Der Schädel geht mir nicht mehr aus dem Kopf

Mutprobe Nr. 10: Ein Journalisten-Schüler im Krematorium.

Das Thema unseres Männerheftes kommt von der Henri-Nannen-Schule, der Journalistenschule des Gruner+Jahr-Verlags, des Spiegel und der Zeit. Bei deren jüngstem Auswahlverfahren mussten die Bewerber auch eine Reportage schreiben - und eines der Themen hieß: "Was ich an einem Ort erlebte, den zu besuchen ich mich bisher nicht getraut hatte". Von knapp 2000 Bewerbern gelangten schließlich 20 an die Schule, darunter die vier Autoren der folgenden Texte. Sie alle hatten zuvor nur wenige Reportage geschrieben.

Seit jeher fällt es mir schwer, einen Sarg anzusehen. Ich fühle mich beklommen, mein Hals schnürt sich zu. Jetzt stehe ich vor gleich zwölf Särgen, aus Kiefer, aus Fichte, dicht nebeneinander.

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Das Wartezimmer der Toten ist auf fünf Grad gekühlt, 30 Quadratmeter groß, fensterlos, weiß gestrichen, weiß gefliest. Hier, im Erdgeschoss des Krematoriums, lagern Särge mit festgetackerten Zetteln auf den Deckeln. Marianne Schröder, Wilhelm Janssen, Sabine Hoffmann ... Wie sahen sie aus? Wie alt sind sie geworden? War es Krebs? Selbstmord?

Bernd Witte ist in diesem Haus der Mann für die Technik. Der Mann, der dafür sorgt, dass das Wartezimmer nie zu voll wird. Der 50-Jährige ist groß, braun gebrannt, graue Haare, Schnäuzer. Typ netter Nachbar.

Witte redet, als zeige er sein Zuhause. Und nimmt mir damit die Angst. Zum ersten Mal rieche ich den Tod. Er riecht süßlich. Bernd Witte riecht ihn täglich. "Das sind die Hüllen, da passiert nichts mehr", sagt er und klopft beiläufig an einen Sarg. "Krankenschwestern haben es schwerer. Sie sehen Menschen sterben." Witte sieht sie verbrennen.

Die Filteranlage dröhnt wie ein Staubsauger. Gas zischt in die Kessel. Pumpen brummen. Witte schiebt die Brille auf die Nasenspitze. 950 Grad zeigt die kleine Anzeige. Gelassen blickt er in den hohen Ofenraum. Alles voller Rohre. Blitzblank. "Wie ein Heizkraftwerk. Ich kenne jede Schraube." Jeden Monat führt er Besucher durchs Gebäude. So will es sein Chef.

Im Ofen 1 verbrennt gerade Rolf Sonderbrink. Leiche 10 an diesem Morgen, Nummer 104.174 in den Verwaltungsbüchern. Ich stehe mit dem Rücken zu den Öfen. Ich will sie nicht sehen.

Witte schlendert zum Ofen. Durch ein kleines Sichtfenster späht er hinein. „Wollen Sie auch mal schauen?"
Ich kann mich nicht rühren.
„Man sieht nur den Kopf."
"Lieber nicht."
"Man sieht fast gar nichts."
Ich zögere. Trete näher. Alles glüht orange. Zu erkennen ist nur der blanke, weiße Schädel. Das ist Rolf Sonderbrink.

Ich schrecke zurück. Mein Kopf ist leer. Ich trete wieder heran, schaue, trete zurück, schaue wieder. Ich spüre: Dieses Bild wird mich verfolgen. 5000 Menschen jährlich werden in diesem Krematorium zu Asche, bis zu 40 am Tag. Und ihre Zahl steigt stetig. "Häufig überzeugen die Kosten."

Ofen 2 ist wieder frei. Witte drückt den großen grünen Knopf in der Wand gegenüber. Eine Schiene aus dem Boden bockt den Sarg auf. 104.175 steht in Kreide auf dem hellen Holz. Mit einem Hammer schlägt einer von Wittes Männern die Holzfüße ab, legt sie oben auf den Deckel. „Nur so passt er hinein."

Tor 2 surrt nach oben. Keine Flammen, keine Glut. Nur ein leises Knistern. Hitze strömt in den taghellen Raum mit hohen Fenstern. Der Sarg fährt in den Ofen. Plötzlich jagen Flammen um das Holz. Das Tor surrt herunter. Alles automatisch.

Ich starre auf das Tor, denke an die Glut, den weißen Schädel.
Bernd Witte sitzt schon wieder an seinem Schreibtisch. Betriebstemperatur des Ofens, Schadstoff-Ausstoß - darauf achtet er gewissenhaft. Nach einer Minute schiebt sich der Bildschirmschoner über Balken und Kurven: sein Wohnmobil auf Fehmarn.

Ich sehe nur noch Glut und einen weißen Schädel.

Foto: dpa