Mittsommertag

Wenn draußen die Hitze herrscht.

In diesem Sommer sei sie eines Tages Anfang August wie von einem Marionettenspieler an einem unsichtbaren Faden ins Freie gezogen worden, mit noch ungemachten Haaren in ihrem Sommerkleid und in ihren Flipflops aus der Wohnung hinaus und, sagte sie, aus ihrem Leben, obwohl es ihr eher vorgekommen sei, dass sie mit jedem Schritt ihrem Leben endlich wieder näher kam, jedenfalls habe sie keine Schuldgefühle empfunden, auch nicht ihrem Mann und den Kindern gegenüber, sondern sei immer weiter, in einer Art Trance glücklich vor sich hinstapfend, an Vorgärten, Baustellen, Spielplätzen, Cafés, Restaurants und Biergärten vorbei, durch eine sanft pulsierende Gischt aus Rasensprenklerzischen, Geschirrklappern, Kindertoben, Eiswagenklingeln und Vogelgetschilpe, manchmal von Radfahrern überholt und an Ampeln, wenn sie anhalten musste, von Autofahrern beobachtet, die ihr zu Maria-Callas-Arien oder Schüttel-den-Speck-Ermunterungen kurz zunickten, ehe sie wieder aufs Gas traten, und während sie planlos und ohne irgendeine Ermüdungserscheinung, sondern im Gegenteil immer wacher werdend weiterging, sagte sie, habe sie sich endlich einmal wie im Zustand der Erleuchtung mit allem versöhnt gefühlt, obwohl doch alles noch an seinem alten Platz stand und nichts sich verändert hatte, vielleicht habe ihr die Hitze an diesem Tag ja auch bloß jeden Willen zerschmolzen und sie mit Friedfertigkeit emailliert, jedenfalls seien ihr der bevorstehende Wahlkampf, der drohende Staatsbankrott, der Analogkäse im Supermarkt, die Schweinegrippe, Peer Steinbrück und Silvana Koch-Mehrin vollkommen egal gewesen und habe sie bloß euphorische Gleichgültigkeit empfunden, in der sie, obwohl sie doch sonst daran keinen Mangel leide, nur noch einen einzigen Wunsch gehabt habe, nämlich dass es immer so weitergehen und der Sommer endlos sein solle, »wie Wellen«, sagte sie, bis sie nach vier oder fünf, vielleicht auch fünfeinhalb Stunden, denn auch jedes Zeitgefühl sei ihr abhanden gekommen, nach einer großen Kreisbewegung, von der sie während des Gehens nichts mitbekommen habe, ein wenig ausgetrocknet und mit einer Blase am linken Fuß wohlbehalten wieder in ihrer Wohnung gelandet sei und sich auf die Rückkehr ihres Mannes und der Kinder aus dem Schwimmbad gefreut habe, für die sie eigentlich hatte kochen wollen, jetzt aber nur Tomaten viertelte, weil im Sommer seltsamerweise niemand mehr brauche, um glücklich satt zu werden, so wie alles an diesem Tag, sagte sie, seltsam gewesen sei, wenn auch, endlich einmal, in der einzig richtigen Ordnung der Dinge.

Peter Praschl ist Autor des »SZ-Magazins« und lebt in Berlin.