Wenn der Hintern brennt, war es der richtige Weg

Mutprobe Nr. 9: Ein Journalisten-Schüler auf dem 10-Meter-Brett.

Das Thema unseres Männerheftes kommt von der Henri-Nannen-Schule, der Journalistenschule des Gruner+Jahr-Verlags, des Spiegel und der Zeit. Bei deren jüngstem Auswahlverfahren mussten die Bewerber auch eine Reportage schreiben - und eines der Themen hieß: "Was ich an einem Ort erlebte, den zu besuchen ich mich bisher nicht getraut hatte". Von knapp 2000 Bewerbern gelangten schließlich 20 an die Schule, darunter die vier Autoren der folgenden Texte. Sie alle hatten zuvor nur wenige Reportage geschrieben.

Von oben nach unten sind es drei Sekunden. Dazwischen liegen zehn Meter freier Fall. Vielleicht werde ich dabei schreien, mit den Armen in der Luft rudern und am Ende wie betäubt wieder auftauchen, mit Schmerzen am ganzen Körper. Vielleicht aber auch nicht. Dieses Bild eines Sprunges vom 10-Meter-Turm existiert nur in meinem Kopf, getan habe ich es noch nicht. Seit ich mich erinnern kann, habe ich ein Schwimmbecken immer nur über die Treppe betreten. Heute muss ich meine Angst überwinden, heute werde ich springen. Die Henri-Nannen-Schule will es so. Ich soll über meine Erfahrungen an einem Ort schreiben, an den ich mich noch nie getraut habe. Das 10-Meter-Brett ist so ein Ort. Wenn ich nicht springe, gibt es keine Geschichte.

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Den Zeitpunkt für meinen Selbstversuch habe ich - glaube ich - gut gewählt: Es ist 11 Uhr morgens, das Wiesenbad in Bielefeld ist fast menschenleer. Die Frühschwimmer haben sich bereits verzogen und der bewölkte Himmel hat die Sonnenanbeter abgeschreckt. Wenn es also nicht klappt, schaut immerhin niemand zu. Nur Jens ist mitgekommen. Er will mich unterstützen. Allerdings vom Boden aus. Ihm sei es heute zu kalt, sagt er.

Der Schwimmmeister steht neben Jens. Er hat nichts zu tun. „Passen Sie auf, dass der Wind Sie nicht neben das Becken weht", sagt er, als ich hochsteige. „Kann das wirklich passieren?", grüble ich beim Klettern, obwohl ich es eigentlich besser wissen müsste. Eine Hilfe ist der Schwimmmeister jedenfalls nicht.

Oben angekommen, bekomme ich weiche Knie. Meine Anspannung ist groß. Aus den Nebennieren schießt das Adrenalin in die Blutbahnen. Alles, was ich in meinem Studium über Stresssituationen gehört habe, spüre ich jetzt am eigenen Körper: Das Herz schlägt schneller, der Blutdruck steigt, die Rezeptoren sind hellwach. Ich spüre den eisigen Wind am Oberkörper, den Beton unter meinen Füßen, den abblätternden Farbanstrich am Geländer. Die Atmung ist schnell. Der Körper will sich in solchen Situationen mit ausreichend Sauerstoff versorgen. Jeder 100-Meter-Läufer wünscht sich diesen Zustand vor dem Start. Ich nicht.

Meine Schritte zum Rand werden kleiner. Ich schleiche. Beim Blick nach unten wird mir schwindelig. Ich halte mich fest. „Nicht nach unten gucken", ruft Jens. Der Schwimmmeister steht ungerührt daneben. „Sie können auch so runterkommen, wie Sie rauf gekommen sind", ruft er. Er gibt wohl nicht viel auf mich. Oder will er mich nur anstacheln?

Ich denke über Exit-Strategien nach. Eine geht so und ist besonders charmant: Ich klettere einfach wieder runter und schreibe einen Text unter dem Titel „Das Drama des ersten Mals". Denn mit diesem Thema kann ich die Bewerbung auch einreichen. Je länger ich oben auf dem Turm mit flauem Gefühl darüber nachdenke, desto verlockender wird diese Idee.

Plötzlich höre ich zwei Kinder unten am Beckenrand: Verdammt, wo kommen die denn her? Sie gucken herüber, sie reden miteinander, eines zeigt mit dem Finger nach oben. Irgendwie tickt mich dieser Finger an. Das Denken hat ein Ende. Jetzt oder nie. Ich lasse mich fallen.

Vom Sprung selbst bekomme ich nicht viel mit. Außer, dass ich rasend schnell nach unten falle. Als ich wieder aus dem Wasser auftauche, brennen der Hintern und die Fußsohlen. Immerhin: Wenn der Hintern brennt, dann bin ich wenigstens auf dem richtigen Weg nach unten gekommen. Jens streckt den Daumen hoch. „Gut gemacht", ruft er. Die beiden Kinder applaudieren. Der Schwimmmeister grinst mal wieder und nickt mir dabei zu. Ich aber fühle mich leicht, so unendlich leicht. Ich habe es geschafft. In aller Ruhe paddle ich zum Beckenrand. Jens reicht mir die Hand. Die Recherche für meine Geschichte habe ich erfolgreich abgeschlossen. Den brennenden Hintern werde ich sicherlich noch heute Abend beim Schreiben spüren. Ob Henri Nannen das gewollt hätte?