert wurde. Genoss die Wonnen des Kollektiven im großen Speisesaal, in dem an jedem Tag eine neue Sitzordnung zusammengewürfelt wurde. Schrieb seine Getränke brav auf ausgelegte Zettel, die erst bei der Abreise vorgelegt werden mussten. Und traf sich verschwörerisch zur einzigen Kontaktaufnahme des Tages mit dem Rest der Welt bei den Acht-Uhr-Nachrichten im Literatursaal. Die Zimmer waren lediglich mönchische Einkehrzellen zum Schlafen, kein Raum zum längeren Aufenthalt.

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Nicht von ungefähr wurde das Schloss gern, auch von Loriot, der in Zimmer 118 residierte und an seinen Sketchen schrieb, mit dem Zauberberg Thomas Manns verglichen. Die angebotenen Vorträge und Diskussionen erinnerten sehr stark an Dr. Krokowskis gebannt belauschte Ausführungen im Roman, und anstelle der Lungenkranken waren es die deutschen Kulturmenschen, die seelisch an der Jetztzeit erkrankt waren und in »ihrer« Elmau Erholung suchten und fanden. Elmau gab ihnen die Gelegenheit, an eine »gute« Tradition vor dem Krieg anzuknüpfen, ein nicht von den Nazis verseuchtes Deutschland, dessen Essenz sie in Elmau gefunden zu haben glaubten – in der Politikferne einer natur- und kulturbetonten Lebensweise.

Viel war vom Charakter des »Sanatoriums der Sinne« erhalten geblieben, das der Schriftsteller, Philosoph und Theologe Dr. Johannes Müller einst als Schloss Elmau von 1914 bis 1916 mit finanzieller Hilfe von Else Gräfin Waldersee und seines Schwagers Professor Carlo Sattler als Architekt erbaute. Er errichtete für die Anhänger seiner protestantischen Reformlehre einen Zufluchtsort, an dem sie die »Freiheit vom Ich« mit Tanz und Gesang am Busen der Natur praktizieren konnten. Mit dem künstlerischen Anwesen schuf er eine Initiationsstätte kollektiver Erfahrung von Natur, die in den Zwanzigerjahren von Max Prinz von Baden bis Adolf von Harnack prominente Intellektuelle anzog. Johannes Müller selbst wurde es zum Verhängnis, dass er zwar einerseits den Antisemitismus der Nazis verurteilte, andererseits aber über den »verderblichen Charakter des Judentums« schrieb und Hitler als gottgesandten Führer verehrte, wofür er nach dem Zweiten Weltkrieg verurteilt wurde.

Es brauchte eine Weile, bis sich Elmau unter der Leitung von Dr. Odoardo Mesirca, eines Schwiegersohns des 1949 verstorbenen Müller, regenerierte. Der wiederum fünfzig Jahre später mit einer defekten Wärmedecke das Ende des von ihm geschaffenen Elmau verursachen würde. Die Anziehungskraft des Schlosses konnte erst seit den Sechzigerjahren wiederbelebt werden, und Künstler von Yehudi Menuhin über Benjamin Britten bis Gidon Kremer trugen seither für die hervorragende Qualität musikalischer Veranstaltungen Sorge. Traditionen wie das Wach-Singen durch die aus guten Kreisen stammenden Hausschwestern, den gemeinsamen Tanz der Gäste, ob Quadrille im Saal oder Reigen im Wiesentau, sorgten für ungebrochene Popularität von Schloss Elmau auch unter Anthroposophen, die über Jahre ihre Hauptversammlung dort abhielten.

Nun ist nach dem Brand von 2005 ein Enkel Dr. Johannes Müllers angetreten, der nur auf den ersten Blick nicht mehr viel mit dem Reformer aus dem frühen 20. Jahrhundert zu tun hat. Der 1954 auf Elmau geborene Dietmar Müller-Elmau leitet bereits seit 1997 als alleiniger Geschäftsführer Schloss Elmau und erweiterte das Spektrum in modernere Sphären von Jazz und Politik. Er ist ein exotischer Quereinsteiger, mit Mutter aus Curaçao, der früh in die Welt ging, weil ihm das Unfreie an Elmau so verhasst war: das Familiäre, der Zwang zur Gemeinschaft. Ein klassischer Bobo, ein Bourgeois Bohemien also, der sein Geld in den Achtzigerjahren mit einer Hotelsoftware namens Fidelio und der zugehörigen Softwarefirma verdiente, diese gewinnbringend veräußerte und den Gewinn fast restlos in seinen Herkunftsort reinvestierte. Groß, mit zurückgeworfenen blonden Locken, steht er da und hat mit dem Neuaufbau eigentlich die Gründung seines Großvaters im Geist der Jetztzeit zu wiederholen versucht.

Sein Cousin Christoph Sattler, ein Enkel des Original-Architekten, übernahm den Ausbau. »Christoph Sattler konnte sich dem Magnetismus seines Großvaters Carlo, der Elmau erbaut hat, nur mit äußerster Mühe entziehen. Ich habe immer gesagt: ›Bitte weniger Carlo und mehr Christoph!‹« Den wesentlichen Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Elmau sieht Dietrich Müller-Elmau jedenfalls im Licht: Vorher sei es protestantisch gewesen und nun leuchte es katholisch. Und da alles, was auf Elmau geschieht, philosophisch zu verstehen sei, wie der knapp über fünfzig Jahre alte Müller-Elmau lachend sagt, sei hier von lustfeindlicher, aschfahler Lebensverneinung versus den warmen Glanz eines bejahenden Existenzdenkens die Rede.

Es fällt nicht sofort auf, wie esoterisch Müller-Elmau eigentlich ist, weil alle in ihm nur den modernen Geschäftsmann und Feind der alten Tradition sehen wollen, der mit aller Kraft versucht, aus dem gestandenen Kulturzentrum ein schnödes Luxusresort zu machen. »Wissen Sie, niemand ist eindimensional und monothematisch. Im neuen Schloss finden Sie, einfach gesagt, einen Spiegel all mei-ner Reisen, von Asien bis Amerika, von der Toskana bis nach Bayern. Eine Mischung zwischen Alt und Neu, bei der Sie im besten Fall nicht merken, wo das Alte aufhört und das Neue beginnt.«

Da es sich nicht um einen kompletten Neubau handelt, fallen größere Veränderungen wie die des Speisesaals auf den ersten Blick gar nicht auf. Erst wenn man Bilder von vorher und nachher direkt nebeneinanderlegt, wird klar, dass Müller-Elmau eigentlich kaum einen Stein auf dem anderen gelassen hat. Der Brand sorgte aber auch für einen aberwitzigen Katalog an Auflagen seitens der Sachverständigen, die zum Beispiel dazu führten, dass selbst vollständig unbeschädigte Teile von Elmau wie der Turm entkernt werden mussten, nur weil jedes der drei Zimmer dort neue Sprinkler haben musste. Die Türen, die mit 100000 Euro budgetiert waren, kosteten plötzlich 700000 Euro. Noch während des Umbaus konnte er den neuen Entwurf an den alten Gästen testen: »Es gibt Stammkunden, die kamen, sahen und sagten, das ist nicht mehr ihre Elmau. Aber das ist gut so. Sonst wäre alles umsonst gewesen, und ich könnte mir gleich eine Kugel in den Kopf jagen. Sicher, ich bedaure jeden Gast, der nicht mehr hierherkommt, aber dafür kommen hoffentlich neue, die noch nie hier waren.«

Den Vorwurf, der Luxus würde das alte Elmau zerstören, lässt Müller-Elmau nicht gelten: »Luxus war Elmau schon immer. Es war so luxuriös, dass es sich leisten konnte, alles nicht zu beachten, was unter weltlichem Luxus zu verstehen war: das Essen, das Schlafen – denn der größte Luxus war die Musik, Kultur. Für solche Menschen ist ein Schwimmbad oder ein Drei-Gänge-Menü schon zu viel des Guten. Das ist eine deutsche Krankheit.« Die ausbleibenden Gäste, die namentlich nicht genannt werden wollen, beklagen sich, so Müller-Elmau, zu Unrecht: »Das alte Elmau war angesichts des Geschenks, das man hier mit der Landschaft und der Kunst hatte, das Produkt einer Verachtung. Die zielte gegen Individualismus, Materialismus und Hedonismus. Wenn diese Menschen nicht mehr kommen, sollen sie doch zu Hause bleiben und leiden und sich Käse aufs Brot legen. Komischerweise trifft man genau diese Leute dann in Salzburg oder Bayreuth an der Garderobe. Nur Elmau hatten die als Garant des Primitiven lieb gewonnen, da sollte es, bitte schön, einfach sein.«

Was sind nun die wesentlichen Veränderungen zum alten Elmau? Die Farben und Materialien sind, was die Außengestalt der Fassaden betrifft, alle im alten Kanon gehalten, viel Holz, lediglich ein teures Kupferdach im Innenhof musste verschärften Brandschutzreglements entsprechen. Und obwohl die alten Holzdecken und Pfeiler, so sie den Wasserschaden durch die Löschzüge überlebten, wieder eingezogen wurden, hat das Interieur nichts mehr von dem verschlafenen Charme des Gestern. So gibt es etwa den neuen Spa nur für Erwachsene mit einem schwarzen Spiegelpool auf dem Dach als Ergänzung zum Familienspa.

Als ich das erste Mal nach dem Brand anreiste, war ich mir sicher, der schwere Verlust dieser Mischung aus Jugendherberge, Waldorfschule und Geistespfadfindercamp werde mich sofort zum hemmungslosen Nostalgiker machen, aber bald fragte ich mich, woran ich da eigentlich festhalte. Ein Rundgang mit dem neuen Direktor Peter Kienast, einem graumelierten Fachmann für feine Adressen von Madeira bis St. Moritz, zeigt: Alle Zimmer sind größer geworden, Licht und Luft halten Einzug dank französisch bis zum Boden reichenden Fensterfronten (keine Klimaanlage), Badewannen mit Blick ins Freie, Materialien wie Pappenheimer Jura, Solnhofer Naturstein, Teakholz, geölte Eiche. Dazu esoterische Details wie die in Gold gehaltenen Halbmondlampen, die wie andere planetarisch angeordnete Lichtquellen einen Bezug zu den Gestirnen am Himmel herstellen. Im Kaminzimmer wird es eine Bar mit Tresen aus südindischem Apfelholz hinter Glas geben, auf den Zimmern iPod-Stationen und Bose-Anlagen, in den Restaurants die wohlbalancierte Küche des mehrfach ausgezeichneten Michael Hüsken.

Wenn es etwas ist, was Müller-Elmau davor schützen kann, austausch- oder vorhersehbar zu werden, dann ist es sein Wille zur Perfektion. Selbst die Benennung von Elmau als »Cultural Hideaway« widerspricht der Klasse von Bildungsbürgern, die ihr altes Elmau wiederhaben wollen und die er mit all seinen Taten und Worten natürlich gnadenlos provoziert. Weil sie sich provozieren lassen. Mit Aussagen wie: »Der größte Luxus, den ich empfinde, ist nicht die Kultur als solche, sondern da spielt James Levine – und ich muss nicht hingehen.« Wie sein Großvater ist aber Dietrich Müller-Elmau ein Geistesmensch, der es allerdings eben nicht als Widerspruch ansieht, wenn er politisch provokante Debatten anregt und einen Porsche Carrera dazu vor der Tür stehen hat.

Es ist also kein Zufall, dass unter seiner Ägide der Philosoph Peter Sloterdijk hier 1999 seine berüchtigte »Elmauer Rede« gehalten hat, in der er seine genmanipulatorisch brisanten neuen »Regeln für den Menschenpark« aufstellte. Dr. Johannes Müller schrieb dereinst: »Die Menschen müssen wie Kinder werden. Sie müssen ihre Hemmungen ablegen und ihre Masken fallen lassen.« Wie das Kind der Kulenkampffs, das ohne den ganzen historischen Ballast einfach nur traurig das brennende Alt-Elmau verließ, um zurückzukehren mit der vielleicht schönsten Kindertugend: der Neugierde.